Streit um strategische Unabhängigkeit der EU - Werdet endlich erwachsen!

Frankreichs Präsident Macron fordert eine strategische Unabhängigkeit Europas von den USA, doch die deutsche Verteidigungsministerin blockt ab. Tatsächlich kann es militärischen Schutz auch künftig nur mit Amerika geben. Und trotzdem brauchen Deutschland und die EU eine neue Strategie.

Emmanuel Macron und Annegret Kramp-Karrenbauer im Oktober 2019 in Toulouse / dpa
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Autoreninfo

Erich Vad war General der Bundeswehr, langjähriger militärpolitischer Berater der Bundeskanzlerin und ist jetzt Unternehmensberater und Dozent an mehreren Universitäten im In- und Ausland.

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Am 16. November 2020 empfängt Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in Paris den amerikanischen Außenminister Mike Pompeo, dessen Europareise ihn erneut – wie schon im August – nicht nach Berlin führt. Am gleichen Tag – während sich Europa und Deutschland seit Monaten fast ausschließlich mit Corona beschäftigen – hebt China das weltgrößte Freihandelsabkommen aus der Taufe mit 15 Ländern, über zwei Milliarden Menschen und einer Produktionsleistung von einem Drittel der Weltwirtschaft.

Am gleichen Tage fordert Emmanuel Macron in der Pariser Zeitschrift Grand Continent erneut die strategische Autonomie Europas. Dabei stellt sich Macron gegen die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), die ihrerseits mit Blick auf eine strategische Autonomie Europas von einer „Illusion“ spricht und die USA für die Sicherheit Europas für unverzichtbar hält. 

Wer von beiden hat recht? 

Eines ist sicher: Wir waren sicherheitspolitisch und militärisch noch nie so abhängig von den Vereinigten Staaten wie heute. Unsere Streitkräfte in Europa, leider als Negativbeispiel allen voran die deutsche Bundeswehr, waren noch nie in einem so miserablen Zustand. Alle EU-Staaten kommen zusammen auf rund die Hälfte des US-Verteidigungsetats. Bedingt durch mangelhafte Interoperabilität und fehlende Ausrüstung erreichen die europäischen Streitkräfte nur etwa 20 Prozent der militärischen Effizienz und operativen Befähigung der USA.

Faire Lastenverteilung

Sicher bleibt auch trotz mancher irrlichternder Twitter-Meldungen: Die Amerikaner werden Europa aus Gründen ihres eigenen strategischen Narrativs nicht irgendeinem anderen – heute Russland oder China – überlassen. Diese Idee kann man vergessen. Und die Nato ist als internationale Organisation nicht nur, aber eben auch ein Instrument der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Donald Trump wollte (und Joe Biden wird es wollen), dass die Lasten innerhalb der Nato fairer verteilt werden. Damit haben beide US-Präsidenten übrigens Recht. Genau darum geht es, und darauf will der französische Präsident antworten, wenn er von einer stärkeren Rolle Europas spricht. Eines sollte man bei Visionen strategischer Autonomie Europas aber nicht vergessen: Wenn man versuchen würde, Europa eigenständig militärisch, also losgelöst von den USA, aufzubauen, dann würde das eine Verdreifachung oder Vervierfachung des Wehretats bedeuten. Es würde also nicht einmal das Nato-Ziel von zwei Prozent des BIP für Verteidigung reichen, von dem Deutschland weit entfernt ist. Ich sehe jedenfalls den politischen Willen dazu nicht, wenn allen Europäern klar wird, was Strategische Autonomie von den USA bedeutet.

Die USA erwarten von den Europäern seit Jahren (und schon vor der Amtszeit Trumps) mehr militärische Befähigung und Eigenständigkeit, mehr sicherheitspolitisches Engagement und weniger hohle transatlantische Lippenbekenntnisse, denen keine Taten folgen. Das wird auch unter Joe Biden so bleiben. Die USA brauchen Europa nicht. Ihr Fokus ist seit Jahren auf Asia-Pazifik-Raum und auf ihren Hauptkonkurrenten China gerichtet.

