Russland und Europa - Zeit für Wiederannäherung

Seit Beginn des Ukraine-Konflikts ist das Verhältnis zwischen Russland und Europa zerrüttet. Doch die Bevölkerung auf beiden Seiten wünscht sich eine Wiederannäherung, wie eine Umfrage der Körber-Stiftung zeigt. Die Politik sollte das wahrnehmen und Begegnungen fördern

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Russlands Präsident Wladimir Putin: Die Kluft muss überwunden werden / picture alliance
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Autoreninfo

Gabriele Woidelko leitet seit 2016 den Arbeitsschwerpunkt Russland in Europa der Körber Stiftung. Sie studierte in Hamburg Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Turkologie und war anschließend als Dozentin an der Universität Hamburg tätig. Seit 1996 ist sie bei der Körber-Stiftung, zunächst als Programm-Managerin, dann bis 2015 als Leiterin des europäischen Geschichtsnetzwerks EUSTORY, des FutureLab Europe und weiterer Europaaktivitäten des Bereichs Bildung. Foto: Körber-Stiftung / David Ausserhofer

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Als Russland im März 2014 die Krim annektierte, nahm nicht nur der Ukraine-Konflikt seinen Anfang, der bis heute andauert und inzwischen über 10.000 Menschenleben gefordert hat. In diesem Jahr wurde auch offensichtlich, was sich schon länger angebahnt hatte: Russland, der große europäische Nachbar im Osten, kehrte Europa den Rücken, verkündete und beschritt fortan selbstbewusst seinen eigenen „posteuropäischen“ Weg.

Seit damals ist nichts besser geworden im europäisch-russischen Verhältnis, ganz im Gegenteil. Egal, ob Syrien-Konflikt, Ursachen und Wirkung der Nato-Osterweiterung, vermutete oder tatsächliche Einmischung Russlands in demokratische Wahlen verschiedenster EU-Mitgliedsländer, Informationskrieg im Internet und Hacking: überall herrscht Konfrontation statt Dialog, überall kommt es zu „eskalierter Entfremdung“ statt versuchter (Wieder)Annäherung.

Erschüttertes Vertrauen und vorgefertigte Feindbilder

Die Konfrontation zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn hat eine politische und eine menschliche Komponente. Beide geben Anlass zur Besorgnis. Auf politischer Ebene ist die wachsende Kluft zwischen Russland und nahezu dem gesamten Rest Europas sowie den USA gefährlich, weil wir uns eben – entgegen der landläufigen Meinung – nicht mehr in der Welt des Kalten Krieges befinden, in der sich zwei große Blöcke zwar feindselig, aber mit klaren Fronten gegenüber standen. Die heutige Welt ist multipolar, je nach Interessenlage kommt es zu unterschiedlichsten Koalitionen, kaum etwas scheint noch berechenbar. Daher birgt der Konflikt zwischen Russland und dem Westen große Gefahren, denen Russland und die EU mit allen verfügbaren politischen und diplomatischen Mitteln verantwortungsvoll begegnen müssen.

Auf der Ebene der Gesellschaften und der einzelnen Menschen ist die Entfremdung zwischen Russland und Europa eine Katastrophe mit Langzeitfolgen, die wir derzeit nur ahnen können. Die Risse, die der Ukraine-Konflikt inmitten von russisch-ukrainischen Familien und Gemeinschaften hervorgebracht hat, der praktische Stillstand in der historischen Aussöhnung zwischen Russland und Polen, die mit dem tragischen Flugzeugabsturz in Smolensk 2010 so vielversprechend begonnen hatte, die rückläufigen Zahlen im Schüleraustausch zwischen Deutschland und Russland  – all das zeugt davon, wie sehr auch die grenzübergreifenden „Kriechströme“, also das ganz normale zwischenmenschliche Miteinander, unter der politischen Eiszeit leiden. Wenn das Vertrauen der Menschen zueinander erschüttert wird und vorgefertigte Feindbilder den eigenen Eindruck aus erster Hand ersetzen, dann steht einer weiteren politischen Eskalation nichts mehr im Wege. Wohin das führen kann, hat uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts gelehrt.

Wunsch nach Wiederannäherung

Um genauer zu erfahren, wie es um die so wichtige  zwischengesellschaftliche und menschliche Ebene der europäisch-russischen Beziehungen bestellt ist, hat die Körber-Stiftung aktuell eine repräsentative Umfrage in Deutschland, Polen und Russland durchführen lassen, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Herrscht bei Deutschen, Polen und Russen derzeit „Kalter Krieg in den Köpfen“? Wie stehen sie zu den aktuellen Konflikten? Was wünschen sie sich? Die Antworten zeigen beides – die Mauer in den Köpfen und den Wunsch nach Wiederannäherung:

Dass Russland zu Europa gehört, glauben Deutsche und Polen eher als Russen. Und diejenigen, die an Russland in Europa glauben, tun dies aus pragmatischen Gründen:
Während in Deutschland und Polen mehr als die Hälfte der Bevölkerung Russland als Teil Europas ansieht, unterstützt in Russland nur knapp jeder Zweite diese Position. In allen drei Ländern ist es vor allem die Geografie, die als Argument für Russland in Europa angeführt wird. Gemeinsamkeiten bei Kultur und Werten? Fehlanzeige. Die Zustimmung zu einer Wertegemeinschaft liegt überall bei fünf Prozent oder weniger.

