Schengenraum - Sichert die Grenzen!

Während die Europäer noch den Brexit-Schock verarbeiten, wird schleichend an der weiteren Öffnung der Grenzen gearbeitet. Die Visafreiheit wird zum Ersatz für einen modernen und funktionierenden Rechtsstaat

Kosovo und EU-Flaggen in Pristina / picture alliance
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Autoreninfo

Sonja Margolina, Jahrgang 1951, ist 1986 aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik emigriert. Sie arbeitet als Journalistin und Buchautorin.

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Der Brexit-Ausgang ist noch nicht verdaut, da ist Brüssel im Begriff, Visafreiheit für weitere assoziierte Mitglieder einzuführen. Doch die Möglichkeit einer legalen Einreise in den Schengen-Raum wird die Migrationsströme noch stärker anheizen.

Der Brexit hat mit der Visaliberalisierung nichts zu tun. Großbritannien war nie ein Mitglied des Schengener Abkommens. Der bedeutende Teil der Briten scheint nicht so sehr durch die Flüchtlinge, sondern durch den legalen Zuzug von Arbeitsmigranten inklusive 800.000 Polen überfordert gewesen zu sein, die nach der EU-Erweiterung aus dem Schengen-Raum kamen.

Armutsmigration löste den Brexit mit aus

Die Armutsmigration von Rumänen und Bulgaren, darunter 200.000 Roma, trug zu weiteren Abwehrreaktionen bei den Briten bei. Dabei scheint die einstige Kolonialmacht viel abweisender auf die Osteuropäer denn auf die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien reagiert zu haben. Für einen Mitteleuropäer kaum nachvollziehbar. Allerdings fiel der Migrationsdruck besonders schwer in die Waagschale des Referendums.

Bei allen britischen Eigenarten: Die Abwehrreaktionen gegen die unkontrollierte und ungewollte Einwanderung sind überall in Europa ähnlich. Der „Dichte-Stress“, wie das Unbehagen über den Zuzug von Ausländern in der Schweiz genannt wurde, die Überfremdungs- und Verdrängungsängste sind anthropologischer Natur. Öffentliche Bildung und andere Sozialtechniken haben nur einen begrenzten Einfluss. Das träge, leckgeschlagene EU-Schiff ist nicht imstande, diesem allzu menschlichen Manko Rechnung zu tragen.

Nichts führt diese Lähmung deutlicher vor Augen als die abermalige Runde der Visaliberalisierung für die EU-Assoziierungsmitglieder, die im Schatten des Brexit fast unbemerkt von der Öffentlichkeit vonstatten geht. Bereits in den nächsten Monaten sollen Georgien, die Ukraine und die Türkei in den Genuss des visafreien Verkehrs mit dem Schengen-Raum kommen. Vorausgesetzt, sie erfüllen alle damit verbundenen Forderungen der EU-Kommission.

Das System der Anreize

Seit seiner Entstehung während des Kalten Krieges ist Schengen als geschlossener Raum der EU gedacht worden. Die Abschaffung der Binnengrenzen zwischen den EU-Mitgliedern wurde jedoch von der Verschiebung der Außengrenzen durch den Beitritt weiterer Staaten begleitet. Diese provisorischen Außengrenzen trafen bald auf Zonen der Instabilität: auf eingefrorene Konflikte wie im moldawischen Transnistrien. Je weiter entfernt von gefestigten Rechtsstaaten, desto poröser und imaginärer wurden die Grenzen.

Die Visaliberalisierung ist vor dem Hintergrund des Migrationsdrucks, der ungeschützten Grenzen innerhalb der EU und vieler anderer Möglichkeiten, in Europa zu bleiben, eine Einladung für eine risikofreie Einwanderung. Die Vorstellung der EU-Kommission, die Abschaffung der Visapflicht hätte keine nennenswerte Zunahme der Migration aus den betroffenen Ländern verursacht, ist somit schlicht realitätsfremd. Denn die zu beobachtende Migrationsdynamik sowohl bei den osteuropäischen EU-Mitgliedern als auch auf dem Balkan weist ganz eindeutig auf einen Anstieg der Armutseinwanderung in den Wohlstandsgürtel der EU hin. Für den Kosovo wird gar ein bevorstehender Exodus der jungen Generation befürchtet.

Dass gleichzeitig auch die Abwanderung von besser Qualifizierten ungebremst weitergeht, stellt diese Länder vor schwer lösbare politische und wirtschaftliche Probleme. 

Jedenfalls verstärkt die Abschaffung der Visapflicht das bereits existierende System von Anreizen, das in der EU seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgebaut wurde.

