Soziologe Wolfgang Streeck im Interview - „Es gibt keine europäische Friedensordnung ohne Russland“

Für den Soziologen Wolfgang Streeck haben Diplomatie und Deeskalation im Ukraine-Konflikt angesichts der immer realer werdenden nuklearen Bedrohung oberste Priorität. Im Interview erklärt er, warum man die „wertebasierte“ deutsche Außenpolitik nicht beim Wort nehmen kann, welche Motive hinter der derzeitigen Eskalationsspirale stecken und wohin Deutschland wie Europa innerhalb einer neuen Weltordnung zu treiben drohen.

Regelbasierte internationale Ordnung: Außenministerin Annalena Baerbock in der Ukraine / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

So erreichen Sie Philipp Fess:

Anzeige

Wolfgang Streeck ist einer der renommiertesten Soziologen Deutschlands und war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. 2018 engagierte sich der Emeritus im Umfeld von Sahra Wagenknechts linker Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Auf seinem Blog wolfgangstreeck.com setzt er sich kritisch mit dem Zeitgeschehen auseinander.

Herr Streeck, seit der russischen Invasion der Ukraine ist nicht nur in Deutschland der Begriff „Realpolitik“ erneut ausgegraben worden – und zwar von jenen, die Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, wie von denjenigen, die sich gegen die europäische Sanktionspolitik aussprechen. Wer hat denn nun recht?

Um den Begriff der Realpolitik herrscht in Deutschland Verwirrung. Ursprünglich bezeichnet er Machtpolitik ohne Rücksicht auf Recht; so wird das deutsche Wort als Fremdwort denn auch im Angelsächsischen verwendet. Die klassische Beleg hierfür ist der „Melische Dialog“ in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides, wo die Athener den militärisch hoffnungslos unterlegenen Meliern, die sie anschließend vernichten werden, den Lauf der Dinge nach ihrer Sicht erklären: „Ihr wisst so gut wie wir, dass in der Welt, so wie sie ist, Recht nur zwischen gleich Mächtigen gelten kann und sonst die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erdulden, was sie müssen.“ Als in den 1990er-Jahren dann die Grünen anfingen, von Realpolitik zu reden, gab es im Ausland ein großes Staunen. Die Grünen nämlich meinten etwas anderes, eine Politik, die die realen Verhältnisse und die tatsächlichen Folgen politischer Handlungen berücksichtigt. Realpolitik in diesem Sinne will „realistisch“ sein, also pragmatisch statt idealistisch und folgenblind. Ob unsere selbsternannten „Realpolitiker“ von heute in diesem Sinne tatsächlich der Realität ins Auge blicken wollen und können, darf man bezweifeln.

Beziehen Sie sich damit auf Frau Baerbocks Außenpolitik?

Ja. Denn es gibt keine europäische Friedensordnung ohne Russland, und als transatlantische Dependance eines amerikanisch geführten „Westens“ gibt es ebenso keine europäische Souveränität. Es gibt auch keine klinisch sauberen, beherrschbaren Kriege. Realpolitik würde berücksichtigen, dass Kriege ihre eigenen Gesetze haben sie dehnen sich zum Beispiel mit der Zeit aus und geraten außer Kontrolle. Alle Kriege dauern länger als geplant. Der amerikanische Krieg in Afghanistan etwa war nach zwanzig Jahren immer noch nicht zu Ende. Der Vietnamkrieg, von dem keiner mehr recht weiß, warum er geführt wurde, kostete am Ende drei bis sechs Millionen Vietnamesen das Leben. Genau zählen konnte man sie wegen der eingesetzten Vernichtungstechnik nicht.

Warum geraten Kriege immer außer Kontrolle, wie Sie sagen?   

Je länger ein Krieg dauert, desto mehr Gräuel verlangen nach Vergeltung. Soldaten, die ihr Leben in Gefahr sehen, lesen nicht erst in der Haager Landkriegsordnung nach, bevor sie in ein Dorf einmarschieren. Fanatiker aller Art kommen aus ihren Löchern, und bis dahin anscheinend ganz vernünftige Mitbürger verwandeln sich in eine Art Wikinger siehe etwa Anton Hofreiter. Der Tod an der Front wird unvermeidlich heroisiert, schon damit sich Ersatz für die Gefallenen findet, und die Kriegsziele radikalisieren sich mit der Zahl der Opfer. Man könnte das wissen. Denn das ist die Realität, und Realpolitik würde sie berücksichtigen. Stattdessen braucht es heute schon Mut, wenn man fragt, ob die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine wirklich das Risiko einer nuklearen Verseuchung halb Europas wert ist. Wollen wir tatsächlich für die Krim sterben lassen oder gar sterben? Bald könnte die bloße Frage als Verrat gelten, für den man sich aus der Gemeinschaft der Rechtdenkenden ausgeschlossen finden könnte.

