Russland in der Krise - Putins strategisches Dilemma

Der britische Geheimdienstchef hat Russland als eine schwächelnde Macht bezeichnet. Und die Reaktion des russischen Präsidenten zeigt: Wladimir Putin ist sich seiner eigenen Schwäche durchaus bewusst. Das Land tritt in eine kritische Phase ein, die an Sowjet-Zeiten erinnert.

Wladimir Putin beim St. Petersburger internationalen Wirtschaftsforum am 4. Juni / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Richard Moore, der Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, wurde unlängst in der Sunday Times mit der Einschätzung zitiert, wonach „Russland in wirtschaftlicher und demografischer Hinsicht eine objektiv schwächelnde Macht“ sei. 

Beim russischen Präsidenten Wladimir Putin hat das Statement offenbar einen Nerv getroffen. Denn auf eine Frage zu der Aussage Moores antwortete er vor wenigen Tagen auf dem „International Economic Forum“ in St. Petersburg wie folgt: 

„Sie haben erwähnt, dass der neue Chef des MI6 solche Bewertungen abgegeben hat, aber er ist neu und in diesem Sinne eine junge Führungskraft. Ich denke, er wird Erfahrungen sammeln, und er wird seine Einschätzungen ändern. Das ist das Erste. Zweitens – wenn Russland eine schwächelnde Macht ist, warum sich dann Sorgen machen? Wenn das der Fall sein sollte, dann bleiben Sie ruhig, machen Sie sich keine Sorgen und verschlechtern Sie nicht die russisch-britischen Beziehungen. Und wenn Sie sich nicht einmischen, dann wird eine bereits existierende Entwicklung weiter an Stärke gewinnt. Großbritannien gehört nämlich zu den wenigen Ländern in Europa und in der Welt, mit denen wir ein gutes Tempo bei der Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen beibehalten haben. Selbst im vergangenen Pandemiejahr, als unser Handelsvolumen in der Zusammenarbeit mit vielen Ländern der Welt schrumpfte, stieg es mit Großbritannien um 54 Prozent. Das ist ein rekordverdächtiger Wert. Also, wenn Sie sich nicht einmischen, dann wird alles in Ordnung sein, und wahrscheinlich wird sich Russland mit Hilfe des gegenseitigen Handels von einem schwächelnden Land in einen blühenden Staat verwandeln. Wir würden es sehr begrüßen, wenn die russisch-britischen Beziehungen diesen Prozess erleichtern würden.“

Diese Aussage lässt mehrere Interpretationen zu. Eine davon ist, dass Putins Kommentar falsch übersetzt wurde. Allerdings habe ich kein Dementi der Übersetzung finden können. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der russische Präsident sich in Sarkasmus gefiel. Obwohl das eine reizvolle Auslegung wäre, denke ich, dass Putin klug genug ist, um zu wissen, dass Sarkasmus aus dem Munde eines Politikers von Weltrang normalerweise zu Missverständnissen führt.

Anhaltender wirtschaftlicher Niedergang

Da ich erstens glaube, dass Moores Einschätzung inhaltlich zutrifft, und dass, zweitens, Putins Punkt tatsächlich darin bestand, Moore zu einer besseren Unterstützung der britisch-russischen Handelsbeziehungen aufzufordern, schien der Kreml-Chef implizit einzugestehen, dass er den realen und anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang Russlands sowie die Notwendigkeit eines robusten Handels mit Großbritannien anerkennt.

Ich habe meine Überlegungen zu Russland in meinem Buch „Die nächsten 100 Jahre“ dargelegt, das ich 2007 schrieb und das im Januar 2009 veröffentlicht wurde. Mein Argument lautete, dass Russland seine Bemühungen intensivieren werde, das Eindringen des Westens in die Pufferzonen der ehemaligen Sowjetunion einzudämmen. Der erste Schritt dieses Prozesses war der Russisch-Georgische Krieg von 2008 – ein relativ glimpfliches Ereignis.

Der Sturz der pro-russischen Regimes in der Ukraine ein paar Jahre später und der damit einhergehende Machtwechsel zugunsten einer pro-westlichen Regierung führten dann zu einem grundlegenden Strategiewechsel in Moskau, der sich nun in Weißrussland, im Südkaukasus, in Moldawien und natürlich in der Ukraine selbst zeigt. Nach meiner damaligen (und heutigen) Analyse konnte Russland die geografischen und politischen Realitäten, die durch den Zerfall der Sowjetunion entstanden waren, nicht akzeptieren; es wurde innerhalb des Gebiets der ehemaligen Sowjetunion (und in begrenzterem Maße auch weltweit, siehe Syrien) zunehmend aggressiv.

