Polen und die EU - Am Rande des Polexits

Seit Donnerstag ist wieder ein möglicher Polexit ein Thema. Der Grund dafür ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts. Doch so sehr die Kritik an dieser Entscheidung auch berechtigt ist, so ist der juristische Polexit immer noch vermeidbar.

Demonstrationen vor dem polnischen Verfassungsgericht / dpa
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Seit Donnerstag ist sie da, die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts. Nachdem dieses seit August viermal tagte, hat es am gestrigen fünften Verhandlungstag endlich eine Entscheidung getroffen: Die europäischen Verträge sind teilweise unvereinbar mit der polnischen Verfassung. Somit hat die polnische Verfassung Vorrang vor dem EU-Recht. Das Verfassungsgericht hat sich mit diesem Sachverhalt beschäftigt, nachdem Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Anfang März eine dementsprechende Frage an das höchste Gericht Polens richtete. Der Grund für diese Frage war ein zuvor gefallenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs, welches die Besetzung der Richterposten am Obersten Gericht Polens infrage stellte.

Es ist eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die für die gesamte Europäische Union eine Herausforderung ist. Die Warnungen vor einem „Polexit“, die seit gestern Nachmittag laut zu hören sind, sind zwar nicht neu, aber dennoch alles andere als übertrieben. Wegen der von der nationalkonservativen Regierung forcierten Justizreform wird seit Jahren von europäischen Gerichten die Unabhängigkeit der polnischen Justiz angezweifelt, weshalb diese in den vergangenen Jahren bereits mehrmals Auslieferungsanträge aus Polen abgelehnt haben. So wie beispielsweise im März vergangenen Jahres das Oberlandesgericht in Karlsruhe. Dies dürfte mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts nun zur Normalität werden, denn faktisch bedeutet diese nichts anderes als einen juristischen Polexit. Polen bleibt zwar weiterhin Mitglied der EU, hat deren gemeinsame Rechtsgrundlage aber verlassen.

Eine andere Entscheidung war unmöglich

Die Verhandlung am Verfassungsgericht zeigt auch, dass dies keine juristische, sondern eine politische Entscheidung ist. „Wessen Interessen vertreten sie hier“, fragte Krystyna Pawłowicz, ehemalige PiS-Parlamentarierin und heutige Richterin am Verfassungsgericht, den Vertreter des Bürgerrechtsbeauftragten und unterstellte ihm, dass er bei der Verhandlung nicht die Interessen des polnischen Volkes vertritt. Eine Unterstellung, die durchaus symbolisch ist für die Einflussnahme der nationalkonservativen Regierung auf das Verfassungsgericht und die polnische Justiz insgesamt.

Nichtsdestotrotz muss man sich die Frage stellen, ob das Verfassungsgericht als verlängerter Arm der PiS eine andere Entscheidung hätte fallen können als die vom Donnerstag. Und da gibt es nur eine einzige klare Antwort, die Nein laut. Der seit 2016 von den Nationalkonservative Umbau der Justiz hat schon jetzt zu teilweise chaotischen Zuständen geführt. Regelmäßig hört man beispielsweise in polnischen Medien von Richtern, die Urteile anderer Richter nicht anerkennen oder mit diesen nicht einen Prozess führen wollen, weil diese von dem von der PiS umgebauten und kontrollierten Landesjustizrat berufen worden. In diesem Jahr hat der Europäische Menschengerichtshof gar entschieden, dass sogar das polnische Verfassungsgericht teilweise illegitim ist, da er mit von der PiS berufenen „Doppelgängerrichtern“ besetzt ist. Hätte nun das Verfassungsgericht entschieden, das EU-Recht habe Vorrang vor der polnischen Verfassung, wäre in der polnischen Justiz endgültig das Chaos ausgebrochen, was sogar Urteilssprüche ungültig machen würde, da diese von Richtern gesprochen wurden, die von dem neuen, auch vom EuGH kritisierten Landesjustizrat berufen worden.
 

Hardliner im Justizministerium

Ein umgekehrtes Urteil hätte aber auch enorme Auswirkungen auf das nationalkonservative Regierungsbündnis. Diese sorgt seit über einem Jahr für Schlagzeilen wegen interner Krisen. Vor einigen Monaten stand die PiS gar kurz vor dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit, da Jarosław Gowin, Chef des bisherigen kleinen Partners „Porozumienie“ (Verständigung), die Regierungskoalition verlassen hat. Ein Nachgeben gegenüber Brüssel hätte nun zu einem Streit mit Justizminister Zbigniew Ziobro und seiner „Solidarna Polska“ (Solidarisches Polen) führen können. Ziobro ist nicht nur der Hauptarchitekt der Justizreform, sondern gilt gar als Hardliner. Schon im Herbst vergangenen Jahres sorgte er mit seinem Widerstand gegen den von den EU-Staatschefs vereinbarten Rechtsstaatsmechanismus nicht nur für interne Streitigkeiten, sondern auch zu einem Streit innerhalb der EU. Nicht unbeachtet sollte auch das Verhältnis der PiS zu ihren Wählern bleiben. Ein anderslautendes Urteil hätte die Stammwählerschaft der PiS auch als Schwäche gegenüber Brüssel wahrgenommen. 

Freiraum für Verhandlungen

Doch bei aller berechtigten Kritik an dem Urteil des Verfassungsgerichts sollte man auch bedenken, dass man zwar vor einer schweren Krise der EU steht, diese aber noch abwenden kann. Denn auch wenn das Urteil schon gesprochen ist, so ist es noch nichts rechtskräftig. Dies wird erst nach der Veröffentlichung des Urteils im Gesetzesblatt der Fall sein, was laut Verfassung spätestens in zwei Wochen der Fall sein sollte. Die Nationalkonservativen haben in der Vergangenheit jedoch bewiesen, dass sie die Einhaltung dieser Vorgabe locker interpretieren. Bestes Beispiel ist das umstrittene De-facto-Abtreibungsverbot des Verfassungsgerichts vom Oktober vergangenen Jahres. Dieses Urteil wurde erst im Januar dieses Jahres veröffentlicht, nachdem die landesweiten Proteste abgeflaut sind. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn die PiS so auch bei der Polexit-Entscheidung des Verfassungsgerichts agieren würde, um so einen Trumpf in den Verhandlungen mit Brüssel zu haben.

Es wären Verhandlungen, bei denen die Europäische Kommission trotz der Entscheidung des Verfassungsgerichts am längeren Hebel sitzt. Die Europäische Kommission verzögert schon jetzt wegen der berechtigten Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Polen die Auszahlung von 58 Milliarden Euro aus dem Coronafond an die polnische Regierung hinaus. Geld, was die PiS dringend braucht, da sie dieses bereits für ein gigantisches Investitionsprogramm eingeplant hat, mit dem sie bei den Parlamentswahlen 2023 punkten will. Und dass die Nationalkonservativen trotz all ihrer scharfen Rhetorik bereit sind einzulenken, wenn EU-Gelder gefährdet sind, zeigen die umstrittenen „LGBT-Ideologie freien Zonen“. In den vergangenen Wochen haben drei von der PiS dominierte Woiwodschaften ihre Erklärungen zurückgezogen beziehungsweise verändert. Ansonsten hätten diese EU-Fördermittel in Milliardenhöhe verloren. 
 

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