Presseschau zum EU-Gipfel - Die Gewinner und Verlierer von Brüssel

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich in Brüssel nach zähen Verhandlungen auf ein gigantisches Corona-Hilfspaket geeinigt. Wir haben uns angeschaut, wie die internationale Presse das Ergebnis bewertet.

Drei gegen einen: Merkel, von der Leyen und Macron verhandeln mit Rutte / dpa
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Rixa Fürsen macht einen Master in Internationalen Beziehungen an der Hertie School in Berlin. Derzeit hospitiert sie in der Redaktion von CICERO.

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Starkes Signal der Solidarität

„Das 750 Milliarden Euro schwere Konjunkturpaket, das von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron angeführt wurde, sandte ein starkes Signal der Solidarität aus, auch wenn es tiefe Verwerfungen bezüglich des Brexit aufdeckte.

Das Abkommen ist bemerkenswert: Die Länder werden große Summen aufbringen, indem sie gemeinsame Anleihen verkaufen, anstatt einzelne; und ein Großteil dieses Geldes wird den Mitgliedsländern, die von der Pandemie am härtesten betroffenen sind, als Zuschüsse und nicht als Darlehen ausgehändigt.“ (The New York Times, USA)

Ein Signal der EU-27

„Die Bedeutung des Abkommens liegt nicht so sehr in der Größenordnung der mobilisierten Summen als vielmehr in seinem Prinzip, das eine beispiellose Form der finanziellen Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten begründet. In einer Zeit, in der sich die EU hätte auflösen können, ist die kollektive Reaktion der Europäer von entscheidender Bedeutung. Nachdem sie auf die Herausforderungen der Gesundheitskrise nur bruchstückhaft reagiert hatte, konnten die Mitgliedstaaten einen heilsamen Sprung nach vorne machen, der durch die Annäherung zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron am 18. Mai möglich wurde.

Ausnahmsweise reagieren die europäischen Staats- und Regierungschefs einmal im richtigen Tempo, weder zu wenig noch zu spät, zusätzlich zu den von der Europäischen Zentralbank durchgeführten Notfallmaßnahmen. Es bleibt abzuwarten, ob dieser beispiellose Mechanismus so bald wie möglich eingeführt wird, um die Schockwelle der Epidemie abzuschwächen.“ (Le Monde, Frankreich)

Kein Austritt aus der EU

„Die Mitgliedstaaten und deren Bürger lieben die EU vielleicht nicht immer, aber auf die wirtschaftlichen Vorteile und die Bewegungsfreiheit wollen sie auch nicht verzichten. Selbst die unzufriedensten Länder denken nicht an einen EU-Austritt. Stünde die Union kurz vor dem Auseinanderbrechen, hätte man Corona-Wiederaufbaufonds gar nicht erst in Betracht gezogen.“ (The Independent, Großbritannien) 

Rutte als Ziel der Kritik 

„Das Getue und Gezänk von Premierminister Mark Rutte und seinen EU-Kollegen verdient vielleicht keinen Schönheitspreis, aber es ist verständlich. Es stand viel auf dem Spiel (über 1.800 Milliarden Euro, darunter der größte Rückforderungsfonds in der Geschichte der EU), so dass es nicht überrascht, dass die Staats- und Regierungschefs darüber streiten, wer zahlt, wer entscheidet und wer ausgibt. Ohne das Veto jedes einzelnen Ministers wäre die Entscheidungsfindung zweifellos schneller, aber gleichzeitig würde die Unterstützung in Ländern, die überstimmt werden würden, untergraben werden. Langfristig wird die Entscheidung die EU nicht weiterbringen. Und wahrscheinlich auch nicht näher am Bürger.

Vier Tage lang war Rutte das dankbare Ziel der Kritik. ‚Dr. No’ in den südlichen Medien, vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron hatte gegen ihn gewettert. Er warf Rutte und seinen ‚frugalen Freunden‘ vor, sich wie das Vereinigte Königreich zu verhalten, was aus französischer Sicht kein Kompliment sei. Macron drohte wiederholt damit, die Verhandlungen zu verlasse, doch das ließ Rutte unbeeindruckt.“ (De Volkskrant, Niederlande) 

Blick nach Süden

„Deutschland fehlt der Blick nach Süden. Diese Südpolitik ist von größter Bedeutung, denn ein Süden, der durch die Auswirkungen der Pandemie und durch das Gefühl der Verlassenheit zusammenbricht, wäre das Ende der europäischen Integration. Aber auch wir [der Süden] müssen uns gegenüber diesem Deutschland beweisen, das die Lehren aus der letzten Krise gezogen zu haben scheint und es in einer ehrenvollen Kraftanstrengung geschafft hat, sich von den ‚Sparsamen‘ [Vier] abzusetzen. Jetzt brauchen wir uns gegenseitig.

