Rückeroberung von Aleppo - Die russisch-syrische Methode

Russland und die syrische Armee haben Teile von Aleppo zurückerobert. Hunderttausende Zivilisten sitzen fest, die Lebensmittel werden knapp. Die Allianz bietet vier Fluchtrouten. Doch die Bewohner sind misstrauisch

Mit Unterstützung Russlands hat die syrische Armee Teile von Aleppo zurückerobert / picture alliance
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Martin Gehlen ist Journalist und berichtet aus der arabischen Welt.

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Ihr wichtigstes Kriegsziel verloren Wladimir Putin und Baschar al-Assad nie aus den Augen – die Rückeroberung Aleppos. Die UN-Gespräche in Genf dienten ihnen als Deckmantel. Bisweilen mussten sie ihre Offensive durch kurze, von Washington erzwungene Feuerpausen unterbrechen.

Mitte Juli war es dann soweit: Den beiden Alliierten gelang es erstmals seit vier Jahren, die letzte Nachschubstraße nach Aleppo zu kappen. Die Rebellenviertel der zweitgrößten Stadt Syriens sind nun komplett von der Außenwelt abgeschnürt. Seitdem versuchen die russisch-syrischen Militärplaner, Panik unter den Eingeschlossenen zu schüren, um sie gefügig zu machen. Hubschrauber warfen Tausende Plastikbeutel mit Marmelade, Tee und Zucker ab. Unter den Hilfsgütern befanden sich auch Flugblätter, die die Bewohner auffordern, ihre Stadtbezirke zu evakuieren.

Viele misstrauen den vier angelegten Fluchtkorridoren

Auf den Zetteln sind drei Fluchtrouten für Zivilisten markiert sowie eine weitere für bewaffnete Rebellen. Die vier Korridore enden auf Territorien des Regimes. Moskaus Verteidigungsminister Sergei Shoigu etikettierte das Ganze als „großangelegte humanitäre Operation“. Damaskus sicherte allen Kämpfern Amnestie zu, wenn sie sich ergeben und ihre Waffen aushändigen. Die meisten jedoch misstrauen dem Regime. Sie fürchten, eine Kapitulation mit Gefängnis oder Tod zu bezahlen.

„Rausgehen oder nicht – jede Minute diskutieren wir darüber“, zitierte die „New York Times“ den örtlichen Fotographen Luay Barakat. Mit ihrer Aktion wollten Russland und das Assad-Regime der internationalen Gemeinschaft lediglich Sand in die Augen streuen, argwöhnte ein anderer Aktivist. Für die eingeschlossenen Menschen aber bedeute diese Ankündigung, „dass uns das Schlimmste noch bevorsteht“.

Baschar al-Assad triumphiert – eine komplette Rückeroberung Aleppos ist in greifbare Nähe gerückt. Den Rebellen dagegen droht eine verheerende Niederlage. Dies könnte eine entscheidende Wende in dem mehr als fünfjährigen Bürgerkrieg bedeuten. Das Regime bräuchte nicht mehr ernsthaft über eine Teilung der Macht zu verhandeln. Und die verbliebenen 300.000 Bewohner im aufständischen Teil der einstigen Handelsmetropole wären den Machthabern hilflos ausgeliefert.

Krankenhäuser sind zerstört

Erst Anfang der Woche hatten die Verteidiger zwei weitere Vororte an die Regierungstruppen verloren. Sie wurden gleichzeitig von kurdischen YPG-Einheiten angegriffen, die an anderen Fronten mit US-Spezialkräften kooperieren. Eine Rückeroberung der für den Ostteil Aleppos lebenswichtigen Castello-Straße ist inzwischen völlig illusorisch. Mitte der Woche konnte das Assad-Regime auf dem Nachschubkorridor zur türkischen Grenze erstmals wieder eigene Kontrollpunkte installieren.

Der Straßenbelag ist durch den permanenten Bombenhagel so stark zerstört, dass normale Autos ihn nicht mehr befahren können – geschweige denn Lastwagen mit Lebensmitteln oder Medikamenten. „Es ist ein Desaster, das die Menschen in Aleppo in jedem Winkel ihres Lebens betrifft“, zitiert die Website „Syria direct“ den lokalen Reporter Ammar al-Halabi. Die Lebensmittelpreise steigen ins Astronomische. Auf den Märkten häufen sich die Handgemenge. Frisches Obst und Gemüse sind praktisch nicht mehr zu bekommen, während Regime und russische Luftwaffe die Wohnviertel rund um die Uhr bombardieren.

Allein in dieser Woche wurden vier weitere Kliniken beschädigt. Die Berichte von Mitarbeitern seien „entsetzlich“, erklärte die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“. Deren letzte Hilfslieferung erreichte die stark zerstörte Stadthälfte Ende April. Bis zu 50 Verletzte pro Tag würden momentan in die verbliebenen Krankenhäuser gebracht. „Wenn die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen nicht aufhören, wird es im Osten Aleppos bald keinerlei medizinische Versorgung mehr geben.“ Der Zivilschutz beschwöre die Familien, „in ihren Häusern zu bleiben und alle Lichter zu löschen“, berichtet Abdelkareem al-Omar, Helfer aus dem Stadtteil Atareb. Dort gebe es „kein Leben mehr. Nur noch Trauer, Verzweiflung und Angst.“

Al-Nusra-Front spaltet sich von Al Qaida ab

Derweil gab die radikale Al-Nusra-Front bekannt, sie werde ihre Verbindung zur Al-Qaida-Führung in Afghanistan offiziell kappen und sich in „Syrische Eroberungsfront“ („Jabhat Fateh al-Sham“) umbenennen. Zur Begründung erklärte Kommandeur Abu Mohammed al-Jolani in einer Video-Botschaft, er wolle den Vereinigten Staaten und Russland den Vorwand nehmen, weiterhin die Stellungen seiner Rebelleneinheiten zu bombardieren. Der Schritt, der sich seit Tagen ankündigte, ist ein primär taktischer Schachzug, zumal al-Jolani damit keine ideologische Neuausrichtung verknüpfte. Der Chef des US-Inlandsgeheimdienstes, James R. Clapper, sprach dann auch von einer „PR-Aktion“.

Die radikalen Rebellen wollten lediglich mehr moderate Kämpfer anlocken und weniger Luftangriffe auf sich ziehen. Die Al-Nusra-Front kommandiert schätzungsweise 5000 bis 10.000 Extremisten. Sie ist – wie der „Islamische Staat“ – von der im Februar ausgerufenen Waffenruhe ausgeschlossen. Vor drei Wochen verständigten sich die Vereinigten Staaten und Russland darauf, ihre Militäraktionen gegen die beiden Terrorgruppen zu intensivieren und enger zu koordinieren.

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