Faule Ausreden

Und die Amerikaner haben inzwischen gelernt, dass in Deutschland das transatlantische Bekenntnis oft nur eine Ausrede dafür ist, um es sich unter dem militärischen Schutzschirm der USA bequem einzurichten. Andererseits bedienen die Befürworter einer strategischen Autonomie Europas hierzulande oft einfach nur antiamerikanische Ressentiments. Sie wollen durch Europäisierung in Sicherheitsfragen in Wirklichkeit weniger eigene Verantwortung und weniger nationale Anstrengungen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich.

Beide Positionen sind nicht zukunftsfähig – und auch nicht in unserem nationalen Interesse.

Die Europäer müssen sich selbstständiger in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufstellen, ohne dass dabei das transatlantische Bündnis an Bedeutung verliert. Das ist es, was der französische Präsident meint, wenn er von der strategischen Autonomie Europas spricht. Und so verstanden, liegt er absolut richtig.

Es reicht aber nicht aus, lediglich von der Aufstellung einer „Europäischen Armee“ zu reden oder die sogenannte „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (Pesco) oder einen europäischen Verteidigungsfond aufzulegen. Das greift zu kurz. 
Paris und Berlin müssen erstmal im „Top-Down-Approach“ die politischen und strategischen Fragen klären, mit denen Europa konfrontiert ist.

Neues strategisches Narrativ

Am Anfang muss die gemeinsame Beantwortung der Frage stehen: Wie soll der maßgeblich von Paris und Berlin zu gestaltende europäische Pfeiler des transatlantischen Bündnisses aussehen und vor allem: Welche Nato brauchen wir Europäer zum Schutz unserer europäischen Sicherheitsinteressen? Diese Punkte müssen wir dringend mit der neuen US-Administration diskutieren und dann zu gemeinsamen strategischen Ergebnissen kommen.

Wir Europäer brauchen endlich ein gemeinsames strategisches Narrativ. Es reicht in der europäischen Sicherheitspolitik nicht mehr aus, gebannt nach Washington zu schauen – wie zur Zeit der amerikanischen Wahlen – und auf strategische Weisungen einer Großmacht zu warten, die ihr eigenes strategisches Narrativ hat. Wie gesagt: die Amerikaner selbst warten auf unsere europäischen Vorstellungen und Initiativen! Sie wollen, dass wir Europäer endlich klar und unmissverständlich unsere strategischen Interessen definieren mit Blick auf 

•    den internationalen Terrorismus, 
•    die laufende, unkontrollierte Migration nach Europa, 
•    die aktuellen Entwicklungen der internationalen Sicherheitspolitik im Mittelmeerraum, im Zuge der nordafrikanischen Küstenlinie, in der Sahel-Zone oder im Nahen Osten sowie 
•    mit Blick auf Russland, China oder das problematische Agieren der Türkei, die immerhin Nato-Partner ist. 

Es ist nicht Aufgabe der USA, das strategische Vorfeld Europas sowie die europäischen Grenzen nach außen zu schützen.

Der weitere Ausbau von Frontex zu einer multinaltionalen Europäischen Grenztruppe beispielsweise wäre ein geeignetes politisches Signal an unsere Partner in der EU, mit der unseligen Renationalisierung ihrer Sicherheit aufzuhören und nach gemeinsamen, europäischen Lösungswegen zu suchen. Sie müsste strukturell und organisatorisch der französische Gendarmerie oder den  italienischen Carabinieri ähneln und auch Fähigkeiten des früheren deutschen  Bundesgrenzschutzes aufweisen, der in gewisser Hinsicht der Nukleus der späteren Bundeswehr war.

Terroristen vor den Toren Europas

Eine solche gemeinsame europäische Grenztruppe müsste zu Lande, zu Wasser und in der Luft einsetzbar sein, um flexibel an den Hotspots der EU-Außengrenzen zum Einsatz zu kommen. Und sie könnte sehr gut fortentwickelt werden zu späteren gemeinsamen europäischen Streitkräften.

