Proteste in Russland - Nawalny gegen den Kreml

Zehntausende protestieren in ganz Russland gegen das System Putin. Der Staat reagiert mit massenhaften Festnahmen. Wird es eng für Putin?

Alexej Nawalny ist während einer Gerichtsverhandlung Ende Januar per Monitor aus dem Untersuchungsgefängnis zugeschaltet / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Nein, wird es vorerst nicht. Es ist den Unterstützern des Oppositionsführers Alexej Nawalny gelungen, überall im Land Menschen auf die Straße zu bringen. Aber mal ehrlich: Sind Zehntausende angesichts einer Bevölkerung von 145 Millionen eine beeindruckende Zahl? Ist das der Beweis, dass Putin die Kontrolle über sein Land entgleitet?

Nur zum Vergleich: Im benachbarten Belarus (auch bekannt als Weißrussland) leben weniger als zehn Millionen Menschen, aber dort gingen im Sommer über Wochen Hunderttausende auf die Straße, ungeachtet der Schlägertrupps, die Diktator Lukaschenko auf sein Volk hetzte, ungeachtet der Tatsache, dass Tausende in den Gefängnissen verschwanden und dort gefoltert wurden.

Sind Zehntausende Menschen in einem Land wie Russland viele?

Der Großraum Moskau hat fast zweimal so viele Einwohner wie Belarus, am gestrigen Sonntag waren es aber nur einige Tausend, die ihre warmen Stuben verließen, um gegen Nawalnys Verhaftung zu protestieren. Es lag nicht nur am Wetter. Der Staat griff zu Methoden, die in Russland neu sind: Cafés und Metrostationen im Zentrum blieben geschlossen, um den Protest zu unterbinden. Die Polizei agierte mit Härte, in der Hauptstadt wurden etwa 1700 Menschen festgenommen, 146 davon mussten über Nacht im Gefängnis bleiben. Aber das ist kein Vergleich zu den Methoden Lukaschenkos.

So leicht bringt man das System Putin nicht zum Einsturz, so erzwingt man auch nicht die Freilassung Nawalnys, der seit seiner Rückkehr nach Russland am 17. Januar in Untersuchungshaft sitzt. Am morgigen Dienstag soll ein Gericht seine einst auf Bewährung ausgesetzte Haftstraße wieder in eine reale Haftstrafe umwandeln.

Youtube-Clicks gegen politische Macht

106 Millionen Menschen weltweit haben inzwischen Nawalnys letztes Enthüllungsvideo über den „Palast für Putin“ am Schwarzen Meer angeklickt. Nawalny ist, kurz nachdem er dem Nowitschok-Tod entronnen ist, auf dem Zenit seiner Bekanntheit. Er ist auch nicht mehr nur ein begabter Blogger und Redner, der den Kreml provoziert: Er ist jetzt der unangefochtene Oppositionsführer, er hat eine politische Bewegung hinter sich. Aber der Maßstab der Proteste zeigt doch, dass er seine Bekanntheit nicht direkt in politische Macht umwandeln kann.

Der große Unterschied zu Belarus ist der geringere Leidensdruck unter den Russen von Moskau bis Wladiwostok. Die russische Wirtschaft stagniert im Jahr 21 der Putinschen Regentschaft vor sich hin, aber die große Zahl der Menschen denkt sich: Immerhin geht’s nicht bergab. Die Stabilität basiert auf einem Fundament aus Petrodollars - und wenn schon? Putin und seine Kumpel bauen sich Paläste – aber für uns bleibt ja genug übrig, und ändern können wir's ja doch nicht.

Russland ist nicht Belarus

Das mit Petrodollars kaum gesegnete Belarus dagegen steckt tief in der Rezession – und dazu noch in einer tiefen politischen Krise: Vor den jüngsten Wahlen im Sommer steckte Präsident Lukaschenko die Oppositionskandidaten ins Gefängnis, andere jagte er ins Exil, zehntausende Demonstranten landeten im Gefängnis und wurden dort systematisch geschlagen und erniedrigt. Der Machtkampf in Belarus ist bis heute offen, und es ist ein Kampf zwischen dem Volk und Lukaschenko. Die Ernüchterung über, ja die Wut auf einen Diktator, der sich nur noch durch brutale Gewalt an der Macht halten kann, ist in breite Schichten der Gesellschaft gesickert.

Was sind dagegen die paar zehntausend Schüler, Studenten und andere junge Menschen, die in Russland an den vergangenen Wochenenden auf die Straße gingen? Es ist eine Sache, ein Youtube-Video anzuschauen und es in den sozialen Medien zu teilen – aber es erfordert einen ganz besonderen Druck, auf die Straße zu gehen und die eigene Haut zu riskieren. Bisher scheint dazu nur eine großstädtische Schicht bereit zu sein, auf die auch die letzten großen Proteste 2010/2011 beschränkt blieb.

Der Kreml hat es in der Hand

Im September wählen die Russen eine neue Staatsduma, ein Ort, an dem schon seit bald zwei Jahrzehnten nur noch vom Kreml auserwählte Parteien parlamentarischer Pseudo-Arbeit frönen. Doch ungeachtet der praktischen Bedeutungslosigkeit der Institution könnte der Wahltermin zum Kulminationspunkt werden.

Nämlich dann, wenn es Nawalny und seinen Unterstützern gelingt, den Kreml zu unüberlegtem Handeln zu provozieren.

Wenn Putins Elite in den kommenden Monaten ungeschickt agiert, überzeugt davon, gegen ihre „Feinde“ sei jedes Mittel recht. Wenn es noch brutaler die Knüppel und Elektroschocker gegen die Demonstranten einsetzt und damit breitere Gesellschaftsschichten gegen sich mobilisiert. Wenn es bei der Behinderung von Nawalnys politischen Gefolgsleuten, bei der Verunglimpfung der Oppositionellen durch die Staatspropaganda und bei der Wahlfälschung den Bogen überspannt.

Dann könnte Russland und seiner herrschenden Kaste ein heißer Herbst bevorstehen.

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