Konflikt mit Russland - Halbblut und Problembär

Der Westen und Russland stehen sich heute so feindlich gegenüber wie zu schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges. Warum eigentlich?

Erschienen in Ausgabe
Der Metrozugführer Maksim lebt mit seiner Familie in Moskau / Isabela Pacini
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Im Jahr 1995 saß ich, ein südwestdeutscher Teenager aus einem Dorf an der Schwäbischen Alb, erstmals im Zug von Berlin nach Sankt Petersburg. Im Waggon brodelte ein Wasserkessel, der mit Kohlen geheizt wurde, die Russen um einen herum trugen bevorzugt ausgewaschene Jeans und rochen intensiv, an der Grenze zu Weißrussland wurden die Waggons komplett (mit uns darin) hochgehoben und auf ein neues Fahrwerk gesetzt. Und überhaupt: Dieser Zug fuhr 36 Stunden. Das alles erschien wie aus einer anderen Zeit. Ebenso erschien Sankt Petersburg. Beim Schüleraustausch in Minnesota, in Lyon und in Essex hatte ich Gleichaltrige getroffen, die auch Chucks und Basecaps trugen, die Nirvana und Radiohead hörten und eigentlich alle am liebsten Burger mit Pommes aßen. In Sankt Petersburg war fast alles anders.

15 Jahre später traf ich mich, inzwischen schon mehrere Jahre Korrespondent in Russland, mit meiner Russischlehrerin und frischen Schülern von der Alb in Moskau. Die Frage, die mich mehr als alles interessierte, beantworteten diese mit einem Achselzucken: Eigentlich sind die genau wie wir, die Russen – iPhones, gleiche Musik, gleiche Klamotten. Aber Moskau isch hald a saucoole Stadt.

Seitdem ist wieder ein Jahrzehnt vergangen, und äußerlich sind die Russen und wir uns noch ähnlicher geworden. In den russischen Städten – und zwar nicht nur in Moskau – gibt es westliche Burgerbratereien jeder Couleur, die Friseurläden heißen jetzt „Barbershop“, und das sogar in der Teilrepublik Tschetschenien. Ja, die Russen saufen heute gar nur noch halb so viel wie vor einem Jahrzehnt – mit zehn Litern Reinalkohol im Jahr sind sie inzwischen etwa auf einem Level mit den Deutschen. Wir kämpfen mit den Russen schon seit Jahren um die besten Liegen am Strand von Antalya, und in Kitzbühel begegnen sich die Besserverdienenden. Doch politisch herrscht zwischen dem Westen und Russland kalter Krieg, auch zwischen Deutschland und Russland. Und schaut man sich die Reden an, wird er immer heißer.

Russophile Romantik

Aber warum eigentlich? Sind wir einander am Ende nur äußerlich ähnlicher geworden – und innerlich fremd geblieben? Hier der freie, liberale Homo occidentalis und dort der geknechtete, die Knechtschaft liebende Homo russicus, der nicht loskommt vom Erbgut des Homo sovieticus? Die These der Andersartigkeit erklingt ja allerseits. Im Westen heißt es sowohl von klassischen Russlandverstehern, der Russe sei eben anders – hier als Entschuldigung für Missstände –, als auch von den leidenschaftlichen Russlandbashern, jüngstes Beispiel etwa Welt-Chefkommentator Jacques Schuster: „Wie die meisten Europäer hingen auch die Italiener dem Irrglauben an, die Demokratie sei selbst für Moskau im Grunde die natürliche Regierungsform der Menschheit und alle anderen Herrschaftssysteme bedauerliche, doch vorübergehende Abweichungen. Mehrheitlich bevorzugten die Russen genau diese Abweichung in möglichst autoritärer Form. Doch der Westen übersah es.“

Boris Nikolaev, Oberst, Moskau: „Russische Militärbeamte dürfen das Land nicht mehr verlassen. Dazu fällt mir ein typischer Soldatenwitz ein. Ein Soldat sagt zum anderen: Ach, ich träume schon wieder von Paris … Echt, du warst schon in Paris? Nein, aber ich habe schon mal von Paris geträumt“

