Reislamisierung der Türkei - Ein neuer Staat

Der türkische Präsident baut sein Land radikal um. Erdogans historische Mission besteht darin, das säkulare Erbe zu tilgen. Der Schriftsteller Peter Schneider hat gerade mehrere Wochen in Istanbul verbracht. Beobachtungen und Eindrücke aus einer Stadt, deren liberaler Geist verschwindet

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Alles deutet darauf hin, dass Recep Erdogan nichts Geringeres vorhat, als das Erbe des Staatsgründers Atatürk Schritt für Schritt abzuschaffen / picture alliance
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Autoreninfo

Peter Schneider ist Schriftsteller und lebt in Berlin. 1991 gründete er mit Freunden die Initiative „Courage gegen Fremdenhass“

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Die Terroranschläge am Weihnachtsmarkt in Berlin und in der Silvesternacht im Klub Reina in Istanbul weisen neben vielen Gemeinsamkeiten einen entscheidenden Unterschied auf. Der Anschlag in Berlin hat die Deutschen in Trauer und Abscheu vereint. Das Massaker in Istanbul dagegen hat eine Zerstörungskraft, die über die Ermordung und Verstümmelung von mehr als 100 Opfern weit hinausgeht. Noch in derselben Nacht wurden in den türkischen sozialen Netzwerken klammheimliche bis offene Beifallsbekundungen laut. Zwei Tage vor dem Anschlag hatte die türkische Religionsbehörde Diyanet erklärt, Silvesterfeiern seien mit „unseren Werten“ nicht vereinbar. Am Abend des 1. Januar kommentierte ein regierungsnaher Journalist den Anschlag in der Silvesternacht im Fernsehen: „Wir sind gegen Silvester – sollen sie Attentate verüben, wo sie wollen.“

Zehn Tage zuvor war ein Streit an der deutschen Schule in Istanbul durch die Medien gegangen. In ersten Darstellungen hieß es, die türkische Schulleitung habe es den 35 deutschen Lehrern an dieser Schule untersagt, ihre türkischen Schüler über das christliche Ritual des Weihnachtsfests zu unterrichten – obwohl der Vertrag zwischen Deutschland und der Türkei über diese Schule ausdrücklich vorsieht, die Schüler mit den Kulturen beider Länder bekannt zu machen. Das Auswärtige Amt beeilte sich, den Konflikt als „Missverständnis“ zu bezeichnen und erklärte, es sei ausgeräumt. 

Abgrenzung vom säkularen Erbe

Wer den Prozess der Abwendung vom Westen und der Reislamisierung der Türkei aus der Nähe verfolgt, wird auf diese diplomatische Beschwichtigung nicht allzu viel geben. Es kann gar nicht anders sein, als dass dieser Konflikt demnächst wieder auf den Tisch kommt. Der Anschlag im Reina wird eben nicht – wie der auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin – als ein ungeheuerliches Verbrechen gesehen, in dessen Verurteilung sich alle Kräfte der Gesellschaft einig sind. Er bringt mit extremen Mitteln die Realität einer gesellschaftlichen Spaltung zwischen einer säkularen großstädtischen Minderheit und einer zunehmend religiös ausgerichteten Mehrheit von Erdogan-Anhängern auf den Punkt – und vertieft sie.

In Deutschland, speziell in Berlin, haben sich Multikultistrategen seit Jahrzehnten hinter vorgehaltener Hand darüber beklagt, dass man es kaum mit Einwanderern aus Istanbul und Ankara, sondern hauptsächlich mit Migranten aus dem bäuerlichen Anatolien zu tun habe. Dieses Schicksal teilt die Metropole Istanbul längst mit Berlin. Im Jahre 1975 lebten in Istanbul 2,5 Millionen Menschen. Bis 2007 hatte sich die Bevölkerungszahl auf knapp 11,2 Millionen mehr als vervierfacht. Inzwischen sollen sogar 15 Millionen Menschen in der Stadt leben. Und die riesige Mehrzahl der Zuwanderer kommt aus Anatolien. 

Alles scheint wie immer

Ich habe die Monate von Mitte September bis Ende November 2016 als Stipendiat der Kulturakademie Tarabya in Istanbul verbracht – in einer Zeit also, in der der letzte große Terroranschlag am Flughafen Istanbul-Atatürk knapp drei Monate zurücklag. Ich hatte die jüngsten deutschen Nachrichten über die Türkei im Kopf und erwartete eine starke Polizeipräsenz auf den Straßen, womöglich Panzer, halblaut geführte Gespräche in den liberalen Bars und Restaurants, ein eingeschränktes Nachtleben. 

