Nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg - „Das ist ein Vulkanausbruch in desaströser Lage“

Nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg ist aus dem Votum über Donald Trump ein Kulturkampf geworden. Wie genau sich die Neubesetzung des Obersten Gerichts auf den Wahlkampf niederschlagen wird, analysiert Daniel Benjamin, Präsident der American Academy in Berlin.

Ruth Bader Ginsburg im Jahr 2016 während der Trauerfeier für Antonin Scalia / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Seit Juli 2020 leitet Daniel Benjamin die American Academy in Berlin. Zuvor war er Direktor des John Sloan Dickey Center for International Understanding am Dartmouth College. Von 2009-2012 arbeitete er als Koordinator für Terrorismusbekämpfung im US-Außenministerium.

Mister Benjamin, Jura gilt ja für gewöhnlich als trockene Materie. Wieso hat ausgerechnet eine Richterin wie Ruth Bader Ginsburg die amerikanische Politik und Gesellschaft so immens prägen können?

Sie hat einen wirklich großen Einfluss auf das Leben der Amerikaner gehabt – größer als der jeder anderen Juristin zuvor. Sie hat verdeutlicht, dass es im amerikanischen Rechtssystem wie in der Gesellschaft generell eine Benachteiligung von Frauen gibt und dass diese Diskriminierung nicht vom Recht gedeckt ist. Unsere Gesellschaft hat sich um Doppelstandards herum aufgestellt. Frauen wurden in dieser Rechtsauffassung zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Deshalb, und weil sie eine unglaublich scharfsinnige Intellektuelle und Verfechterin des Liberalismus gewesen ist, wird Ginsburg in die Geschichtsbücher als eine große Richterin der Vereinigten Staaten eingehen; und das sogar, obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens an einem Gericht zugebracht hat, in welchem sie eine Mindermeinung vertreten hat. Vielleicht hat sie diese Tatsache sogar noch beflügelt.

In den USA hat Ginsburg fast den Status einer Pop-Ikone gehabt. Es gab Dokus und Spielfilme über sie, ihr Antlitz fand sich auf Kaffeebechern und T-Shirts. Wenn ich mir vorstelle, es hätte von der einstigen deutschen Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach Kaffeebecher gegeben….

Ginsburg war eben eine sehr authentische Person, und darüber hinaus verfügte sie auch noch über Rückgrat. Sie war berüchtigt für ihre geringe Körpergröße, hinter der sich aber eine unglaubliche Standhaftigkeit und Stärke verbarg. Manchmal war sie als Richterin auch schwierig, aber sie war dabei nie unangenehm. Zudem hat sie natürlich das Rampenlicht geliebt. Man hat sie immer wieder in der Oper gesehen, ein- oder zweimal hat sie sogar bei einer Inszenierung mitgewirkt. Für viele war sie die Großmutter in Gestalt einer Superheldin. 

Vermutlich konnte ihre Persönlichkeit auch so strahlen, weil die Rolle des Verfassungsgerichts in den USA eine andere ist als in Deutschland.

Ich bin kein Experte für das deutsche Verfassungsrecht. In den USA hat der Supreme Court aus historischen Gründen eine wesentlich politischere Bedeutung als in der Bundesrepublik. Auch sind unsere einzelnen Verfassungsorgane nicht so stark voneinander getrennt. In den USA ist das politische System sehr durchlässig: Wir hatten einen Obersten Richter, der Präsident war, und wir hatten einen, der für das Präsidentenamt kandidiert hat.

Ein augenfälliger Unterschied besteht darin, dass die Richter in den USA auf Lebenszeit ernannt werden.

Ja, das ist ein großer Unterschied. Darüber wird in den USA sehr kontrovers diskutiert. Es gibt immer wieder mal die Forderung, man solle die Amtszeit der Richter auf 15 oder 18 Jahre begrenzen, anstatt ein so hohes Amt auf Lebenszeit zu vergeben.

Hat dieser Gedanke von einem Amt auf Lebenszeit nicht ohnehin etwas Antiquiertes – er stammt aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung der Menschen wesentlich kürzer war als heute?

Es mag in der Tat altmodisch erscheinen. In der Praxis führt es dazu, dass viele Richter heute älter als 70 Jahre sind. Im Kern geht es aber um die politische Unabhängigkeit. Bei ihren Entscheidungen sollen die Richter nicht von der Angst geleitet werden, sie könnten aus dem Amt gejagt werden. Aber wie gesagt, es gibt viele Debatten darüber, ob man das ändern sollte. Wenn Sie mich fragen: Ich glaube nicht, dass sich daran so schnell etwas ändern wird.

Sollte nun eine liberale Richterin durch eine konservative Richterin ersetzt werden, würden sich die Mehrheitsverhältnisse im Supreme Court auf lange Zeit verändern. Was bedeutet dies für die Debatten und Urteile um die Gleichstellung von Mann und Frau oder für die immer noch tiefen Gräben in der Frage der Abtreibung?

