Proteste in Belarus - „Der Staat muss das Blutbad stoppen“

Von der belarussischen Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa fehlt jede Spur. Offenbar ist sie verhaftet oder entführt worden. Noch im August hat Kolesnikowa im Cicero-Interview erklärt, wie sie Lukaschenko in die Knie zwingen will.

Eine der letzten verbliebenen Oppositionellen: Maria Kolesnikowa / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Maria Kolesnikowa war die Wahlkampfleiterin des aussichtsreichsten Oppositionskandidaten Viktor Babariko, der seit Juni im KGB-Gefängnis sitzt. Zusammen mit der Ehefrau eines weiteren Kandidaten, der aus dem Land vertrieben wurde, unterstützte sie in den letzten Wochen die Kandidatin Swetlana Tichanowskaja. Kolesnikowa ist die einzige der drei Frauen, die im Land geblieben ist.

Was passiert am heutigen Dienstag auf den Straßen der Hauptstadt Minsk?
Viele Menschen sind heute zu dem Ort gekommen, wo am Montag ein Demonstrant gestorben ist. Die Polizei versucht, die Menschen auseinanderzutreiben. Wir hören von vielen Streiks in den Fabriken des Landes. Das Internet funktioniert sehr schlecht, aber wir bekommen sehr viele Nachrichten von Menschen, die nicht einverstanden sind mit den vorläufigen Ergebnissen der Wahlen. Die Menschen reagieren sehr emotional.

Nehmen Sie an den Protesten teil?
Ich war auf den Straßen und habe gesehen, wie die Menschen festgenommen und in Bussen abtransportiert werden, aber ich war nicht im Epizentrum. Wenn ich auftauche, ruft das immer eine starke Reaktion der Menschen hervor. Ich will aber ihre Sicherheit nicht gefährden, deshalb halte ich mich von Orten fern, wo sehr viele Menschen sind. 

Sie bleiben sicherheitshalber in Ihrem Wahlkampfbüro?
Ja, praktisch den ganzen Tag. Aber am Montag bin ich nicht einmal nach Hause gekommen, weil das ganze Zentrum von der Polizei blockiert wird. Ich musste dann in einem Hotel übernachten.

Können Sie überhaupt noch arbeiten?
Wir arbeiten seit drei Monaten unter ständigem Druck. Bei uns im Büro arbeiten jetzt viele Journalisten, viele Menschen organisieren Hilfe für jene, die verletzt oder festgenommen wurden.

Sie sind jetzt die einzige Führungsfigur der Opposition, die nicht geflohen ist oder festgenommen wurde. Warum fliehen Sie nicht, solange es noch geht?
Ich habe ein Ziel: die Durchführung neuer, freier Wahlen und die Befreiung der politischen Häftlinge, unter denen viele meiner Freunde sind. Ich werde alles Mögliche dafür tun.

Haben Sie keine Angst, dass heute oder morgen Polizisten in Ihr Büro kommen und Sie dann wegen der Organisation von Massenunruhen für zehn Jahre im Gefängnis landen?
Weder ich noch meine Kollegen haben etwas mit der Organisation von Unruhen zu tun. Wir haben die Menschen nie zu Protesten aufgerufen. Wir treten für friedliche Aktionen im Rahmen des Gesetzes ein. Am Sonntag gab es dennoch den Versuch, mich festzunehmen: Als ich aus dem Büro kam, wurde ich gewaltsam in einen Kleinbus gesetzt, dann wurde ich zwanzig Minuten durch die Stadt gefahren und dann zu dem Ort gebracht, wo ich mich zum Abendessen verabredet hatte. Mir wurde zu Anfang gesagt, dass ich festgenommen sei, aber am Ende sprachen sie davon, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hätte.

Waren das Polizisten?
Es waren Menschen in Zivil, aber sie hatten Ausweise der Polizei.

Haben sie Ihnen geraten, besser das Land zu verlassen?
Nein. Ich habe sie gefragt, wie es ihnen eigentlich damit geht, dass sie sich so barbarisch gegenüber den Menschen verhalten und warum sie das tun. Ich habe ihnen gesagt, sie müssten jetzt die Entscheidung treffen, auf der Seite des belarussischen Volkes zu stehen, die Interessen der Menschen und nicht das Interesse eines Menschen zu vertreten. Am Ende witzelten sie noch, dass so ein spätes Abendessen doch schlecht für meine Figur sei. Dann gaben wir uns die Hand, und unter dem großen Applaus der Menschen, die mich auf der Straße erkannten, wurde ich freigelassen.