In Russland wird die Andersartigkeit inzwischen auf höchster Ebene zelebriert – weil sie als Standardargument gilt gegen alle Anwürfe: „Pah, wir sind halt so!“ Gerne werden dann die zum Volksgut gewordenen Zeilen des Dichters Fjodor Tjutschew hinterhergeworfen: „Mit dem Verstande“, schrieb dieser 1866, „ist Russland nicht zu fassen, mit der gemeinen Elle nicht zu messen.“ Das ist natürlich russophile Romantik des 19. Jahrhunderts. Denn heute wie damals gibt es Ellen, die hier wie dort das gleiche Maß haben und anhand derer man vergleichen kann. Zum Beispiel mit dem „World Values Survey“: Das von Soziologen initiierte Projekt untersucht seit den achtziger Jahren etwa alle zehn Jahre weltweit unterschiedliche Wertvorstellungen. Was also lässt sich zum Unterschied zwischen Russen und Deutschen sagen?

Liberale Werte sind in Russland unterentwickelt

Zuletzt hat der bekannte Osteuropahistoriker Hans-Henning Schröder einen ausführlichen Vergleich gezogen und kam zu dem Schluss: Universelle Konzepte wie Ehrlichkeit, Anstand, Verantwortung vor der Gesellschaft und Gerechtigkeit werden in Deutschland wie Russland in gleicher Weise wahrgenommen. Bei politischen Wertehaltungen dagegen lassen sich klare Unterschiede feststellen. So hielten in Deutschland im Jahr 2006 knapp 90 Prozent der Menschen Demokratie für wichtig, in Russland waren es nur 60 Prozent. In Russland wünschte sich knapp die Hälfte der Menschen einen „starken Führer“, in Deutschland fanden diese Idee nur 15 Prozent gut. Aber lässt sich daraus schließen, dass den Russen nichts an der Demokratie liegt? Wohl kaum. Denn in der gleichen Umfrage antworteten 60 Prozent der Russen und 71 Prozent der Deutschen mit einem klaren Ja auf die Frage „Sind freie Wahlen ein wesentliches Merkmal von Demokratie?“ In einer Umfrage der Körber-Stiftung, die unter anderem Deutsche und Russen verglich, stimmten 2017 immerhin 71 Prozent der Russen der Aussage zu, eine funktionierende Demokratie sei ohne politische Opposition nicht denkbar. In Deutschland waren 89 Prozent dieser Meinung.

Unterentwickelt sind in Russland dagegen klassische liberale Werte: Laut dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada sehen nur 7 Prozent die Freiheit des Unternehmertums als wichtigsten Wert an, nur 15 Prozent die Garantie des Schutzes von Privateigentum. Grund dafür ist das patriarchalische Verhältnis des Staates gegenüber dem Bürger – das von den meisten aber akzeptiert wird. Seit den neunziger Jahren begegnen die Russen Privatunternehmern eher mit Misstrauen.

Krasse Unterschiede finden sich bei den Themen Geschlechterrollen und sexuelle Orientierung. Der Aussage „Männer sind bessere Politiker als Frauen“ stimmten 2006 die Hälfte der Russen zu, in Deutschland nur 18 Prozent. Noch lange vor dem „Gesetz gegen die Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ lehnten 60 Prozent der Russen Homosexualität klar ab, in Deutschland waren es 10 Prozent. Der Osteuropahistoriker Schröder erinnerte allerdings an das Meinungsbild in Deutschland Anfang der neunziger Jahre und kam zu dem Schluss: „Die Haltung zur Homosexualität ähnelt der in Deutschland 25 Jahre früher.“

Celli Nedelskaja, Beamtin im Kulturministerium, Rostow: „Russland ist maßlos und unvorhersehbar, das haben die Klassiker russischer Literatur wie Dostojewski in ihren Werken beschrieben. Das klingt zuweilen bedrohlich – auch für Russen selbst –, gilt aber auch für unsere Gastfreundschaft. Sie kennt auch keine Grenzen”

Ist Russland also nur spät dran? Brauchen die Russen einfach etwas mehr Zeit, um so zu werden wie wir? Eine Ahnung davon gibt die vor kurzem veröffentlichte Umfrage der Körber-Stiftung. Der Aussage „Partnerschaft und Liebe darf es nur zwischen Mann und Frau geben – und nicht zwischen Menschen gleichen Geschlechts“ stimmten 2017 noch 86 Prozent der Russen zu, aber nur 22 Prozent der Deutschen – und selbst im erzkatholischen Polen waren es mit 55 Prozent bedeutend weniger als in Russland. Ergo: In diesem Punkt haben sich die Russen seit der Umfrage von 2006 offenbar wenig geändert.

