Sebastian Kurz - Der übers Wasser läuft

Sebastian Kurz hat sein Kabinett gebildet. Gegen den jungen Kanzler Österreichs wirken alle Konkur­renten wie Leute von gestern. Ein sehr persön­licher Blick auf das politische Wunderkind

Erschienen in Ausgabe
Seine Freundlichkeit und Höflichkeit sind das wahre Geheimnis des politischen Phänomens Sebastian Kurz / picture alliance
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Joachim Lottmann gilt als Begründer der deutschen Popliteratur. Sein aktueller Roman heißt „Alles Lüge“ ( KiWi Verlag).

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Es ist angerichtet. Die so wichtige Pressekonferenz – das mit Spannung erwartete Wahlprogramm wird erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt – findet in einem weithin unbekannten Gartencafé statt. Schon das ist ungewöhnlich – und typisch für den jungen Außenminister, auf den alle warten. Es ist elf Uhr vormittags im September, mit einem Licht wie bei den frühen Impressio­nisten. Das sonnenbeglänzte Grün der vollen Kastanienbäume lugt durch die hohen, geöffneten Fenster. Die verdeckten Starkstrom-Halogenleuchten tun ein Übriges und stürzen den kleinen Innenraum in verheißungsvolle Helligkeit.

Nicht angeberisch vorn, sondern in hinterster Reihe und ordentlich-präzise sind die gut 20 Fernsehkameras aufgebaut. Die ganze Welt will das politische Wunderkind sehen, und alles klappt wie am Schnürchen, wie immer bei Sebastian Kurz. Alle seine zumeist jungen Leute arbeiten lautlos und fehlerfrei, ohne Arbeitszeitbeschränkung. Es gibt keinen Kurz-Mitarbeiter, den man nicht auch um zwei Uhr nachts noch anrufen könnte. Und der dann nicht ausgesucht freundlich reagieren würde. Wahrscheinlich, weil er ohnehin noch am Schreibtisch sitzt. 

Jeder Auftritt sitzt

Sogar der Türsteher fragt voller Empathie jeden Gast: „Wie geht es Ihnen?“ Die Freundlichkeit und Höflichkeit, ja, die gute Erziehung sind das wahre Geheimnis dieses politischen Phänomens und seines Erfolgs. Die Menschen sind so unendlich dankbar geworden für diese Eigenschaften, in einem Land, in dem jeder Politiker wie in einem Song Contest auftritt, als ginge es um eine persönliche Performance in eigener Sache, man könnte auch sagen: um einen Theaterauftritt.

Denn Österreich ist eine Theaternation. Seit Jahrhunderten prägt das Theater die Politik bis in den innersten Kern. Das Wort Politik wird mit dem Wort Ranküne gleichgesetzt. Etwas anderes kann sich der Zuschauer gar nicht vorstellen. Politik ist Täuschen, Scheinen, Prahlen, Pläne schmieden, bella figura machen und andere absägen. Doch plötzlich kommt einer, der keinen zweiten Boden hat. Sebastian Kurz, der reine Tor. Das Volk ist hingerissen. Wie im Taumel.

Sein einnehmendes Wesen

Auch an diesem Tag. Der junge Mann ist plötzlich da, geht raschen Schrittes zum Stehpult und kommt sofort zur Sache. In einer knappen Stunde zieht er alles durch, sagt niemals „Äh“ oder „sozusagen“ oder „ein Stück weit“, scheint nicht einmal Zeit fürs Atmen zu verschwenden, und wirkt dennoch nicht atemlos, sondern ruhig und souverän. Danach gibt er jedem die Hand, auch dabei nicht hektisch, sondern zugewandt und aufmerksam.

Wen sein heller Blick trifft aus diesem jungen Antlitz, in das sich noch nichts Falsches eingeschlichen hat, spricht danach wie dieser 85-jährige Veteran: „Ich bin seit 1954 Mitglied in der Volkspartei, und ich hab sie alle erlebt, alle Vorsitzenden, den Renner, den Figl, den Mock, den Pröll, den Spindelegger – aber so einen anständigen, sauberen, ehrlichen Kerl haben wir vorher noch nie gehabt!“ Kopfschüttelnd geht er weiter, als würde er sich noch nachträglich darüber ärgern, dass die Vorgänger von Kurz so viel weniger Format hatten als dieser.