Das Problem, das Russland dadurch entsteht, ist letztlich dasselbe Problem, das auch die Sowjetunion zu gegenwärtigen hatte: Mit der Intensivierung politisch-militärischer Aktionen explodierten die entsprechenden Kosten. Diese Kostenspirale wiederum stand im Widerspruch zu der Tatsache, dass Russland es nicht geschafft hat, eine moderne Wirtschaft aufzubauen.

Keine Kontrolle über den Energiepreis

Der Schwerpunkt der russischen Wirtschaft liegt in der Produktion und dem Verkauf von Energie – deren Exporte machen etwa 30 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts aus, und etwa 40 Prozent der Exporte betreffen den Energiesektor. Gleichzeitig hat das Land keine Kontrolle über den Energiepreis und die damit verbundenen Launen des Marktes, welche der Wirtschaft großen Schaden zufügen können.

An diesem Widerspruch ist damals schon die Sowjetunion zerbrochen: Auf der einen Seite musste sie ein massives militärisches Arsenal finanzieren. Auf der anderen Seite stammte ein großer Teil der Sowjet-Wirtschaft aus dem Export eines einzigen Rohstoffs. Genau solche Szenarien aber sind stilprägend für die Wirtschaft eines Entwicklungslandes: die Abhängigkeit von einem einzigen Rohstoff.

Die Sowjets verfügten lediglich über eine sich entwickelnde Wirtschaft, während sie für ein entwickeltes Militär teuer bezahlen mussten. Dies setzte wiederum der Möglichkeit einer wirtschaftlichen Entwicklung jenseits von Verteidigung und Energie Grenzen und schränkte so auch den gesellschaftlich-sozialen Fortschritt des Landes ein.

Derselbe grundlegende Prozess ist heute abermals im Gange. Geopolitisch gesehen musste Russland sein Militär aus den Trümmern der 1990er-Jahre in eine Streitmacht verwandeln, die in der Lage war, seine früheren Grenzen wiederherzustellen (wenn nicht formell, dann doch zumindest faktisch) und den Vereinigten Staaten Paroli zu bieten.

Gleichzeitig war Russlands Fähigkeit, eine ausgewogene und moderne Wirtschaft zu schaffen, durch den Kapitalabfluss begrenzt – wegen des Aufstiegs der Oligarchen, und weil der Entwicklungsprozess hin zu einer großen, technisch versierten Mittelschicht letztlich gestoppt wurde. Russland hatte nie die nötige Atempause, um zunächst eine moderne Wirtschaft aufzubauen und sich dann mit der Geopolitik zu beschäftigen. Es war gezwungen, weiterhin auf den Export von Energie zu setzen, ohne dabei auf deren Preisgestaltung Einfluss nehmen zu können.

Phase sozialer Enttäuschungen

In „Die nächsten 100 Jahre“ prognostizierte ich eine Periode, in der Russland selbstbewusster werden würde, gefolgt von einer Phase zunehmender wirtschaftlicher Schwäche und sozialer Enttäuschungen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland nicht das gebracht, was es immer sein wollte: ein modernes europäisches Land. Es bleibt eine bedeutende Militärmacht – aber eine, die nicht stark genug ist, um ihren Willen mit direkter Gewalt durchzusetzen. Was sich unter anderem daran zeigt, dass der Kreml einem Land wie Großbritannien nichts entgegensetzen kann, sollte es den Zugang zu seinen Märkten verwehren.

Wie die Sowjets in den 1980er-Jahren sind die Russen zwischen geopolitischer Notwendigkeit und wirtschaftlicher Realität gefangen, und meiner Meinung nach treten wir gerade in eine Phase ein, in der dieser Widerspruch immer weniger auszuhalten sein wird.

Putin ist das offensichtlich bewusst – und ihm ist klar, dass die Länder, die für ihn wichtig sind, sich dessen ebenfalls bewusst sind. Deshalb musste er den MI6-Chef Richard Moore als unerfahrenes Greenhorn abtun, konnte aber gleichzeitig seine Befürchtungen bezüglich eines möglichen Rückgangs des Handels mit Großbritannien nicht in Abrede stellen. Vielleicht war es seine Absicht, sarkastisch zu klingen – aber Putin kam dennoch nicht umhin, den Fakten Ausdruck zu verschaffen.

Russland braucht eine robuste Wirtschaft, um seine geopolitischen Ziele zu verfolgen – aber es verfügt über keine robuste Wirtschaft. Und der Kreml kann es sich nicht leisten, dass der MI6 ihm das Leben schwer macht. Aber der britische Geheimdienst ist nicht Russlands wahres Problem; sein wahres Problem ist die wirtschaftliche Realität.

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