Es ist nicht alleinige Aufgabe der USA, die tausende islamistischen Terroristen und Kämpfer zu entwaffnen, die vor den Toren Europas wie etwa in Libyen oder in der Sahel-Zone die Sicherheit Europas bedrohen. Die 2004 aufgestellten „EU-Battle-Groups“ sind hierfür politisch nicht praktikabel und militärisch unbrauchbar.

Diese militärischen Formationen der EU sind regelrechte Papiertiger von und für Militärbürokraten. Sie kosten viel Geld und kamen ebenso wie das Eurokorps oder die deutsch-französische Brigade nie geschlossen zum Einsatz. Sie sind eigentlich eine Art sicherheitspolitisches Feigenblatt Europas, unter dem nichts ist. Stattdessen bräuchten wir Europäer für solche und ähnliche Aufgaben spezielle, kampf- und durchsetzungsfähige Verbände, über die wir so in Europa nur bedingt verfügen.

Hier ist die in der SPD-Bundestagsfraktion ausgearbeitete Idee einer „28.Armee“ ein nach wie vor bedenkenswerter Vorschlag, um eine schnelle, militärische Handlungsfähigkeit Europas zu etablieren. Es geht hier um einen bis zu 8000 bis 10.000 Personen umfassenden militärischen Schnelleingreifverband, bestehend aus Freiwilligen aus allen EU-Staaten unter direktem Oberbefehl unter der EU-Kommission. In diesen Zusammenhang gehört die vom ehemaligen polnischen Außen- und Verteidigungsminister Radek Sikorski als Abgeordneter des Europäischen Parlaments eingebrachte Idee der Aufstellung einer „European Legion“ mit geeigneten Freiwilligen aus den EU-Staaten nach dem Vorbild der französischen Fremdenlegion. Statt des sinnlosen politischen Mantras einer EU-Armee halte ich diese Vorschläge für viel konstruktiver.

Befähigung im Cyberraum

Dabei muss uns Europäern klar sein, dass wir allein und ohne die USA Mächte wie China oder Russland und auch nicht Nato-Partner wie die Türkei strategisch ausbalancieren können. Diese Welt-Akteure werden sich in keiner Weise allein von der EU-Kommission beindrucken lassen.

Wir bleiben also auch weiterhin auf den nuklearen Schutzschirm der USA angewiesen, auf ihre digitale, technologische und maritime Führerschaft oder ihr Befähigungsspektrum im Cyberraum und im Weltraum. Konkurrenzaufbau zu den USA ist hier chancenlos und überflüssig.

Das neue Sicherheitsverständnis im digitalen Zeitalter muss zudem ganzheitlich sein. Die Renaissance einer Nato im Stil des Kalten Krieges mag den militärischen Planern Planungssicherheit zugeben. Sie ist aber nicht mehr lagegerecht. Der „Feind“ überschreitet nicht mehr mit Panzern unsere Grenzen und löst damit den Verteidigungsfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages aus.

Selbst die Russen würden so nicht vorgehen, wenn sie die höchst unwahrscheinliche Absicht hätten, das Baltikum zu besetzen. Territorien werden heute nicht mehr „klassisch“ mit Panzern überrollt – obwohl diese auch zum Teil auf der Krim zum Einsatz kamen –, sondern man schafft mit paramilitärischen, irregulären Kräften ohne Hoheitsabzeichen im Zusammenwirken mit verdeckt operierenden eigenen Militärkräften, dem Geheimdienst und Teilen der Bevölkerung vollendete Tatsachen. Das Ganze geschickt begleitet von einer beschwichtigenden und gleichzeitig verlogenen Politik und Diplomatie.