Keine Möglichkeit der Abschiebung

Zum System der Anreize gehören fehlende oder auf Grund von Korruption faktisch ungeschützte Außengrenzen, ein garantiertes Asylverfahren für Personen ohne oder mit gefälschter Identität, Garantien für den Familiennachzug und eine soziale Absicherung. Die Suche nach der „wahren“ Identität von hunderttausend Verfolgten, mit der Abertausende von Beamten beschäftigt sind, hat in ihrer Absurdität kafkaeske Züge angenommen.

Im Ergebnis scheint es egal zu sein, ob der Antragsteller individuell verfolgt wurde, aus einem sicheren Staat kommt oder mit krimineller beziehungsweise terroristischer Absicht eingereist ist. Denn es besteht kaum eine Möglichkeit, ihn abzuschieben. Die Prozedur ähnelt der Ermittlung einer Straftat, bei der im Voraus bekannt ist, dass der mutmaßliche Täter so oder so auf freien Fuß gesetzt wird.

Der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin hat einem solchen Asylverfahren in seinem Roman „Venushaar“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Er beschreibt die Befragung von Asylsuchenden, die antike Mythen und griechische Tragödien als Asylgrund angeben und einen Schweizer Beamten damit beinahe um den Verstand bringen.

Die Nachteile von Schengen überwiegen

Im Kalten Krieg war das Asylrecht auf die Aufnahme politisch Verfolgter aus totalitären Regimen ausgerichtet. Heute ermöglicht es jedem, der seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, ein faktisch unbegrenztes Bleiberecht in der EU – auch dann, wenn sein Gesuch abgelehnt wird.
Im internationalen Recht verankert und vertraglich gesichert, entfaltet das System der Anreize nun sein zunehmend destruktives Potenzial. Anstatt die Nachbarn einander näherzubringen, beginnt es damit, sie zu entzweien. Anstatt mehr Europa zu schaffen, verstärkt die Grenzenlosigkeit den antieuropäischen Affekt und trägt zur Stärkung nationalistischer Abwehrkräfte bei.

Eine Zeitlang mag die Bilanz von Schengen positiv gewesen sein. Nun überwiegen jedoch die Nachteile: angefangen von der grenzübergreifenden organisierten Kriminalität inklusive Menschen- und Drogenhandel bis zur kontinuierlichen Verschlechterung der Sicherheitslage. Die Abschaffung der Visapflicht für die Staatsangehörigen der oben genannten Länder würde einen weiteren Schub unkontrollierter Migration auslösen. So könnte Erdogan, der die Kurden aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertreibt, die bevorstehende Reisefreiheit als Instrument seiner Machtsicherung nutzen.

Auch aus der krisengeschüttelten Ukraine könnten nicht nur Armutsmigranten, sondern auch „Unabhängigkeitskämpfer“ und organisierte Banden aus den abtrünnigen Gebieten losziehen, die an Russland grenzen. Kommt ein Land in den Genuss der Visafreiheit, profitieren davon auch die unmittelbaren Nachbarn. Wer mit angeblich unbezahlbaren Kosten nationaler Grenzkontrollen argumentiert, sollte diese zuerst mit dem Schaden vergleichen, die dem Gemeinwesen als Folge der fehlenden Grenzen zugefügt werden.

Grenzen für alle

Schengen ist kein Heiligtum und der visafreie Verkehr ist kein Menschenrecht.

Gut organisierte binneneuropäische Grenzen und moderne Visa-Zentren würden keine nationale Abschottung mit sich bringen. Im Gegenteil: Sie könnten das Vertrauen zwischen den Staaten stärken und koordinierte Sicherheitsmaßnahmen erleichtern. Dass die einfachen und nachvollziehbaren Verfahren der Grenzsicherung als rechtsstaatswidrig und reaktionär verschrien sind, Schengen aber als alternativlos gilt, sagt einiges über die ideologische Denkblockade der politischen Elite.

Die Entgrenzung erreicht in der letzten Runde der Visaliberalisierung ihren vorläufigen Höhepunkt. Das ist Symbolpolitik mit unumkehrbaren Folgen. Es ist verständlich, dass die Reiseerleichterungen in den betroffenen Ländern als „Meilenstein auf dem Weg nach Westen“ stilisiert werden. In der Tat werden viele Bürger für diesen Weg mit den Füßen abstimmen. Denn Wirtschaftsreformen und die Bekämpfung von Korruption sind nicht im Interesse der oft korrupten und überforderten Eliten.

So gerät die Visafreiheit zum Ersatz für Modernisierung und Stärkung eines funktionierenden Rechtsstaats. Bereits heute ist für korrupte Seilschaften in den obersten politischen Etagen die Auswanderung der besser Gebildeten und sonstigen Störenfriede ein bewährtes Instrument der Machtsicherung. Vermutlich haben sich die EU-Funktionäre diesen „Meilenstein“ ganz anders vorgestellt.

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