Kampf gegen die Bevormundung

Zu anderen Fragen hat sich die Wahrnehmung dagegen gewandelt, etwa zur Notwendigkeit einer „harten Hand“. Zu Putins Amtsantritt stand das Thema laut einer Umfrage des Lewada-Instituts ganz oben für die Russen: Deutlich mehr als die Hälfte der Befragten sahen 1999 den Kampf gegen das Verbrechen und die Stärkung der Ordnung als wichtigste Aufgabe – kein Wunder nach einem Jahrzehnt des Chaos. Im Dezember 2015 war das aber nur noch ein Viertel. Dagegen fordern die Menschen heute in erster Linie soziale Garantien von ihrer Regierung.

Aber woher kommt die Hartnäckigkeit der Russen, etwa bei der Homosexualität? Zum einen sind gesellschaftliche Entwicklungen keine Selbstläufer: Je nachdem, welche Weichen der Staat stellt – insbesondere wenn es ein autoritärer Staat mit Zugriff auf die Medien ist –, entwickelt sich die Gesellschaft. Zum anderen: Gerade im Kampf gegen die Bevormundung durch westliche Besserwisser haben die Russen ein identitätsstiftendes Element gefunden.

Mir fällt dazu eine Episode ein, die ich kurz nach der Jahrtausendwende erlebte. Da stand ich vor einem russischen Straßenmusiker in einer schäbigen Fußgängerunterführung im damals noch grau-provinziellen Sotschi am Schwarzen Meer. Ein paar Hundert Kilometer östlich tobte noch der zweite Tschetschenienkrieg, von Olympischen Spielen in Russland wagte damals niemand zu träumen. Jener langhaarige, sympathische Rocker spielte mit ganzer Seele russische Lieder auf seiner Gitarre, und zu seinen Füßen stand ein Schild mit der Aufschrift: „Erzähl mir nicht, wie ich zu leben habe. Hilf mir lieber materiell.“

Das „Erzähl mir nicht, wie ich zu leben habe“ ist in gewisser Weise zur Staatsdoktrin geworden. Der bekannte Moskauer Soziologe Grigori Judin hat das jüngst in einem Vortrag in Berlin ausgeführt: Vor etwa zehn bis zwölf Jahren seien die Russen ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung gewesen, die sie seit Gorbatschow zu hören bekommen hatten. „Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben“, erklärte Judin den Zuhörern des Hertie-Innovationskollegs in Berlin. Gerade zu dieser Zeit hätten die Eliten von den „besonderen Werten“ zu sprechen begonnen. Das Wort verspreche Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss. Kurzum: Russland rebellierte gegen den Westen, den allmächtigen und allwissenden Übervater. Manche sehen als Startpunkt dieser Rebellion Putins Wutrede gegen den Westen auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007.

Westlich-östliches Halbblutland

Der Berater des russischen Präsidenten, Wladislaw Surkow, der zu Recht als einer der geistigen Architekten der Putin-Ära gesehen wird, hat zu dieser Abkehr vom Westen vor wenigen Wochen einen fulminanten Text veröffentlicht, Titel „Die Einsamkeit des Halbbluts“. Darin bekräftigt er Russlands Sonderweg zwischen West und Ost. Vier Jahrhunderte habe Russland sich in Richtung Osten orientiert, seit dem 17. Jahrhundert  – angefangen mit dem Reformzar Peter dem Großen – dann nach Europa. Immer wieder habe man versucht, ein Teil Europas zu werden, sei aber zurückgewiesen worden, zuletzt nach dem Zerfall der Sowjetunion: „Selbst ein so herabgesetztes und erniedrigtes Russland passte nicht in die Wendung nach Westen.“ 2014 sei das Jahr der endgültigen Entscheidung gewesen. Und was dem Land nun bleibe, so Surkow, sei die Existenz als Halbblut: asiatisch und europäisch zugleich, fremd unter den Seinen, der Seine unter Fremden. „Russland ist ein westlich-östliches Halbblutland, mit seiner doppelköpfigen Staatlichkeit, seiner hybriden Mentalität, seinem zwischenkontinentalen Territorium, seiner bipolaren Geschichte ist es, wie es sich für ein Halbblut gehört, charismatisch, talentiert, schön und einsam.“