Weniger zimperlich war die Staatsmacht mit Ihrer Mitkämpferin, der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Von ihr wurde heute ein Video veröffentlicht, auf dem sie eine Erklärung abliest, in der sie die Bürger dazu aufruft, die Proteste zu beenden. Inzwischen ist sie nach Litauen geflohen. Was ist da passiert?
Ich weiß sicher, dass Swetlana in die Wahlkommission gekommen ist, und dass die Leiterin dann ihr Büro verließ und sie mit zwei Geheimdienstlern allein ließ. Swetlana verbrachte mit ihnen drei Stunden. Am Tag darauf war sie in Litauen – und es tauchte dieses Video auf. Fast alle Mitarbeiter ihres Wahlkampfteams sitzen im Gefängnis, gegen ihren Mann läuft ein Prozess. Es ist klar, dass sie gezwungen wurde, dieses Video aufzuzeichnen und das Land zu verlassen.

Haben Sie mit ihr gesprochen?
Nein. Ich wartete vor der Wahlkommission, aber sie verließ das Gebäude über einen Seitenausgang. Bis jetzt habe ich keine Verbindung mit ihr.

Hatte sie denn angekündigt, das Land zu verlassen?
Nein. Noch am Montag hatte sie auf einer Pressekonferenz erklärt, dass sie das Land nicht verlassen werde.

Sie sind die letzte verbliebene Oppositionsführerin. Wozu rufen Sie die Belarussen auf?
Ich rufe das Regime dazu auf, die Gewalt zu beenden und auf das Volk zu hören. Sie müssen verstehen, dass der Präsident zum ersten Mal in 26 Jahren nicht die Wahl gewonnen hat. Sie müssen neue Wahlen zulassen. Die Menschen rufe ich dazu auf, ruhig zu bleiben, das Gesetz nicht zu brechen und kein Blutvergießen zuzulassen. Die Belarussen sind ein sehr friedliches Volk, und wir wollen keinen Bürgerkrieg. Die Bilder, die wir sehen, beunruhigen uns aber sehr.

Es gibt viele Videos, die zeigen, wie die Polizei wahllos Menschen festnimmt – dann kommen ihnen andere zu Hilfe und entreißen sie mit Gewalt aus den Händen der Polizei. Sollten sie lieber passiv danebenstehen?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Aber die Verfassung unserer Republik gibt den Bürgern das Recht, friedlich gegen das Vorgehen des Staats zu demonstrieren. Dieses Recht wurde den Belarussen jetzt genommen. Der Staat muss auf die Bürger hören, er muss das Blutbad stoppen, das gerade stattfindet.

Aber ist die Verfassung überhaupt noch in Kraft?
Große Teile davon sind momentan außer Kraft. Seit drei Tagen gibt es praktisch kein Internet. Das heißt, dass den Belarussen der Zugang zu Informationen verwehrt wird. Friedliche Belarussen laufen auf die Straße und werden in Kleinbusse geworfen. Der Staat schützt ihre Interessen nicht mehr.

Könnten die Proteste in eine Situation münden wie 2013 in Kiew, als sich über Wochen Polizei und Demonstranten bekämpften. Erst ein Blutbad mit über 100 Toten zwang den damaligen Präsidenten zur Aufgabe ...
Seit zwei Monaten spricht Lukaschenko vom Maidan und über gewaltsame Methoden des Machterhalts. Jetzt sehen wir, dass die Gewalt da ist. Aber ich wünsche mir sehr, dass sich hier kein Maidan wiederholt. In erster Linie trägt aber der Staat die Verantwortung dafür, was passiert.

Was erwarten Sie von Deutschland, wo Sie längere Zeit gelebt haben?
Zum ersten Mal in 26 Jahren haben wir die Chance, unsere Zukunft zu verändern, nicht mehr die letzte Diktatur Europas zu sein. Diese Wahl muss das Volk selbst treffen. Natürlich ist es wichtig, dass der Westen uns unterstützt, aber es ist wichtiger, dass das Volk selbst dafür sorgt, dass es freie Wahlen gibt.

Sollte der Westen Sanktionen gegen das Regime androhen?
Das ist kein produktiver Weg. Es gab schon Sanktionen gegen das Regime, aber es gab kein Resultat. So etwas wirkt nicht gegen einen Diktator.

Und was wirkt?
Der Wille des Volkes.

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