Nicht die symbolische militärische Präsenz der Nato an ihrer Ostgrenze gegenüber Russland, der es gänzlich an militärischer Glaubwürdigkeit mangelt, sondern die wachsende Gefährdung, der Schutz und die Sicherung der weiten, offenen Südflanke Europas sowie das maritime Eindämmen Chinas in Asia-Pazifik müssen in Zukunft Schwerpunktaufgaben des Bündnisses sein. Nicht massierte Panzerangriffe, sondern Cyberangriffe in Verbindung mit konventionellen und irregulären Kräften werden ein nicht mehr weg zu denkender Bestandteil künftiger Konflikte sein.

Neue hybride Konflikte

Diese Konflikte werden nicht nur reine Cyberkriege sein. Wir werden es in Zukunft eher mit „hybriden“ Konflikten und Kriegen zu tun haben, das heißt mit „low intensity conflicts“ in Verbindung mit externen Akteuren, konventionellen und irregulären Elementen, mit Cyber- und Geheimdienstoperationen, mit den bekannten konventionellen Elementen und mit Desinformationskampagnen im Vorfeld und während laufender Konflikte. Genau darauf muss sich die Nato verstärkt einstellen. Und dafür sind entsprechende militärische Beiträge Europas gefordert.

Durch die Digitalisierung, die enorme Erhöhung der Kapazität und Geschwindigkeit von Informationen, durch disruptive Sprünge in der Aufklärung und Präzision, der Robotik, der Bionik und der Nanotechnologie entstehen neue Waffen und damit neue Formen von Sicherheitsproblemen und von Konflikten. Die Bedrohungslage wird dadurch vielfältiger.

Das gilt auch für die Integration von Künstlicher Intelligenz als universal einsetzbarer Technologie und Robotik. Sie haben ein großes Potential, die Kriegführung zu verändern. Wer künftig als Militärmacht mithalten will, muss die Technologieführerschaft in der Luft, auf und unter dem Wasser, auf der Erde, im Weltraum und vor allem im Cyberraum haben. Dies wird uns Europäern nur zusammen mit den USA gelingen. Aber hier müssen wir uns mit zukunftsfähigen Projekten einbringen.

Es wird auch immer wichtiger für eine Weltmacht – neben der militärischen, technologischen, wirtschaftlichen, finanziellen und kulturellen Vormachtstellung –, den Satelliten-Wettlauf im All und überhaupt das All zu beherrschen. Denn ohne Sicherheit im Weltraum gibt es künftig keine digitale Sicherheit auf der Erde. Das Eine hängt mit dem Anderen zusammen. Der Weltraum und seine Kontrolle und Beherrschung sind nicht nur für weltumspannende Kommunikation wichtig. Von dort aus werden in naher Zukunft auch effektive Cyberoperationen durchführbar sein, auch gegenüber der Software moderner Langstreckensysteme auf der Erde.

Technologische Führerschaft

Gerade mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen bei Hyperschallwaffen und -raketen, gegen die herkömmliche Abwehrsysteme versagen, gewinnen weltraumgestützte Beobachtungs- und Cyberfähigkeiten eine immense Bedeutung für die präventive Bekämpfung gegnerischer Raketen vor der Startphase. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass neue, disruptive Technologien bekannte klassische militärische Fähigkeiten neutralisieren. Dabei durchdringt Cyber alle anderen Bereiche und vernetzt sie miteinander.

Die technologische Führerschaft in der vernetzten Digitalisierung wird dabei letztlich entscheidend sein. Diese können wir Europäer nur zusammen mit den USA erreichen.

Im Kern geht es darum, als strategischer Partner der USA ernst genommen zu werden. Wir müssen als Europäer auf strategische Augenhöhe kommen mit den Amerikanern, aber auch mit der größten Herausforderung des Westens: mit China.  Letzteres geht nur im Rahmen eines starken, transatlantischen Bündnisses und einer reformierten, die derzeitige Weltlage reflektierenden Nato.

Anstatt – wie der französische Präsident und die deutsche Verteidigungsministerin zu Anfang der Woche – aneinander vorbeizureden, wäre es besser, wenn Paris und Berlin zu diesen Fragen und Punkten gemeinsame europäische Initiativen auf den Weg bringen.

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