Sein Sprachtalent

Die anderen Kandidaten sind machtlos. Seit der Außenminister in den Ring gestiegen ist und sogleich Neuwahlen erzwang – das war erst vor wenigen Monaten –, befinden sich die übrigen Parteien in Schockstarre. Es scheint kein Mittel gegen den charismatischen Newcomer zu geben. Die Zeitung Falter zeigte ihn anfangs auf dem Titelbild als Jesus, der über das Wasser geht. Inzwischen kommt ihnen das kaum noch ironisch vor. „Und wenn er es nun doch ist?“, fragte ein altgedienter grüner Abgeordneter unlängst vollkommen betrunken nachts um halb zwei im Lokal Anzengruber – und erntete nachdenkliches Schweigen statt der erwarteten Lacher. 

Anfangs neidete man ihm die täglichen medienwirksamen Auftritte als Außenminister und setzte auf die staatlich garantierten Talkshows im Wahlkampf. Doch nach jeder TV-Runde war der Mann beliebter als vorher. Er hat die Fähigkeit, Politvokabular in lebendige Alltagssprache rückzuübersetzen, und zwar in Echtzeit.

Kurz Spielregeln

Das geht so: Der Reporter stellt ihm eine der üblichen, tausendfach gehörten Fragen im Politjargon, zum Beispiel, was dagegen zu tun sei, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe. Kurz weiß natürlich, dass das Unsinn ist. Dass sich im Gegenteil die Klassenunterschiede in den vergangenen 50 Jahren nahezu aufgelöst haben, im Alltag, im Konsum, im Verhalten, im Internet. Das zu sagen, ist aber verboten, und so drückt er es positiv aus und spricht davon, wie schön es in Österreich sei und dass er das erhalten wolle.

Das ist ein völliger Kontrast zur herkömmlichen Rhetorik eines jeden Herausforderers, der den Amtsinhaber immer so schlecht wie möglich machen musste. Die Leute lieben diese Ehrlichkeit, vor allem, seit sie gesehen haben, dass er es ernst meint mit dem Erhaltenwollen der schönen eigenen Welt: als er nämlich die Balkanroute schloss und die weiteren Millionen Migranten, die die Merkel-Administration schon fest eingeplant hatte, beherzt aussperrte.

Kerns Fehler

Vor allem der Kandidat der Sozialdemokraten, Bundeskanzler Christian Kern, hat es da schwer. Offenbar hat er von Anfang an die Bedeutung dieses Punktes falsch eingeschätzt. So tat er zwar alles, um selbst als fast rechter Hardliner in der Causa Balkanroute dazustehen. Aber dann beging er den politisch tödlichen Fehler, bei der Wiederholung der ganzen Sache, nämlich beim Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, pazifistisch zu argumentieren. Die Schließung der Mittelmeerroute sei für ihn ein „Wahlkampf Oberholler“ (zu Deutsch etwa „Witz“). Noch Anfang September meinte er, ebenso könne man den Mond anheulen. Das war exakt die Haltung, mit der seine Leute einst die Schließung der Balkanroute für unmöglich erklärt hatten – bis Kurz das Gegenteil bewies. 

Für den Kanzler ist die Lage somit extrem ungemütlich. Egal, was er macht, egal, wie gut seine Politik ist (und offenbar ist sie sehr gut), er hat die Prämissen falsch gesetzt. Neun von zehn Wählern, auch die liberalen und linken, wollen die Mittelmeerroute geschlossen haben. Wer das als Witz abtut und sehenden Auges die nächsten Zigtausend Schlauchboote mit halb­ ertrunkenen Afrikanern erwartet, ist wahltaktisch erledigt.