Katja Kovskaja, Sängerin, Moskau: „Ich komme aus Sankt Petersburg. Ich bin vor zehn Jahren nach Moskau gekommen mit einem verwirrten Kopf und 850 Rubeln in der Tasche. Heute bin ich ein klitzekleines Sternchen“

Alles Quatsch, mag man sagen. Aber was, wenn die Russen daran glauben? Und wenn die ewige russische Anomalie vom Westen ebenso gespiegelt wird? In der Körber-Umfrage vom vergangenen Jahr war knapp die Hälfte der Russen der Meinung, Russland gehöre nicht zu Europa; ebenso viele Deutsche waren derselben Meinung. Und etwa ein Drittel der Deutschen war überzeugt, das liege daran, dass Russland eben andere Werte habe.

Der israelische Universalhistoriker Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ die Wichtigkeit von Mythen auf dem Weg des Homo sapiens an die Spitze der Schöpfung. Nur Geschichten über gemeinsame Abstammung, eine gemeinsame Mission oder ein gemeinsames Schicksal machten es möglich, dass Menschen sich mit Gemeinschaften identifizieren, die größer sind als 150 Mitglieder. „Jede groß angelegte menschliche Unternehmung – angefangen von einem archaischen Stamm über eine antike Stadt bis zu einer mittelalterlichen Kirche oder einem modernen Staat – ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der Menschen existieren.“

Wunsch und Wirklichkeit

Und so wie man bei uns an das Narrativ des Westens und seine historische Mission glaubt, so glauben immer mehr Russen, dass Russland eben andere Werte habe als der Westen. Aber welche? Surkow lässt diese Frage offen. Um seinen moralischen Vektor zu definieren, zitiert Putin gerne den Philosophen Nikolai Berdjajew mit den Worten: „Der Sinn des Konservatismus besteht nicht darin, die Bewegung nach vorne und nach oben zu behindern, sondern darin, dass er die Bewegung zurück und nach unten behindert.“ Ähnlich nebulös blieb er in seiner Rede an die Nation 2013: Während in anderen Ländern die Normen der Moral auf den Kopf gestellt und die Gesellschaft gezwungen werde, „die Gleichwertigkeit von Gut und Böse zu akzeptieren“, verteidige Russland die „traditionellen Werte“, etwa die traditionelle Familie. Ohne diese Werte degradiere man eine Gesellschaft. Die „sogenannte Toleranz“ bezeichnete er damals als „geschlechtslos und unfruchtbar“. Konkret fand sich dieser beworbene Schutz der traditionellen Familie im Sommer 2013 in einem Gesetz wieder, welches die „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ unter Strafe stellte – was de facto ein Meilenstein gegen die Akzeptanz Homosexueller in Russland war.

In Russland steht heute dem Wunsch oft genug die Wirklichkeit entgegen, und dieses Missverhältnis mag erklären, warum die Russen so empfindlich auf Kritik aus dem Ausland reagieren. So wird der Wert der Familie heute in Russland gerne in Sonntagsreden hochgehalten – denn in den neunziger Jahren war die Familie in einer erodierenden Gesellschaft das Einzige, was noch Halt geben konnte. Aber die russische Ehe hält den Erwartungen nicht stand: Mehr als 60 Prozent der Ehen in Russland werden geschieden, in Deutschland sind es nur 40 Prozent. Der „Garant“ selbst, Wladimir Putin, trennte sich 2014 von seiner Frau Ljudmila. Ähnliches gilt für die Zahl der Abtreibungen: In Deutschland gab es 2017 gut 100 000 Schwangerschaftsabbrüche, in Russland waren es offiziell 600 000. Immerhin sinkt die Zahl seit Jahren beständig. Die Russen präsentieren sich in Umfragen gerne als christlich-orthodox, 2009 waren das einer Lewada-Umfrage zufolge immerhin 80 Prozent der Befragten. Aber nur 6 Prozent gehen wenigstens einmal im Monat in den Gottesdienst, nur 54 Prozent sind überhaupt mit dem Inhalt der Bibel vertraut.