In der Ukraine werden doch aber auch unsere westlichen Werte verteidigt. Wie steht es um die „wertebasierte“ oder gar „feministische" Außenpolitik?

Ich denke, man sollte großartige Begriffe wie die von Ihnen verwendeten möglichst vermeiden. Wenn man sie ernst nähme, oder wenn die Wähler anfingen, sie ernst zu nehmen, könnte es gefährlich werden. Dann müssten wir anfangen, auch andernorts Regierungen zu stürzen oder einzusetzen. Darauf aber liegt kein Segen. Eine „realpolitische“ außenpolitische Maxime kann, salopp formuliert, nur heißen: so wenig Sauereien wie irgend möglich. Man wird nicht umhinkönnen, trotz Abu Ghraib und Guantanamo bei amerikanischen Banken Geld zu borgen oder in den USA teures Flüssiggas zu kaufen.

Was wäre die Alternative?

Wolfgang Streeck / privat

Vielleicht kann man klein anfangen und sich darum herumdrücken, den in Gang befindlichen Völkermord im Jemen durch Waffenlieferungen an Saudi-Arabien weiter zu befeuern. Soll man mit dem Iran trotz der für weite Teile der iranischen Bevölkerung unerträglichen Mullah-Herrschaft ein Abkommen über einen Verzicht auf atomare Bewaffnung abschließen? Die Frage beantwortet sich meiner Meinung nach von selbst: Ja, und das besser heute als morgen! Beziehungen zwischen Staaten, die mit der Fähigkeit zu kriegerischer Gewalt ausgestattet sind, sind etwas anderes als Beziehungen zwischen Zivilgesellschaften. Für progressive Außenpolitik, zugespitzt formuliert, ist nicht die Bundeswehr zuständig. Dafür ist sie nicht ausgerüstet, sondern das Goethe-Institut – allerdings auch nur, solange nicht geschossen wird.

Ist denn der Konflikt mit Russland, aber auch mit China, Serbien oder dem Iran, der Beginn einer geopolitischen Zeitenwende, gar einer „neuen Weltordnung“, wie sie von Joe Biden benannt oder von Michael Hüther und Sigmar Gabriel diskutiert wurde? Und inwiefern ist dadurch die „regelbasierte internationale Ordnung“ in Gefahr, von der ebenfalls immer wieder – schon in der Corona-Krise – gesprochen wurde?

Die „regelbasierte internationale Ordnung“ hieß nur bei uns so. Die Amerikaner, die sie nach dem ersten Golfkrieg 1990 als „New World Order“ ausgerufen hatten, haben immer von einer „liberalen internationalen Ordnung“ (LIO) gesprochen, wobei „liberal“ durchaus „neoliberal“ meinte. Regelbasiert war sie in den Augen der neokonservativen Proponenten eines „New American Century“ sowieso immer nur für alle anderen, nicht für die USA – die sich in den dreißig Jahren seit dem Ende des Kommunismus ständig in irgendeinem Krieg befanden, meist gleich in mehreren auf einmal, und die zur Sicherung der von uns so genannten „Regeln“ ihren Rüstungsetat in ihrem „War on Terror“ auf das Anderthalbfache dessen steigerten, was er auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gewesen war, bei gleichzeitiger einseitiger und ersatzloser Aufkündigung sämtlicher seinerzeit mit der Sowjetunion geschlossener Rüstungskontrollverträge – von wegen regelbasiert. Eine im Jahr 2022 eingetretene „Zeitenwende“ von Frieden zu Krieg kann ich da beim besten Willen nicht erkennen. Was man meines Erachtens stattdessen erkennen kann, ist, dass nach den immer neuen Niederlagen der USA bei ihren globalen Ordnungsabenteuern – Irak, Syrien, Libyen, Afghanistan – jetzt ein vorgezogener Endkampf mit China bevorzustehen scheint, wobei die Auseinandersetzung in den USA darüber geführt wird, ob man dafür Kontinentaleuropa braucht (Biden) oder nicht (Trump, Pelosi). Das Prinzip, dass es besser ist, früh als Erster zuzuschlagen, solange man glaubt, noch gewinnen zu können – nennen wir es das Putin-Prinzip oder auch, wie in den US-Thinktanks, die Thukydides-Falle – steht dabei gar nicht erst zur Debatte.