Nichts davon traf zu. Auf den ersten Blick jedenfalls ging das Leben unbeirrt seinen Gang wie die Prozession der Containerschiffe, die den Bosporus durchfahren. Nachts um zwei herrschte in den Stadtvierteln, die für ihr Nachtleben bekannt sind, Hochbetrieb – nicht einmal die Schönhauser Allee in Berlin weist um diese Zeit ein vergleichbares Getümmel auf. Durch die Straßen und Gassen bewegten sich dichte Ströme von jungen Leuten mit dem Handy am Ohr, die noch irgendeiner zweiten oder dritten Verabredung nachgingen und offenbar auch ohne Alkohol fröhlich waren. Die jungen Einheimischen, mit denen ich auf Englisch oder Deutsch ins Gespräch kam, waren außerordentlich freundlich und zutraulich. Kaum jemand senkte die Stimme, wenn er auf die Regierung schimpfte. Die Klubs, die sich auf Istanbuls Dachterrassen eingerichtet haben, schlossen erst gegen Morgen. Insgesamt hatte ich nicht den Eindruck, einer bedrückten und gelähmten Bevölkerung zu begegnen. 

Abschaffung der Demokratie

Es gehört zur Arbeitsweise von Nachrichtenmedien, dass sie sich immer nur auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit konzentrieren. Sie machen nicht sichtbar, wie weit dieser Ausschnitt – in diesem Fall der Ausnahmezustand in der Türkei – von den Bürgern wahrgenommen wird. Dabei stimmte schon damals alles, was über die Abschaffung der Demokratie in der Türkei verbreitet wurde. Weit über 100 Fernsehstationen waren geschlossen, 170 Zeitungen und Magazine verboten worden, 146 Journalisten sitzen derzeit in türkischen Gefängnissen – und es werden täglich mehr.

Zehntausende von Lehrern, Dozenten, Richtern, Staatsanwälten, Angehörigen der Armee wurden entlassen, rund 40 000 von ihnen sitzen in türkischen Gefängnissen – und täglich werden es mehr. 

Weniger bekannt war und ist, was die Entlassung für die Betroffenen bedeutet. Mit ihren Stellungen verlieren sie nicht nur sofort ihre Gehälter und Pensionen; auch ihre akademischen und sonstigen Titel werden ihnen aberkannt, sodass sie in ihren erlernten Berufen keine Anstellung mehr finden. Sie stehen von einem Tag auf den anderen vor dem Nichts. Auch die Möglichkeit, sich ins Ausland abzusetzen, besteht für viele nicht mehr. Etwa 80 000 Pässe sind von der Regierung für ungültig erklärt worden, was die Betroffenen oft erst erfahren, wenn sie einen bereits gebuchten Flug ins Ausland antreten wollen. 

Oft genügt eine Denunziation, um eine Entlassung auszulösen. Die stereotypen Begründungen der Behörden – Teilnahme an einer Verschwörung gegen den Staat, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – können praktisch nicht angefochten werden. Zudem gestattet der Ausnahmezustand es den Behörden, einen „Verdächtigen“ bis zu 30 Tage lang in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen – der Haftrichter kann die Frist beliebig oft verlängern und tut es. Auf diese Weise können Monate und auch Jahre vergehen, bis der „Verdächtige“ eine Anklageschrift zu Gesicht bekommt. 

Unabhängige Zeitungen in Gefahr

Wie kann es angesichts solcher existenziellen Eingriffe in die Demokratie sein, dass die große Mehrheit der Bürger kaum Notiz davon nimmt? Die auf der Hand liegende Antwort ist, dass sie von diesen Eingriffen nicht viel erfahren. Außer der republikanischen Presse-Ikone Cumhuriyet gibt es kaum noch unabhängige Zeitungen – und auch das Überleben dieser Zeitung ist in Gefahr. 

Die zweite Antwort ist komplizierter: Der weitaus größere Teil der Bevölkerung ist vom – gerade wieder erneuerten – Ausnahmezustand nicht betroffen und billigt ihn im Zweifelsfall. Der Ausnahmezustand betrifft eine Armee, die durch den gescheiterten Putsch geschwächt ist, ein Justizwesen, das der Verstrickung in den Putsch verdächtigt wird, und die Gesamtheit der akademischen und intellektuellen Elite. 

Die Repression hat unter den potenziell Betroffenen ein Klima der Angst und der Selbstzensur geschaffen. Vor einer Lesung in einer Universität wurde ich von den Veranstaltern gefragt, was ich denn lesen wolle. Ein Kapitel aus meinem Buch „Rebellion und Wahn“, antwortete ich. Ob in dem Kapitel das Wort „Demonstration“ eine Rolle spiele, wurde ich gefragt. Ja, aber es handele sich um eine Demonstration, die vor fast 50 Jahren in Berlin stattgefunden habe. Das gehe auf keinen Fall, erklärten mir die Veranstalter. Denn egal in welchem Zusammenhang das Wort auftauche, es könne schwerwiegende Reaktionen auslösen. Eine einfache Denunziation durch einen Anwesenden genüge, um Entlassungen auszulösen. 