Da hilft dann auch die Erhöhung der Mütterrente nicht mehr. Die Rechten fürchten, der öffentliche Raum der großen Städte würde von fremden jungen Männern bald gänzlich okkupiert werden. Die Linken fürchten um die vielen Tausend zusätzlichen Toten bei der Überfahrt. Und die Liberalen fassen sich an den Kopf: Wie konnte einem so gescheiten und smarten Mann wie Christian Kern, selbst kaum weniger jung und cool als Sebastian Kurz, solch ein Fehler passieren? 

Die Welt der Sozialdemokraten ist nicht mehr

Die Antwort liegt im Weltbild der Sozialdemokraten. Es stammt aus einer Zeit, in der nahezu alles anders war als heute. Es gab noch Klassen und Schichten, bürgerliche und proletarische Milieus. Die Reichen hatten Häuser, Limousinen, Klavierunterricht, schickten ihre Kinder aufs Gymnasium und flogen im Sommer an die Côte d’Azur. Die Armen schufteten 40 oder 44 Stunden am Fließband, gingen am Samstag zum Fußball und rauchten viele Zigaretten. So sehen die meisten amtierenden Politiker die Welt noch heute. In Wirklichkeit ist nichts davon geblieben.

In seiner großen Wahlkampf-Eröffnungsrede positionierte sich der österreichische Kanzler wieder einmal für die 80 Prozent „da unten“ und gegen die 8 Prozent, denen „alles gehört“. Sein Slogan lautet allen Ernstes „Nehmen Sie sich, was Ihnen zusteht“. Diese Rede, die der wackere Mann nun täglich wiederholt, kommt mit zwei oder drei konkreten Beispielen aus. Eines davon fehlt niemals: „Wir sind für diejenigen da im Lande, für die es eine Katas­trophe bedeutet, wenn die Waschmaschine einmal kaputtgeht.“ Das andere Beispiel handelt von der allein­erziehenden Mutter, die im Morgengrauen aufsteht, den ganzen Tag wie verrückt arbeitet und die am Ende des Tages nicht weiß, wie sie die Miete zahlen soll. 

Österreichischer Dauerwahlkampf

Das ist die Welt der Sozialdemokraten, auch in Deutschland. Sie leben offenbar so hermetisch abgeriegelt von den sogenannten echten Menschen, dass ihnen auch bei der zehnten Wiederholung der Rede keiner sagt, wo man in der Überflussgesellschaft eine Waschmaschine umsonst abholen kann. Oder wie man einen Mietzuschuss erhält. Oder in welchen Vierteln die Wohnungen bezahlbar sind. In ihren Augen bleiben die Menschen Opfer. Doch diese reiben sich die Augen und wollen es nicht sein. Sie haben einen schönen Toyota vor dem Haus, das ihnen gehört, und sie waren gerade im August in der Dominikanischen Republik, in der „Domrep“, wie sie es fachmännisch unter Freunden nennen. 

Auch Martin Schulz ist mit dieser Wirklichkeitsverweigerung krachend gescheitert. In Österreich ist die Lage dennoch anders. Weil Wahlkampf dort nicht nur ein Kampf der Ideen ist. Im Grunde bietet nur Sebastian Kurz eine realitätsnahe Idee an, ein der Gegenwart adäquates Bewusstsein. Die anderen Akteure bedienen sich noch aus dem Fundus der ruhmreichen Ideengeschichte des Landes. Doch tatsächlich geht es ja nicht um Ideen, sondern, wie gesagt, einzig um die Aufführung. Wer tritt am besten auf? Wer singt am schönsten? Wer ist fesch und wer ist fad? Dazu passen auch die Länge und die Permanenz des Wahlkampfs. Anders als in Deutschland oder in England (wo wenige Wochen nach der Ankündigung ruckzuck gewählt wird), befindet sich Österreich fast jedes zweite Jahr im Dauerwahlkampf. Und gibt es in einem Jahr keine Wahl, wird ununterbrochen über die Möglichkeit vorgezogener Neuwahlen spekuliert. Währenddessen verhalten sich bereits alle Politiker so, als seien Neuwahlen schon ausgemacht.