Es droht eine Rezession, viele fürchten gar eine Depression. Halten Sie das Szenario einer Erosion des Mittelstands und einer Hinwendung zu einer „grün“ wachsenden Planwirtschaft, einer „benevolenten Technokratie“ für realistisch? 

Ich sehe viele Risiken und Möglichkeiten, einschließlich solcher, die sich noch vor ein paar Jahren niemand vorgestellt hätte. Das auf dem Markt befindliche Angebot an Utopien und Dystopien ist reichhaltig genug, um die Bahnhofsbuchhandlungen in Betrieb zu halten. Was mich angeht, so bin ich davon überzeugt, dass sich eine neue Ordnung erst nach einer längeren Unordnung, einer gefährlich chaotischen Zwischenphase, herauskristallisieren wird. Auf einem Reißbrett geplant wird sie sicherlich nicht. In dieser Phase kann alles Mögliche stattfinden, Chancen Eröffnendes und Chancen Verschließendes. Dieses Bukett der Möglichkeiten schließt – und das sage ich in allem Ernst – einen Einsatz taktischer Atomwaffen in Europa mit ein, der zu einem langfristigen Massensterben und einer ebenso langfristigen Unbewohnbarkeit weiter Landstriche führen würde, mit vollkommen unvorhersehbaren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konsequenzen. Für mich hat daher die Frage absoluten Vorrang, wie man die auf beiden Seiten nach vorne drängenden Fanatiker, denen es zunehmend darum geht, die jeweils andere Seite auszulöschen, koste es was es wolle – wie man die neutralisieren kann, und zwar so schnell wie möglich, um zu verhindern, dass Europa, wie wir es kennen, wegen irgendwelcher Grenzstreitigkeiten um den Nachlass der UdSSR so dauerhaft untergeht wie diese, dann aber blutig.

Wolodymyr Selenkyjs vermeintlicher Vorstoß eines taktisch-atomaren Präventivschlags war in diesem Sinne ein bedenklicher Schritt der Eskalation. Aber erlauben Sie noch eine letzte Frage zu der „Welt nach dem Kapitalismus“: Der Soziologe Philipp Staab hat im Gespräch mit Cicero die öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP) als einen letzten Ausweg aus der Krise des Kapitalismus bezeichnet. „Mittelfristig“, so Staab, sei eine digitale Privatisierung von „absolut allem“ zu erwarten, darunter auch Bildung, Mobilität und Gesundheit. Wenn sich die kybernetische Utopie nicht als „kommunistische“ verwirklicht, sondern innerhalb der Besitzverhältnisse: Steuern wir dann in einen neuen Feudalismus – nicht nur materieller, sondern auch geistiger Art?

Im Grunde fragen Sie danach, wie sich Staat und Kapitalismus, oder besser: Staaten und Kapitalismen, in einer neuen Ordnung, wenn es diese einmal geben wird, zueinander verhalten werden. Übernimmt der Staat den Kapitalismus – „Ende der freien Marktwirtschaft“ – oder der Kapitalismus den Staat – Weltregierung durch die Oligarchen aus dem Valley und ihre Geldverwalter in New York? Oder irgendetwas dazwischen? Was kommt nach dem Neoliberalismus? Ich weiß es nicht.

Ich würde mir gerne eine Ordnung ausmalen, in der normale Menschen eine Chance haben zu verhindern, dass ihnen die Kontrolle über ihr Leben endgültig entgleitet zugunsten irgendwelcher Strategen in irgendwelchen Konzernzentralen und in Organisationen wie der NSA, der CIA, den Joint Chiefs und ihren Ablegern in der großen weiten Welt. Bevor wir uns aber damit beschäftigen, müssen wir erstmal herausfinden, wie wir die bis an die Zähne bewaffneten Vabanque-Spieler, die derzeit erhitzt das Risiko eines Atomkriegs austesten, durchaus auch mit Blick auf einen zukünftigen großen Kladderadatsch in Asien, ruhigstellen können.

Das Gespräch führte Philipp Fess.

Anzeige