Selbstzensur greift um sich

Ob es denn in meinem Buch keine Liebesgeschichte gebe, fragte man mich. Doch, erwiderte ich, aber die spiele nur eine Nebenrolle. Ob ich bereit wäre, aus dieser Liebesgeschichte etwas zu lesen. Aber halt, unterbrachen die Einladenden sich, auch eine Liebesgeschichte könne Schwierigkeiten bereiten. Ob darin explizite erotische Szenen vorkommen würden? Wir einigten uns – unter Weglassung einiger Passagen – auf die Liebesgeschichte. Auf diese Weise wird auch der Gast in die um sich greifende Selbstzensur einbezogen. Denn natürlich kann es in einem solchen Fall nicht darum gehen, dass der durch seinen Pass geschützte Besucher aus dem Ausland „Mut“ beweist, wenn er damit die Existenz seiner Gastgeber gefährdet. 

Im Schutz des wieder verlängerten Ausnahmezustands findet ein radikaler Umbau der Gesellschaft statt. Unmittelbar nach dessen Verkündung in Reaktion auf den Putsch hat Erdogan die Schließung von mehr als 1000 Privatschulen und vielen Wohltätigkeitsvereinen, Universitäten und Gewerkschaften angeordnet, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden. Gleichzeitig werden gegen den Widerstand der Eltern und der Lehrergewerkschaft immer mehr staatliche Schulen in religiöse Schulen (in sogenannte Imam-Hatip-Schulen) umgewandelt – als Jugendlicher hat Erdogan eine solche Schule besucht. In diesen Schulen stehen drei zusätzliche Fächer auf dem Unterrichtsplan: der Koran, das Leben des Propheten und Arabisch. Die Mädchen in diesen Schulen müssen Kopftuch tragen. 

Strenge Geschlechtertrennung schon im Kindergarten

Bei einer Führung durch das Stadtviertel Fatih zeigte uns die Stadtführerin eine unauffällige Moschee in einer Seitenstraße, die auch als Kindergarten diente. Dort bereiteten zwei Betreuerinnen gerade eine Gruppe von Drei- bis Fünfjährigen für den Gang zur Sultan-Selim-Moschee vor. Die Jungen wurden von den Mädchen getrennt und dazu angehalten, die Hände auf die Schultern des jeweils vorangehenden Kindes zu legen. So machten sich die Vorschulkinder, streng nach Geschlechtern getrennt, auf den Weg. 

Die Grundschüler hören schon in der ersten Klasse, dass die Bosporusbrücke, auf der die Bürger Istanbuls den Panzern der Putschisten todesmutig entgegentraten, in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ umbenannt ist, und dass „der große Führer“ Erdogan das Vaterland gerettet habe. Kein Zweifel, Erdogan will eine fromme und gehorsame Generation heranziehen.

Wer die von Erdogan initiierte neue Moschee auf der asiatischen Seite besucht, kann nicht übersehen, wohin Erdogan sein Land führen möchte. Die Moschee bietet Raum für 50 000 Gläubige und hat nach dem Vorbild der Moschee von Sultan Süleyman aus dem 16. Jahrhundert sechs Minarette – die höchsten der Welt. Mit diesem Bauwerk setzt Erdogan sich selbst ein Denkmal und stellt die wichtigste Hinterlassenschaft Atatürks – die Trennung von Staat und Religion – infrage. Auch andere laute und leise Signale, die er selbst und seine Minister gezielt setzen – Frauen sollen in der Öffentlichkeit nicht mehr laut lachen, sie sollen mindestens drei Kinder haben, aber ihren Bauch während der Schwangerschaft geziemend verbergen, Studentinnen und Studenten sollen in getrennten Wohnheimen leben –, zeigen in diese Richtung. 

Erdogan setzt sich selbst ein Denkmal

Alles deutet darauf hin, dass Erdogan nichts Geringeres vorhat, als das Erbe des Staatsgründers Atatürk Schritt für Schritt abzuschaffen und sich an dessen Stelle zu setzen. Eine gewaltige Aufgabe. Denn die Spuren dieses Vorgängers sind in der Türkei noch überall sichtbar: Auf jedem zweiten öffentlichen Platz steht eine Statue des Staatsgründers, in jedem Amtszimmer, in jeder Schule und Universität hängt ein Bild von ihm, Zitate von Atatürk sind immer noch Volksgut. Ich war überrascht davon, wie viele der von Atatürk durchgesetzten Errungenschaften der Aufklärung in der Türkei nominal immer noch gelten: das Wahlrecht und die Gleichberechtigung der Frauen, die Abschaffung des alten islamischen Scheidungsrechts, die Trennung von Staat und Religion, die Förderung der Naturwissenschaften. Bis zu Erdogans Machtantritt war die Türkei das einzige Land mit einer muslimischen Mehrheit, das seit knapp 100 Jahren eine säkulare Tradition vorweisen konnte. 

Erdogan scheint dazu entschlossen, die Westausrichtung der Türkei rückgängig zu machen und das Land mit dem Gesicht in Richtung islamischer Osten zu drehen. Die Frage, ob dieser Mann ein vom Westen enttäuschter Pragmatiker oder ein verkappter Islamist ist, ist letztlich egal. Fest steht, dass er das Land in einen Gottesstaat verwandelt und die Reformen Atatürks – besonders die Trennung zwischen Staat und Religion – widerruft. Das ist seine ganz offenbar historische Mission.

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.  

 

 

 

 

 

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