Jeder Dritte wählt extrem Rechts

Der SPÖ-Kanzler tour­te bereits seit Jahresbeginn, somit Monate vor dem Tag, an dem Sebastian Kurz den gordischen Knoten durchschlug und Neuwahlen herbeiführte, mit einer lupenreinen Wahlkampf-Grundsatzrede durch Städte und Gemeinden. Und nicht erst seitdem stehen in den Boulevardzeitungen nahezu unausgesetzt die neuesten Umfrageergebnisse. Mehr oder weniger täglich! Es ist praktisch unmöglich, eine Zeitung zu kaufen, auf deren Titelseite nicht diese Prozentzahlen abgedruckt sind, mal neben den Fußballergebnissen, mal neben dem Wetter. Nur größer. Den Bürger interessieren diese winzigen Prozentverschiebungen offenbar mehr als die Champions League oder der Klimawandel. Früher, als es noch Pferderennen gab, in der K.-u.-k.-Monarchie, sollen entsprechende Meldungen ähnlich fieberhaft erwartet worden sein. Österreich ist halt ein Volk der Spieler.

Wer ist noch im Rennen? Man hatte zunächst mit einem Zweikampf zwischen dem smarten Kanzler und dem noch smarteren Außenminister gerechnet. Doch seltsamerweise werden, wie in Deutschland, auch noch kleinere Parteien gewählt. Etwa die Grünen, die Neubürgerlichen, die Faschisten und die Partei von Peter Pilz. Warum man in der Alpenrepublik noch immer so viele Anhänger der Faschisten hat, wird für immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht, weil Adolf Hitler ein Österreicher war? Etwa jeder Dritte wählt dort in alter Väter Sitte braun. Entsprechend hysterisch verhalten sich die anderen beiden, die nicht braun wählen. Es ist für Außenstehende ein unbegreifliches Schauspiel. 

Strache als neuer Hitler

Als ich im März 2011 zum ersten Mal nach Wien kam, wurde ich von diesem immerwährenden Schauspiel völlig ­überrascht. Jeder sprach von einem angeblichen neuen Faschistenführer, der den Namen Heinz Christian Strache tragen sollte und offenbar hochgefährlich sein musste. Ich erschrak nicht wenig. Ein neuer Hitler! Der Wahnsinn! Und im Reich wusste man es noch nicht, also in Deutschland. Erst hielt ich es für einen unglücklichen Zufall, dass ich ausgerechnet in einen Freundeskreis von Politparanoikern geraten war, bis ich merkte, dass das gesamte Justemilieu so dachte, also jene 66 Prozent, die nicht diese rechte Partei wählten, die übrigens FPÖ hieß und einmal Jörg Haider gehörte, einem anderen legendären Österreicher, verehrt und verflucht wie Hitler selbst.

Haider war schließlich tödlich verunglückt (worden), je nach Lesart der Anhänger oder Gegner, am 11. Oktober 2008. Er war also tot, als ich nach Wien kam, aber der eben genannte Nachfolger Heinz Christian Strache, von seinen Fans liebevoll „HC Strache“ abgekürzt, wurde bald noch erfolgreicher. Nach einigen Wochen war ich des Geredes über den neuen „Führer“ HC Strache derart überdrüssig, dass ich eine wütende Gegenrede in der Zeit veröffentlichte. Die Überschrift lautete: „Hitler hat keine Facebook-Freunde“. Es hörte aber nicht auf. Die Leute waren verrückt bei dem Thema und blieben es.

Kerns blinder Fleck

Bis Sebastian Kurz kam. Innerhalb eines Tages stiegen die Umfragewerte seiner Partei um die Hälfte, also von 22 auf 34 Prozent, während die Werte von HC Strache um etwa denselben Umfang zurückgingen, nämlich von 33 auf 23 Prozent. Aber auch die Werte der sozialdemokratischen Kanzlerpartei gingen zurück, als Kurz putschte. Im Wortsinne über Nacht waren alle Karten neu gemischt. Nicht Kern und Strache kämpften um das Kanzleramt, sondern darum, hinter Kurz noch in die Regierung reinzudürfen, abgeschlagen und bedeutungslos, am Katzentisch. Um dann, bei neuerlichen Neuwahlen ein Jahr später, gänzlich marginalisiert und vergrault zu werden. So ist der Plan, und so wird es kommen. Aber was tun bis dahin? Verlogen optimistisch auftreten, wie bei uns der jämmerliche oder zumindest beklagenswerte Martin Schulz? Oder doch noch angreifen? 