Daniel Benjamin

Ich bin mir sicher, dass dann die ohnehin existierende Debatte um Abtreibung noch einmal intensiviert würde. Das ist in der Vergangenheit bei jeder Nominierung eines republikanischen Kandidaten so gewesen. Donald Trump hat bereits unmissverständlich deutlich gemacht, dass er nur Richter vorschlagen werde, die „pro-Leben“, also gegen Abtreibung sind. Es stellt sich dann die Frage, ob das Oberste Gericht eine Art „Pro-Life“-Agenda verfolgen würde, indem es den Staaten erlaubt, die Abtreibung stärker einzuschränken, oder ob es am Ende den historischen Fall „Roe v. Wade“ umkehren würde.

Sie meinen das historische Gerichtsurteil aus dem Jahr 1973, das erstmals den Schwangerschaftsabbruch unter das Recht auf Privatsphäre gestellt hat. 

Ja. Es steht für mich jedenfalls außer Frage, dass das Thema Abtreibung ein großes Thema sein wird. Ich denke, an der Gleichstellung der Geschlechter ist bei anderen Punkten nichts zu rütteln. Wo ich indes ebenfalls Probleme kommen sehe, ist im Bereich der Gesundheitspolitik. Derzeit ist die sogenannte Obama-Care wieder vor Gericht: Der jetzige Vorsitzende Roberts hat mit der konservativen Haltung gebrochen und zumindest bisher wichtige Teile des Gesetzes verteidigt. Ein weiterer konservativer Richter indes könnte die Mehrheiten verschieben. Ähnliches gilt bei der Ehe von Homosexuellen. Auch hier würde es sicherlich zu neuen Debatten kommen. Vermutlich würde das Gericht die Rechtsprechung nicht vollkommen verändern, aber es gibt Detailfragen, bei der Menschen in Zukunft ihre Vorurteile gegenüber Homosexuellen herausstreichen könnten, etwa die Frage, ob ein Bäcker es ablehnen kann, eine Hochzeitstorte für ein schwules Paar zu backen. Es könnten zukünftig also viele Dinge vor dem Verfassungsgericht landen, die in dieser Form neu wären. 

Nun ist es ja der letzte Wille von Ruth Bader Ginsburg gewesen, dass kein neuer Richter nominiert werden soll, bevor nicht der nächste Präsident im Amt ist. Denken Sie, dass dieser Wille in den Erwägungen Trumps oder McConnells, dem Mehrheitsführer im Senat, eine Rolle spielen wird?

Ich denke, wir werden dazu keinen Kommentar der beiden hören. Was wir indes hören, sind Stellungnahmen von Präsidentschaftskandidat Biden, der nun darauf abhebt, dass Ginsburg eine Heldin gewesen sei, die eine besondere Behandlung verdient habe. Ich denke, das wird auf der anderen Seite des politischen Lagers nicht ins Gewicht fallen. Dennoch, es wird die Wahlen noch einmal zuspitzen. Bis dato ging es bei den Wahlen um die Zukunft von Donald Trump, jetzt ist daraus – um einmal dieses deutsche Wort zu gebrauchen – ein Kulturkampf geworden. Das wird Wähler auf der Linken wie auf der Rechten mobilisieren. Ich bin mir sicher, dass das die Wahlen beeinflussen wird. Wie, das kann man noch nicht sagen. Es gibt angeblich viele Amerikaner, die sich dafür aussprechen, Joe Biden möge den nächsten Verfassungsrichter vorschlagen. Ich denke indes, es wird eine unwiderstehliche Versuchung für Trump und McConnell sein, den neuen Richter selbst zu benennen.

Ist eine derart schnelle Ernennung vom Prozedere her überhaupt machbar?

Das wird sehr eng werden. Ich würde da nicht wetten wollen, könnte mir aber vorstellen, dass es eine Entscheidung in der Nachwahlphase geben könnte. Momentan sind auch die Senatoren im Wahlkampf, und es sind einfach nur noch sehr wenige Wochen bis zur Wahl. Die Frage wird dann am Ende sein, wie viele Senatoren dem Präsidenten die Treue halten werden. Man weiß jetzt bereits von zwei Senatorinnen, die Trump nicht unterstützen wollen. Die Frage ist, ob es noch weitere geben wird. Zudem kann man sich vorstellen, dass einige Senatoren, die in der Vergangenheit darauf bestanden haben, dass sie keine Nominierung im Umfeld der Wahl wünschen, nun bereit sind, ihre Meinung zu ändern. In dieser Gemengelage eine eindeutige Meinung zu haben, ist nicht einfach. 

Wie sollte sich Joe Biden in dieser Situation verhalten. Er sprach gestern von „roher politischer Gewalt“, wenn man vor den Wahlen einen Kandidaten durchbringen wolle. Hat Biden derzeit eine andere Möglichkeit, als sich defensiv zu verhalten?

Ich denke nicht. Die Demokraten haben gute Argumente. Sie können darauf verweisen, dass es nicht gut wäre, mitten in einer Pandemie, in der mehr als 200.000 Amerikaner gestorben sind, einen Richter zu ernennen, der möglicherweise das Gesundheitssystem beschneiden möchte. Die Republikaner wiederum können die Wahl nun mit einer Wahl über den Supreme Court verbinden und auf diese Weise ihre Wähler mobilisieren. Jeder, der jetzt sagt, er wisse, wie das Rennen ausgeht, der blufft. Das Ganze ist wie ein Vulkanausbruch in einer ohnehin schon desaströsen Situation. Fest steht, es wird die Wähler beeinflussen. 

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