Rede des Bundespräsidenten - Steinmeiers Russland-Komplex

Die Rede des Bundespräsidenten anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion bezeugt ein pathetisches Russlandbild. Das deutsche Schuldbewusstsein, das nicht nur Steinmeier artikuliert, negiert die politisch-strategische Instrumentalisierung dieser Last durch Putin.

Frank-Walter Steinmeier hält die Gedenkrede im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst Foto: Jörg Carstensen/dpa
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Autoreninfo

Maximilian Terhalle ist Politikwissenschaftler und derzeit Visiting Professor of Strategic Studies am King's College in London. Zu seinen Veröffentlichungen gehören unter anderem „The Transition of Global Order” (Palgrave 2015) und „The Munich Consensus and the Purpose of German Power” in Survival (2016).

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Einem deutschen Spitzenpolitiker würde es wohl nicht über die Lippen kommen, Wladimir Putin als Mörder zu bezeichnen. Der amerikanische Präsident hat dies jedoch kürzlich getan. Ob der ukrainische Botschafter sich dieses Verdikt vielleicht durch den Kopf hat gehen lassen, bevor er die jüngste Einladung von Bundespräsident Steinmeier zur Gedenkstunde für den Beginn des Zweiten Weltkriegs ausschlug, hat er nicht gesagt. Dass ihm aber angesichts des russischen Kriegs in der Ostukraine ausreichend unwohl gewesen wäre, neben dem russischen Botschafter harmonisch zu parlieren, hat er unmissverständlich deutlich gemacht.

Wie kürzlich der grüne Ko-Vorsitzende Habeck, als dieser Defensivwaffen für die Ukraine ins Spiel brachte (nur, um dann sofort von seiner Partei wieder in die Defensive gedrängt zu werden), hat jetzt auch der ukrainische Botschafter, so scheint es, an einem wunden Punkt des amtlichen deutschen Geschichtsbewusstseins gerührt: dem Stockholm-Syndrom des Berliner Russlandbildes. Dieses Russlandbild nun mit offiziellem Pathos bedient hat Steinmeier, ehedem Chef des Bundeskanzleramts unter Gerhard Schröder, der seinerseits als Vorstand von Nordstream 2, fürstlich vom Kreml entlohnt, entscheidend zum Erfolg der Pipeline beigetragen hat.

Unglaubwürdige Abschreckung

Dass Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff, ist eine historische Tatsache. Aber wenn er sagt, „die Verbrechen, die von Deutschen in diesem Krieg begangen wurden, lasten auf uns ... bis heute“, dann negiert er die politisch-strategische Instrumentalisierung dieser Last durch Putin zu gegenwärtigen Zwecken, weil ihn sein Russland-Komplex dagegen immunisiert hat.

Damit steht er nicht allein. Denn solches deutsche Schuldbewusstsein beeinflusst nicht unwesentlich die offizielle Haltung der deutschen Außenpolitik in wesentlichen Fragen der Sicherheitspolitik. So offenbarte Steinmeiers Nachfolger im Bundeskanzleramt und jetzige Wirtschaftsminister Peter Altmaier in einer Nebenbemerkung zu Sanktionen, diese seien „bei Staaten wie Russland“ ohnehin unwirksam. Mit einem Federstrich entblößte der Minister damit das wirtschaftliche Sanktionsregime und auch die Abschreckungsstrategie gegen Moskau jeglicher Glaubwürdigkeit. In den Augen Putins konnte der westliche Ansatz somit nie tatsächlich ernst gemeint gewesen sein.

Nawalny, Nordstream 2 und Nuklearwaffen

Bundespräsident Steinmeier sprach sodann auch davon, der Sinn des Erinnerns sei es, „zu verstehen, wie diese Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt“. Nicht nur der ukrainische Botschafter mag hier geschluckt haben. Nawalny, Nordstream 2 und Nuklearwaffen – das ist doch die sehr bedrohliche Gegenwart, um die es heute geht. Und diese Gegenwart hat nichts mehr mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, sondern mit einem Russland, das sich nach dem verlorenen Kalten Krieg aus eigenem Unvermögen heraus in den Jelzin-Jahren seinen Weg in die Zukunft verbaute, nur um dann von Wladimir Putin und seinen KGB-Veteranen „gerettet“ zu werden. Das ist die Vergangenheit seit 1991, der Russland sich heute stellen muss – aber nicht will.

Berlin hingegen muss realistisch den strategischen Gefahren ins Auge sehen, die sich daraus längst ergeben haben. Die geschichtspolitische Verzerrung, der Steinmeier und andere unterliegen (wollen), schärft dabei den Blick auf diese Gefahren nicht. Erst die Einsicht, Binse vielmehr, dass die Geschichte nicht 1945 stehengeblieben ist, sondern seitdem – ganz unabhängig von deutschen Schuldkomplexen – immer wieder Aggressoren hervorgebracht hat und -bringt, eröffnet den Blick darauf, wie Russlands jüngste „Vergangenheit in der Vergangenheit fortwirkt“.

Macht durch Macht bändigen

Vor diesem Hintergrund ist es von herausragender Wichtigkeit, das von Putin in seiner Rede von 2020 zum „75. Jahrestag des Großen Sieges“ ungefragt oktroyierte, „gemeinsame historische Gedächtnis“ nicht als Grundlage dafür zu sehen, dass „wir uns gegenseitig vertrauen“, wie er meinte. Ob man einem KGB-Mann überhaupt vertrauen sollte, sei einmal hintangestellt. Aber die intuitive Reaktion des ukrainischen Botschafters zusammengenommen mit den – jahrelang ignorierten und – tiefsitzenden Ängsten der Polen und Balten vor Russland, sie sprechen eine andere Sprache. Eine Sprache, die das wahre, aggressive Potenzial Russlands misstrauisch beäugt und der gegenwärtigen Bundesregierung historische Naivität bescheinigt.

Es ist die „Sprache der Macht“, deren Erlernung der europäische Außenkommissar im vorigen Jahr dringlichst anmahnte. Es ist eine Sprache, in der gilt, dass Macht nur durch Macht gebändigt werden kann, dass das Irrationale, gerade weil es von westlichen Staaten nicht erwartet wird, rational ist, dass Schwächen rücksichtslos ausgenutzt werden und dass Geschichte Propagandamaterial liefert. Bundespräsident Steinmeier betonte gegen Ende seiner Rede, dass „Geschichte nicht zur Waffe werden“ dürfe. Ob Putin dies auch so sieht, sagte er nicht. Dass der neue „Zar“ nicht totunglücklich über die „Last“ in den Worten des deutschen Staatsoberhaupts war, dürfte hingegen angenommen werden.

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