Nach Lage der Dinge kann keiner mehr angreifen. Alle sind gelähmt von den inneren Widersprüchen beziehungsweise Lebenslügen der Migrantenfrage. Als Kanzler Kern seine Grundsatzrede mit dem Titel „Plan A“ in der großen Wiener Messehalle hielt, sprach er mutig von der Zukunft, von der Digitalisierung, vom Umbau der Gesellschaft, von der Wirtschaft 4.0 und den politischen Prozessen in einer weiterentwickelten Demokratie. Über die Zuwanderung sprach er nicht. Ich saß im Raum und schrieb fast gedankenversunken auf den vor mir liegenden Journalistenblock mit SPÖ-Logo: „It’s the Zuwanderung, stupid!“

Damit ging ich nach vorn, gab Kern die Hand und gratulierte ihm zu der Rede. Sie war auch wirklich gut gewesen. Der sportliche junge Mann war zwei Stunden lang auf den 20 Metern des Podiums hin und her gelaufen wie Mick Jagger früher im Stadion und hatte die vieltausendköpfigen Anhänger gerockt. Aber kein Wort zu dem Thema, das alle aufwühlte. Ich kannte Kern nur sehr flüchtig. Aber als geborener Politiker hatte er sich die beiden Treffen, die wir hatten, gut gemerkt, und so sprang er erfreut auf und hörte sich meine warmen Worte an. Während ich sprach, legte ich den SPÖ-Block unbemerkt zu seinen Sachen. Mehr konnte ich nicht tun. Später, nach der verheerenden Wahlniederlage, konnte ich sagen, dass ich ihn gewarnt hatte.

Das große Missverständnis

Was sind nun die Widersprüche der Migrantenfrage? Es ist die nach dem Dritten Reich geradezu religiöse Gewissheit, dass es keine feindlichen Kulturen gebe. Alle Kulturen seien freundlich und gut, natürlich auch und gerade solche anderer Religionen. Die einfachen Leute wissen es leider besser. Auch Ideologien sind Kultur, und zwar in aller Regel feindlich gesinnte. Der Nationalsozialismus war feindlich und aggressiv gegen jede andere Weltsicht, und der zunehmend konservative Islam des 21. Jahrhunderts ist es auch. Das muss kein AfD-Hetzer behaupten, ein Blick in die Fernsehnachrichten genügt. Aus einer nur tiefenpsychologisch erklärbaren ständigen Verwechslung der beiden größten Gegensätze, nämlich Kultur und Rasse, erfolgt ein innerliches Verbot der Kulturkritik. Das haben wir alle. Jedenfalls alle, die noch alle Tassen im Schrank haben. Wer Kultur sagt, meint angeblich Rasse. Wer Islam sagt, meint angeblich Araber. Wer die Ideologie des Islam kritisiert, will angeblich und in Wirklichkeit die Araber als minderwertige Rasse beschreiben.

So geht die falsche Logik unseres Missverständnisses. In der Folge darf kein Politiker, der nicht medial geächtet werden will, etwas gegen Muslime sagen, auch der Außenminister nicht. Doch der große Unterschied, sein Alleinstellungsmerkmal, ist: Er hat etwas gegen die Muslime getan. Er hat ihnen, ganz ohne sich dabei verbal zu verraten, die Tür vor ihrer Nase zugemacht. Das werden ihm die Österreicher so wenig vergessen wie dem Prinz Eugen, dass der sie vor den Türken rettete. Heldentaten dieser Art stehen den Nichtregierungsparteien nicht zur Verfügung, und darüber reden dürfen sie ja wie gesagt nicht. So stehen sie erstarrt am Weg und sehen beleidigt zu, wie Sebastian Kurz gefeiert wird.

