Seenotrettung - Das moralische Dilemma der „Sea Watch 3“

Europa darf nicht zusehen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Helfer dürfen aber auch keine Anreize schaffen, dass weitere Migranten ihr Leben aufs Spiel setzen. Die einzige Lösung ist eine gemeinsame EU-Einwanderungs- und Asylpolitik. Doch die ist leider unrealistisch

Mit den Einsätzen der Sea Watch treffen humanitäres Gebot auf professionelle Schlepper / picture alliance
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Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Er unterrichtet politischen Journalismus.

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Für die einen ist sie eine „Heldin“ und „Märtyrerin“, die Kapitänin des Rettungsschiffs Sea Watch 3. Für die anderen, vor allem den italienischen Innenminister Matteo Salvini und viele seiner Landsleute, aber auch manche bei uns ist sie eine „Verbrecherin“. Die einen feiern Carola Rackete dafür, dass sie mit anderen Helfern 40 Migranten vor dem Ertrinken bewahrte und sie am Wochenende nach tagelanger Irrfahrt trotz Verbots der Regierung in Rom nach Lampedusa brachte. Salvini hingegen wirft ihr vor, illegale Einwanderer gesetzwidrig angelandet zu haben, und ließ sie nach der Ankunft zur Abschreckung verhaften und unter Hausarrest stellen. Mit seinem gnadenlosen Kurs gegen Flüchtlinge und Migranten dieser Art hat er seine rechtspopulistische Lega bei der Europawahl zur stärksten Partei in Italien gemacht und will Ministerpräsident werden. 

Moralisch sind – auf den ersten Blick –  die 31 Jahre junge Frau aus Kiel und die anderen Retter auf der Sea Watch auf der richtigen Seite. Menschen, die jämmerlich zu ertrinken drohen, muss jeder retten, der dazu in der Lage ist. Das ist ein Gebot der Humanität und des internationalen Seerechts. An beides ist auch die italienischen Regierung gebunden. Doch Salvini und die populistische Regierung in Rom mit der Fünf-Sterne-Bewegung verweigern sich dieser menschlichen und völkerrechtlichen Verpflichtung: Salvini hat nicht nur italienische Marineschiffe zurückbeordert. Er verbietet auch, dass aus dem Meer Geborgene in Italien an Land gehen dürfen. Die übrigen europäischen Regierungen habe ihre Schiffe daher ebenfalls zurückgezogen.

Private Helfer tun gut daran einzuspringen, wo die EU versagt, und dabei bewusst das Verbot von Salvini zu missachten. Ihnen gebühren Dank und Anerkennung und den Geretteten Solidarität. Denn der Tod Tausender im Mittelmeer ist ein anhaltender Skandal. Und eine Schande für Europa.

Extraprofite und höhere Gefahr

Auf der anderen Seite ist es auch ein moralisches und humanitäres Gebot, niemanden dazu zu verleiten, sich selbst in Seenot zu begeben. Das tun die privaten Retter jedoch – sicherlich nicht absichtlich. Aber doch im Ergebnis. Bis die Balkan-Route geschlossen wurde, fuhren die Schleuser die Migranten und Flüchtlinge noch selbst an die Küsten Griechenlands und Italiens. Seit die EU auf Drängen Italiens die Operation Mare Nostrum gestoppt hat und Salvini versucht, jede Einreise selbst von Asyl- und Schutzsuchenden zu verhindern, haben die Schlepper und ihre gut verdienenden Hinterleute ihr Geschäftskonzept geändert. Sie spekulieren darauf, dass private Rettungsschiffe die Flüchtlinge und Migranten kurz hinter den libyschen Hoheitsgewässern aufnehmen und weiter nach Europa transportieren. Sie setzen deshalb nur noch seeuntaugliche billige Schlauchboote mit schwachen Motoren und wenig Benzin ein. Das verschafft ihnen Extraprofite, mindert ihr Risiko und bringt die Passagiere erst recht in Gefahr.

Natürlich darf man diese Menschen nicht dem sicheren Tod überlassen. Aber indem die privaten Helfer die Lücke füllen, die Salvini und die EU sowie die Schlepper geschaffen haben, werden sie unfreiwillig zu einem Teil des zynischen Politischen und des Milliardengeschäfts mit dem Schicksal Zehntausender. Und verleiten womöglich – ob sie wollen oder nicht – weitere Menschen, in die Schlauchboote zu klettern und dafür auch noch jeweils Tausende Dollars zu bezahlen. In der Hoffnung, dass die Retter sie an die ersehnten europäischen Gestade bringen.

Wege aus der Krise

Der einzige Ausweg aus diesem schrecklichen moralischen Dilemma bestünde darin, dass die EU endlich eine gemeinsame abgestimmte Einwanderungs- und Asylpolitik nicht nur verspricht, sondern beschließt und verwirklicht. Dazu gehörten Möglichkeiten legaler Einwanderung, damit nicht mehr Abertausende, die keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind, nach gelungener Überquerung des Mittelmeers Asyl beantragen müssen, weil sie keine andere Möglichkeit haben zu bleiben. Und viele vorher ertrinken.

Dazu gehörte zweitens eine Verteilung der wirklichen Flüchtlinge auf alle oder zumindest die aufnahmewilligen EU-Länder, damit nicht mehr die Mittelmeer-Anrainerstaaten die ganze Last tragen. Was dort zu immer stärkeren sozialen und politischen Spannungen führt und die Rechtspopulistischen und Fremdenfeinde stärkt. 

Drittens würde dazu gehören, die am meisten Not Leidenden: Verletzte, Kranke, Frauen, Kinder, Alte im Rahmen von Kontingenten mit Luftbrücken nach Europa zu holen, so wie einst die Boatpeople aus Vietnam. Und wie es eigentlich auch im Flüchtlingsabkommen mit der Türkei vereinbart ist. Den übrigen, die keine Chance auf Schutz, auf Anerkennung als Asylbewerber oder ein Arbeitsvisum haben, müsste man klar machen, dass sie sich zu ihrem eigenen Schutz gar nicht erst auf die gefährliche Seereise machen sollten. Auch das gehörte zu einer Politik, die weder die Werte Europas vergisst noch die Aufnahmemöglichkeiten Europas überfordert. 

Fluchtursachen bekämpfen

Genauso wie die Flucht- und Migrationsursachen abzubauen. Also vor allem den ungerechten Handel zwischen Afrika und der EU grundlegend zu ändern, Waffenexporte in diese Ländern zu stoppen und auf die kleptokratischen Regierungen dort einzuwirken, damit die Menschen Chancen bekämen, in ihren Heimatländern ein Leben ohne Not und in Würde zu führen.

Nichts von alledem ist jedoch realistisch. Weder wird sich die EU in absehbarer Zeit auf ein abgestimmtes Einwanderungssystem verständigen noch auf eine Flüchtlingsverteilung oder gar einen Umbau der europäischen Wirtschaft und einen Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen, die afrikanische Länder dazu verdonnern, im Wesentlichen nur Rohstoffe nach Europa zu liefern.

Solange die Lage in weiten Teilen des globalen Südens aber so bleibt, wie sie ist, und sich wegen des Klimawandels und der Bevölkerungsexplosion in Afrika noch verschlechtert, werden weiterhin Menschen nach Europa migrieren. In noch wachsender Zahl. Kein Salvini, kein Orbán, keine Mauer, kein Zaun, keine Risiko zu ertrinken wird sie aufhalten. Die privaten Retter wird es deshalb weiter brauchen. Aber man sollte sich deswegen auch nicht  bequem zurücklehnen und darüber das eigentliche Ziel aus den Augen verlieren.

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