Hetzte gegen Homosexuelle statt soziale Gerechtigkeit

Was die Russen jedoch seit Jahren eint, ist der Patriotismus – emsig unterstützt vom Staat und seinen Medien. Aber während der Stolz der Russen im Westen gern als leere Floskel dargestellt wird (mit dem süffisanten Verweis auf die russische Elite, die ihre Kinder lieber im westlichen Ausland studieren lässt), zeichnen renommierte Soziologen wie Wladimir Magun von der ­Higher School of Economics in Moskau ein anderes Bild. Er befragt die Russen seit mehr als zwei Jahrzehnten dazu, ob sie sich für bestimmte Lebensbereiche schämen. Auf einer Skala von eins bis fünf sank der Wert von 4,7 im Jahr 1996 auf 2,7 im Jahr 2015. Auf gut Deutsch: Mitte der neunziger Jahre schämten sich die Russen praktisch für alles, was in ihrem Land vor sich ging. Im Jahr 2015 waren sie stolz auf den internationalen Einfluss ihres Landes, auf Sport, Kunst und Wissenschaft – und nicht zuletzt auf ihre Armee. Wenig Grund, stolz zu sein, bieten dagegen die soziale Gerechtigkeit im Land und der Zustand von Demokratie und Wirtschaft.

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Damit beweisen die Russen einen gesunden Realismus. Sie sind sich vollkommen bewusst, dass ihr Land auch im Jahr 18 der Ära Putin etwa im Vergleich zu Deutschland in vielen Punkten unterlegen ist, von der Qualität der Straßen über die Demokratie bis zur Lebenserwartung. Aber hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Die Russen vergleichen ihr heutiges Leben mit jenem vor 20 Jahren und kommen deshalb zu ganz anderen Schlüssen als der klassische westliche Beobachter. Im westlichen Mainstream sieht das Narrativ so aus: Der Geheimdienstler Putin hat aus einer lebendigen Demokratie ein autoritäres System geformt, bereichert sich und ermöglicht auch seinen engsten Mitstreitern, sich zu bereichern. Anstatt die Wirtschaft zu modernisieren, hetzt er seine Bürger gegen Homosexuelle auf. Mit seinem Einmarsch in Georgien hat er das internationale Rechtssystem schon einmal herausgefordert, aber weil der Westen so schwach reagierte, annektierte Putin sechs Jahre später die Krim und ließ seine Truppen in die Ostukraine einmarschieren. Der gesamte Wohlstand der Putin-Jahre basiert nur auf dem hohen Ölpreis. Seitdem dieser sinkt, geht es den Russen immer schlechter, aber mithilfe militärischer Abenteuer (Stichwort Syrien) lenkt Putin davon ab – und unterdrückt jedwede Opposition.

„Wenigstens herrscht Ordnung“

Das Narrativ des Durchschnittsrussen (unterwegs im Auto) geht so: „Schau dir die Straßen an. Vor 15 Jahren waren das Betonpisten. Die Städte sind voll mit Einkaufszentren, Kinos, Geschäften. Schau dir an, wie viele Leute Autos fahren – und versuch mal in Moskau einen Lada zu finden! Und wie viele Russen jetzt in der Türkei oder Ägypten ihren Urlaub verbringen. Die Renten sind nicht hoch, aber höher als früher – und sie werden pünktlich ausgezahlt. Und was die Homosexuellen angeht: Die können machen, was sie wollen, aber sollen uns in Ruhe lassen. Gay­pride-Demos wollen wir hier eben nicht haben. Putin ein Diktator? Besser als die sogenannte Demokratie, die wir in den Neunzigern hatten. Da herrschte reinstes Chaos, und das Land ging zugrunde. Klar sieht es bei uns schlechter aus als in Deutschland. Aber immerhin herrscht Ordnung. Und was, wir brechen internationales Recht? Wer bitte schön hat denn den Irakkrieg angefangen? Wer hat den Arabischen Frühling gefördert und damit eine ganze Region in Brand gesteckt? Und wegen der Krim: Klar war das nicht ganz sauber, aber mal ehrlich – die war eben schon immer russisch.“