Strache möchte man nicht als Hausmeister haben

Im Laufe des langen österreichischen Wahlkampfs habe ich alle Beteiligten oft und immer wieder gesehen. Es kommt mir absurd vor, wenn ich heute daran denke. Während ich nun in Berlin bin und völlig wahlkampffreie Galerieeröffnungen, Theaterpremieren und Buchpräsentationen besuche, tobt in unserem kleinen Nachbarstaat, der liebenswerten Operettenrepublik Österreich, weiter der ewige Wahlkampf. Es vergeht kein Abend, an dem im Fernsehen nicht Kandidaten aufeinanderprallen. Es scheint, als wären extra dafür drei neue Privatsender gegründet worden. Undenkbar bei uns, dass Super RTL allabendlich Christian Lindner gegen Cem Özdemir antreten ließe oder Schulz gegen Gauland, Merkel gegen Katja Suding.

Auch den beschriebenen Faschistenführer HC Strache habe ich ein Dutzend Mal gesehen, mindestens. Also auch in natura. Ich wollte anfangs natürlich gern wissen, was ihn denn genau zum Nazi mache: Suchte er Raum im Osten? Interessierte er sich für Waffentechnik oder gar den Bau von Gefängnissen? Sein Vorgänger Haider hatte immerhin gefordert, Flüchtlinge in hoch gelegenen Lagern in den Alpen zu „konzentrieren“. Mein Eindruck war, dass es sich bei „HC“ um einen supernormalen Spießbürger alten Stiles handelte, der nichts Dämonisches an sich hatte. Im Gegenteil. Ich war mir sogar sicher, dass er im Grunde ein anständiger Kerl war. Er meinte es gut. Das Geblöke auf den Marktplätzen war trotzdem fürchterlich. Ein Albtraum. Dieses stundenlange Schimpfen! So einen möchte man nicht als Hausmeister haben und würde glatt wegziehen, wenn es der Fall wäre. Schon wegen der Kinder.

Die Grünen – eine infantile Tierschutzpartei

Auch die Grünen waren ständig präsent in meinem Leben, da meine Frau, obwohl wunderschön und hochgebildet, Freunde in dem schauerlichen Biotop hat. Einmal war ich auf der Geburtstagsfeier der im siebenten Lebensjahrzehnt stehenden Grünen-Führerin Lunacek. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Normalerweise suche ich mir in unangenehmen oder hässlichen Gesellschaften irgendein schönes Gesicht aus, wo sich mein von innerer oder äußerer Hässlichkeit bedrängtes Auge ausruhen kann. Diesmal fand ich kein einziges angenehmes Wesen unter 500 Gästen. Das machte mich ganz wahnsinnig. Wie eine Flipperkugel fühlte ich mich hin und her gestoßen, besser gesagt abgestoßen, bis sich dieser Impuls ins Motorische übertrug und ich zu tanzen begann. Ich tanze normalerweise nie, muss man wissen, ich tat es auch früher nicht, in der Jugend, ich finde es affig. Und nun tanzte ich plötzlich, und noch dazu unfreiwillig. Meine Frau sagte später, ich hätte gewirkt, als hätte ich etwas genommen.

Diese Anekdote ist nicht zufällig. Die österreichischen Grünen sind weit unpolitischer und unsympathischer als die deutschen, und sie werden aus dem Parlament fliegen. Es ist eine infantile Tierschutzpartei geworden, und ihr Verstand hört inzwischen bei Bäumen, Blumen und Fahrrädern auf. Wobei ich Blumen noch gut finde, jedenfalls besser als Fahrräder. Der letzte politische Kopf ist ausgetreten und hat flugs eine Ein-Mann-Partei ins Leben gerufen, und die wird es ins Parlament schaffen. Sie heißt Liste Peter Pilz und sorgt sich massiv um „unsere Türken, denen der politische Islam das Leben so schwer macht“. Da trifft sich der Ex-Grüne mit Sebastian Kurz, der zu den Türken ebenfalls ein persönliches und positives Verhältnis hat. Der erst 31-Jährige wuchs bereits in einer heute typischen Schule auf, mit einem Zuwanderungsanteil von 50 Prozent. Im Gegensatz zu seinen politischen Kollegen, die im Schnitt eine bis zwei Generationen älter sind, kennt er die Lage. 
Und deswegen gewinnt er.

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