Spanien trägt eine besondere Verantwortung. Vielleicht, weil es der einzige Mitgliedsstaat ist, der in den vergangenen drei Jahrhunderten keinen Krieg gegen die Deutschen geführt hat und in dem die Bewunderung eindeutig größer als die Abneigung ist. Vielleicht, weil wir mit den Deutschen einen instinktiven europäischen Geist teilen, der die Integration als Möglichkeit erkennt, die besten Eigenschaften unserer selbst zu finden. [...] Jetzt brauchen wir uns gegenseitig. Spanien trägt eine besondere Verantwortung.“ (El País, Spanien)

Conte bejubelt seinen Sieg

„Italiens Premierminister Conte bejubelt seinen Sieg. Er glaubt, die Niederländer ausgespielt zu haben. Aber jetzt müssen die Hilfen auch schnell fließen.“ (La Repubblica, Italien)

Staaten mit „kaputten Systemen“

„Geprägt war der Gipfel auch von teils hart ausgetragenen Konflikten. Schon vor Beginn hatte Kurz vor der Presse von Staaten mit ‚kaputten Systemen’ gesprochen, die man mit Wiederaufbaufonds-Geldern nicht stützen wolle. Der niederländische Premier Mark Rutte hatte in der Nacht von Sonntag auf Montag angemerkt, Ziel sei es bei einem EU-Gipfel, ‚dass sich jeder um sein eigenes Land kümmert’.

Es gehe nicht darum, ‚bis zum Lebensende auf die Geburtstagsfeiern der anderen eingeladen zu werden‘. Frankreichs Präsident Macron hatte Kurz, als dieser vorübergehend für ein Telefonat den Verhandlungsraum verließ, nachgesagt, der Kanzler habe kein Interesse an der europäischen Idee und könne nicht zuhören. Ihm gehe es nur darum, die österreichische Presse für sich einzunehmen. Ungarns Premier Orbán wiederum hatte im Streit über die Rechtsstaatlichkeit über Rutte gesagt, dieser ‚hasst mich oder Ungarn‘.“ (Der Standard, Österreich)

Ungarn und Polen prahlen mit Sieg

„Man kann es simpel ausdrücken: Viktor Orbán hat gewonnen. Der ungarische Premier selbst sah das zumindest so, als er nach Ende des EU-Gipfels am Montagmorgen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem polnischen Kollegen jubelte, beide Länder hätten ‚ihren nationalen Stolz verteidigt‘.

Orbáns Strategie für dieses Treffen war offensichtlich: Er wollte sich seine Zustimmung für den Wiederaufbaufonds und die Rettung Südeuropas durch Zugeständnisse beim Thema Rechtsstaatlichkeit abkaufen lassen. Und das ist ihm nach eigenen Worten gelungen: ‚Wir haben erfolgreich allen Versuchen widerstanden, die den Zugang zu EU-Geld mit rechtsstaatlichen Kriterien verknüpft hätten.‘“ (Süddeutsche, Deutschland) 

Die „neuen“ Briten

„Da sind sie wieder, die Briten. Sie sind zwar mittlerweile zu einem 17-Millionen-Volk geschrumpft, fahren auf der rechten Strassenseite und sprechen niederländisch. Aber die Rolle des Buhmanns, der sich am Brüsseler Verhandlungstisch unbeliebt macht, beherrschen sie gut. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist sich jedenfalls sicher: ,Die neuen Briten', das sind für ihn vor allem die Niederländer und ihr Verhandlungsführer Mark Rutte, der zugleich als Wortführer der sogenannten ,Sparsamen Vier' fungiert.

Wer im harten Ringen um Geld und Reformen den nahenden Untergang der EU sieht, macht es sich zu einfach. Besser stellt man es sich als lebenswichtige politische Auseinandersetzung vor, in der Interessen abgewogen und Beschlüsse korrigiert werden. Warum die Sorge vor Zuschüssen in dreistelliger Milliardenhöhe gleich die Existenz der EU infrage stellen soll, ist jedenfalls nicht ersichtlich. Haben die ,Sparsamen Vier' nicht einen Punkt, wenn sie sicherstellen wollen, dass mit Corona-Hilfen nicht bloss Haushaltslücken gestopft werden?“ (Neue Zürcher Zeitung, Schweiz)

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