Das trifft in vielen Punkten sogar zu: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag im Jahr 2000 bei 1700 US-Dollar, Ende 2016 waren es 8700 (zwar nur noch die Hälfte von 2013, aber das geht vor allem auf den Verfall des Rubels zurück). Auch die Realeinkommen sind seit 2000 um mehr als das Zweieinhalbfache gewachsen – wiewohl sie in den vergangenen Jahren wieder leicht fielen. Die Arbeitslosigkeit sank in 18 Jahren von 10 auf 5 Prozent. War die Lebenserwartung der Russen bis Mitte der neunziger Jahre auf 65 gefallen, liegt sie heute mit fast 71 so hoch wie nie. Ein ähnliches Bild bietet die Geburtenrate. Bei allen politischen Einschränkungen, die das System Putin gebracht hat: All diese Faktoren lassen sich nur aus der Ferne ignorieren, aus der Nähe aber nicht.

Der erhobenen Zeigefinger lieber wieder einstecken

Auf dieser Ebene könnte man mit den Russen zusammenkommen. Die meisten würden der Aussage zustimmen: Ihr habt eure demokratischen Freiheiten der wirtschaftlichen Stabilität geopfert. Und Russland ist ja nicht das einzige Land, das in den zurückliegenden Jahren einen Sonderweg beschritten hat und nicht so recht am deutschen Wesen genesen will. Da sind die Ungarn und die Polen, für die der Nationalstaat kein Anachronismus ist, da ist die Türkei – immerhin unser Nato-Partner –, die auf autoritären Pfaden wandelt. Und nicht zuletzt sind da die USA, die mit ihrer jüngsten Präsidentenwahl den liberalen Zeitgeist ins Wanken brachten. Auch mit diesen Ländern kommen wir ja irgendwie zurecht.

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Anstatt in Moskau schon mit erhobenem Zeigefinger aus dem Flieger zu treten, könnten wir sagen: Okay, solange den Russen diese Richtung passt, solange ihnen ökonomische Stabilität wichtiger ist als echte Demokratie, müssen wir das akzeptieren. Der Soziologe Judin hat in Berlin ähnlich argumentiert – in Anlehnung an sein Narrativ vom sich auflehnenden Sohn: „Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf ,allgemein-menschliche Werte‘ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.“ Die Russen wissen von den Unzulänglichkeiten ihres Landes, aber von der Besserwisserei westlicher Publizisten und Politiker haben sie genug. Gerne zitieren sie dazu ihren Nationaldichter Alexander Puschkin, der 1926 schrieb: „Natürlich verachte ich mein Vaterland von Kopf bis Fuß, aber es ärgert mich, wenn ein Ausländer dieses Gefühl mit mir teilt.“ Dass der Graben so tief wie nie erscheint, liegt auch daran, dass man beim Lesen mancher Kommentare den Eindruck hat, die Autoren seien froh darüber, wieder die alte Negativfolie aus dem Kalten Krieg zu haben, vor der man die eigenen Errungenschaften besser sehen kann: Hier der erfolgreiche Westen – dort der korrupte, fortschrittsfeindliche, wirtschaftlich abgehängte Osten.

Zweifellos sind Putins konservative Postulate und die Aushöhlung der Demokratie im eigenen Land eine Herausforderung für den (zuletzt etwas erlahmenden) liberalen Zeitgeist im Westen. Aber ebensolche Herausforderungen stellen Polen, Ungarn, die Türkei oder Saudi-Arabien dar. Die rhetorischen Pirouetten über unterschiedliche Werte täuschen zuweilen über den Bereich hinweg, wo tatsächlich die Interessen aufeinanderprallen: die Geopolitik.