Die Politik der Gegenwart bestimmt den Blick auf die Vergangenheit. Ein gemeinsamer Nenner im Geschichtsverständnis lässt sich nur schwer erkennen:
Gefragt danach, ob es 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs an der Zeit sei, die Vergangenheit ruhen zu lassen, ist es für die überwältigende Mehrheit der Russen undenkbar, einen Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Krieg zu ziehen. In Deutschland und Polen sprechen sich dagegen jeweils deutlich mehr als ein Drittel der Befragten dafür aus. Die Ergebnisse aus Russland zeigen, wie sehr der „Große Vaterländische Krieg“ den Kern eines postsowjetischen nationalen Selbstverständnisses bildet, das die russische Regierung in den letzten Jahren in dieser Form massiv sanktioniert und gefördert hat.

Welche Werte für eine demokratische Gesellschaft wichtig sind, ist umstritten:
Zahlreiche westliche Beobachter beklagen, dass ein Wertedialog mit Russland nicht (mehr) möglich sei, weil das Werteverständnis sich zu stark auseinander entwickelt habe oder demokratische Werte in Russland zu Worthülsen verkommen seien. Die Ergebnisse der Befragung zeigen, wie unterschiedlich die Allianzen in Wertefragen zwischen den drei Ländern verlaufen. Bei der Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit sind sich Deutschland und Russland beispielsweise mit jeweils über 80 Prozent der Befragten näher als Deutschland und Polen, wo sich mit 57 Prozent im Dreiländervergleich die wenigsten gegen Fremdenfeindlichkeit positionieren. Zur Rolle der Medien hingegen kommen Polen und Deutsche sich nah: erstaunliche 43 Prozent der Deutschen und 53 Prozent der Polen meinen, die Medien sollten die Arbeit der Regierung unterstützen. In Russland sprechen sich über zwei Drittel für diese Position aus. Homosexuelle Partnerschaften lehnt die überwältigende Mehrheit der Russen ab, in Polen ist es über die Hälfte der Bevölkerung, in Deutschland jeder Fünfte.

Der Grund für die politische Eiszeit ist klar, der Weg aus der Krise nicht:
Der Ukraine-Konflikt und die damit verbundenen Sanktionen sind schuld an der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der EU. Darin herrscht in allen drei Ländern Einigkeit. Die Sanktionen, die die EU und Russland im Zuge der Ukraine-Krise gegeneinander verhängt haben, werden aber unterschiedlich beurteilt. In Polen gibt es mit 58 Prozent die größte Mehrheit für deren Beibehaltung oder Verschärfung, die Deutschen sind in dieser Frage gespalten, in Russland plädieren über 60 Prozent für eine Lockerung oder Aufhebung. Hier zeigt sich, wie groß drei Jahre nach der Annexion der Krim die Belastung für die europäisch-russischen Beziehungen durch den Ukraine-Konflikt ist und auf absehbare Zeit bleiben wird.

Begegnungen als Mittel gegen Propaganda

Die Entfremdung zwischen Russland und Europa, die aus manchen der Ergebnisse spricht, mag auf den ersten Blick entmutigend sein. Gleichzeitig ist aber auch ein klarer Auftrag an die Politik erkennbar: Deutsche, Polen und Russen halten die Wiederannäherung zwischen Russland und der EU mehrheitlich für (sehr) wichtig. Die Politik muss also nach Meinung der Bürger die Anstrengungen zur Lösung des Konflikts fortsetzen und zum Beispiel so bald wie möglich einen Ausweg aus der Sackgasse finden, in die der Minsker Friedensprozess geraten ist. Eine Fortsetzung der Debatte über die im September von Russland vorgeschlagene UN-Friedensmission in der Ostukraine und deren Rahmenbedingungen wäre ein erster wichtiger Schritt.

Die Zivilgesellschaft ist aber ebenfalls in der Pflicht. Angesichts der teils drastischen Entfremdung sollte sie Begegnungen sowie den offenen und kritischen Austausch zwischen Russland und dem restlichen Europa auf allen nur möglichen Ebenen aufrechterhalten. Auch dazu könnte die Politik auf beiden Seiten allerdings einen wichtigen Beitrag leisten: indem sie nach mehr als einem Jahrzehnt der Verhandlungen die Visafreiheit zwischen Russland und der EU endlich umsetzt. Die Aufhebung der Visapflicht wäre keinesfalls – wie Kritiker meinen – eine ungerechtfertigte „Belohnung“ für Russlands völkerrechtswidriges Verhalten in der Ukraine. Dieses Verhalten muss und wird an anderer Stelle geahndet werden. Visa- und damit Bewegungsfreiheit wirkt direkt in die Bevölkerungen hinein: Sie ist ein wirksames Mittel gegen Propaganda, fake news und Feindbilder. Sie ermöglicht es den Menschen, sich selbst ein Bild zu machen, anstatt sich auf die Meinung anderer zu verlassen.

Denn ein Russland, das sich von Europa abwendet und seine Zukunft auf einem Sonderweg sucht, schadet nicht nur sich selbst, sondern auch uns restlichen Europäern.

Gabriele Woidelko ist Leiterin des Arbeitsschwerpunkts „Russland in Europa“ bei der Körber-Stiftung in Hamburg. Der Artikel gibt die persönliche Meinung der Autorin und nicht die der Körber-Stiftung wieder.

„Cicero“ und die Körber-Stiftung kooperieren. Die Körber-Stiftung stellt sich mit ihren operativen Projekten, in ihren Netzwerken und mit Kooperationspartnern aktuellen Herausforderungen in den Handlungsfeldern Demografischer Wandel, Innovation und Internationale Verständigung. Die drei Themen „Neue Lebensarbeitszeit“, „Digitale Mündigkeit“.

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