Das Konzept der multipolaren Welt

Um uns an dieser Stelle langwierige Diskussionen über die Frage zu ersparen, ob der Westen Russland eine Nichterweiterung der Nato nach Osteuropa versprochen hat – die Antwort lautet: nein. Natürlich gab es Gespräche zu diesem Thema, aber schwarz auf weiß und mit Unterschrift und Siegel hat weder Gorbat­schow noch irgendjemand anderes eine Zusicherung erhalten. Ungeachtet dessen haben die meisten Russen die Jahre seit 1991 geopolitisch als eine Demütigung empfunden, insbesondere durch die Amerikaner, die den Wegfall der zweiten Weltmacht dazu nutzten, zum allmächtigen benign hegemon zu werden und ihren Willen zur Not auch ohne UN-Mandat durchzusetzen: angefangen bei der Bombardierung Belgrads über den Irakkrieg bis zur Beseitigung von Muammar al Gaddafi. Russland fiel die Rolle des Beobachters zu, der sich im Sicherheitsrat verhalten konnte wie er wollte – im Feld schufen der Hegemon und seine Verbündeten Fakten.

Seit etwa einem Jahrzehnt gehen russische Politologen und Politiker weltweit hausieren mit ihrem Konzept der „multipolaren Welt“, in der Großmächte wie die USA, Russland und China, aber auch die EU in ihren Regionen als Ordnungsmächte auftreten – und sich gleichzeitig aus den Einflusszonen der anderen heraushalten. Klingt erst einmal nicht schlecht, aber bei näherem Hinsehen verweisen Experten darauf, dass daraus eine weit unsicherere Welt entstehen würde, als wir sie heute kennen. Denn wer bestimmt, ab wann man einer der Big Player mit besonderen Rechten ist? Wo endet die Einflusssphäre der einen, wo beginnt die der benachbarten Großmacht? Das Konzept riecht nach mehr Krieg.

Eine gemeinsame Freihandelszone

Russland hat damit jedoch eine Erzählung gefunden, die von China über Indien bis zur EU auf offene Ohren trifft – zumindest bei jenen, denen die Übermacht der USA schon immer ein Dorn im Auge war. Gleichzeitig verfolgt Russland in westliche Richtung damit seinen alten Traum, die Europäer aus der festen Allianz mit den transatlantischen Partnern zu lösen – allen voran die Deutschen. Das versuchte zuletzt Michail Gorbatschow mit seinem Traum vom „gemeinsamen Haus Europa“, in dem für die Amerikaner kein Platz vorgesehen war. Und auch Wladimir Putin schlug noch 2010 einen „gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok“ vor. Die „Vision“ dieses Wirtschaftsraums hat es immerhin in den aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft. Aber mehr auch nicht. Selbst wenn der Faktor Trump derzeit die Europäer an den USA zweifeln lässt – an den Grundfesten der transatlantischen Partnerschaft wagt niemand zu rütteln.

Eine gemeinsame Freihandelszone könnte tatsächlich eine positive Agenda schaffen, die zumindest die Europäer und die Russen wieder auf den Weg zur Kooperation zurückbringt. Wären da nicht die zwei Hinkelsteine Krim und Ostukraine. An ihnen hängen die Sanktionen sowie die russischen Gegensanktionen. Und sie werden für die nächsten Jahre jedes Weiterkommen verhindern. Aber ebenso hindern uns am Weiterkommen Illusionen darüber, dass Russland sich in der Ära nach Putin grundsätzlich verändern, wieder auf den rechten Weg kommen und bald Teil des Westens und endlich wie wir werden wird. Surkows Narrativ vom einsamen Halbblut entspricht der russischen Identität heute womöglich mehr, als wir es uns vorstellen können.

Fotos: Isabela Pacini stammt aus Brasilien und lebt in Hamburg. Für unsere Titelgeschichte hat sie die unterschiedlichsten Menschen an den Austragungsorten der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft in Russland fotografiert und mit ihnen gesprochen

Dies ist die Titelgeschichte aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.













 

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