Polen und die EU - „Die EU will ein Exempel an Polen statuieren“

Die EU hat ein Sanktionsverfahren gegen Polen eingeleitet, weil die Justiz dort nicht mehr unabhängig sei. Zu unrecht, sagt der polnische EU-Vizepräsident Zdzisław Krasnodębski. Er findet, dass Polen als EU-Mitglied zweiter Klasse behandelt wird

Oppositionelle protestieren in Warschau gegen die Einschränkung der Pressefreiheit / picture alliance
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Autoreninfo

Florian Bayer ist freier Journalist und lebt in Wien. Sein Themenschwerpunkt ist Mittel- und Osteuropa.

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Der Konservative Zdzisław Krasnodębski war einer der engsten Berater Jarosław Kaczyńskis und sitzt seit 2014 für die Partei „Recht und Ordnung“ (PiS) im Europäischen Parlament. Im März dieses Jahres wurde er zu einem von 14 EU-Parlaments-Vizepräsidenten gewählt. Der habilitierte Soziologe lehrt und lebt seit Jahren in Bremen 

Herr  Krasnodębski, in Ihrem Vortrag „Polen heute – europäische Herausforderungen“ am Polnischen Institut Wien sagten Sie, dass es noch immer viele Missverständnisse zwischen West- und Osteuropa gibt, dass wir eine „unterschiedliche  Landkarte von Europa haben“. Was genau meinen Sie damit? 
Osteuropa wird immer noch mit einer gewissen Überheblichkeit von Westeuropa betrachtet. Zum Beispiel werden Länder wie Polen oder die Tschechische Republik als „neue Demokratien“ bezeichnet – fast 30 Jahre nach ihrer Selbstbefreiung von der sowjetischen Okkupation. Es werden auch unterschiedliche Maßstäbe auf Ostmitteleuropa angewendet. In der EU gibt es zwar das Ideal der Gleichberechtigung aller Staaten. Die Realität ist jedoch anders. Tatsächlich gibt es große nationale Ungleichgewichte, wer das Sagen hat. Wir sehen ein dominantes Deutschland und ein Frankreich, das die frühere Machtposition mit seinem ambitionierten Präsidenten wiedererlangen möchte. Politiker aus verschiedenen Lagern, auch in Österreich, sagen mir allerdings, dass dieser deutsch-französische Motor mit allen Absprachen und Vorab-Entscheidungen nicht mehr zeitgemäß ist. Die bisherige Hierarchie wackelt.

Aber sind Deutschland und Frankreich nicht auch jene Staaten, die die europäische Integration am glühendsten vorantreiben wollen? 
Diese Darstellung ist vereinfacht. Meine Fraktion (Europäische Konservative und Reformer, Anmerkung der Redaktion) sieht vieles in der EU kritisch, dennoch will ich in manchen Fragen die Rolle der EU-Kommission stärken. Etwa in der Energiepolitik: Wir wollen, dass in gewissen Fällen die Grenzen der Bieterzone am Strommarkt von der Kommission festgelegt werden. Die Tatsache, dass derzeit Deutschland und Österreich eine solche Zone bilden, führt zu großen Problemen für die Nachbarländer. Deutschland stellt sich aber gegen eine Änderung. Auch sind Polen und die Visegrádländer für eine weitere Öffnung des Binnenmarktes und mehr Zusammenarbeit im digitalen Bereich. Deutschland treibt auch das Projekt des Nord Stream 2 voran, das von der Kommission abgelehnt wird. Es entspricht also nicht der Realität, dass Deutschland immer gemeinsame europäische Lösungen sucht und Polen immer dagegen ist. 

Zdzisław Krasnodębski

Gab es von vornherein Unterschiede, was die EU sein oder werden soll?
Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder strebten von Anfang an eine politische Union an, wohingegen Länder wie Polen eher die wirtschaftliche und die militärische Zusammenarbeit vertiefen wollen.  

Was wäre eine solche politische Union?
Es gibt eine Vision von einem „finalen“ Europa, von den Vereinigten Staaten von Europa, einer echten Föderation. Aber inzwischen ist diese Vision auch in Deutschland oder Frankreich unpopulär geworden. Polen hat von allen europäischen Ländern die höchste Zustimmung der Bevölkerung zur EU, mehr als 80 Prozent. Gleichzeitig kritisieren die Polen aber auch vieles in der EU. Wir schätzen unsere Souveränität und Identität und wollen in gewissen Bereichen auf europäischer Ebene kooperieren, etwa in der Energie-, Sicherheits- und Umweltpolitik – in anderen aber nicht. Wir bestreiten nicht, dass auch eine politische Integration in gewissen Bereichen wünschenswert wäre. Es ist nur die Frage, was diese Integration bedeutet und wie sie mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung und mit der Demokratie zu vereinbaren ist.

Als eines der größten Probleme der EU nennen Sie eine „Ungleichheit der Souveränität“ zwischen den Staaten. Was meinen Sie damit?
Manche Länder, etwa Deutschland, gingen gestärkt aus der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise hervor, andere wie Griechenland sind heute deutlich weniger souverän als früher. Die Ungleichgewichte sind seither stark gewachsen, auch was symbolisches Kapital angeht: Ostmitteleuropäische Länder werden nach wie vor mit bestimmten Gefahren assoziiert, etwa bezüglich Nationalismus und Rechtsstaatlichkeit. Die Parlamentswahlen in Italien wurden zwar besorgt kommentiert, aber doch deutlich weniger kritisch als die Wahlen in Ungarn. Der wachsende Antisemitismus in Deutschland oder Frankreich wird oft verharmlost.

Verstehen Sie den Vorwurf von „Europa à la carte“? Dass sich also manche Länder nur die finanziellen Rosinen herauspicken wollen, sich dann aber zurückhalten, wenn es darum geht, Solidarität zu zeigen, etwa bei der Aufnahme von Flüchtlingen? 
Dieser Vorwurf ist lediglich ein Mittel, politischen Druck auf uns auszuüben. Natürlich, die Migrationsfrage ist sehr kompliziert. Wir sind in einer ganz anderen Situation als etwa Österreich. Unter anderen Umständen würde Österreich vielleicht ähnlich wie Polen reagieren. Wir Polen sind von der Flüchtlingskrise aus dem Nahen Osten nur deswegen betroffen, weil wir Mitglied der EU sind. Wir sind kein Nachbarland der Krisenregion, haben keine historischen Beziehungen zum Nahen Osten.

 Aber der Schutz vor Verfolgung ist ein Menschenrecht. Auch Polen hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterschrieben.
Ja, natürlich. Allerdings besagt die Dublin-Konvention, dass der erste sichere Staat für die Abwicklung des Asylantrags verantwortlich ist. Das Flüchtlingsproblem hat ja auch nicht erst 2015 begonnen. Gesamteuropäisch wurde es erst, als Merkel die Grenzen Deutschlands öffnete. Ich kann ihre Entscheidung, die auch mit historischen Sensibilitäten zu tun hat, respektieren, aber sie war nicht auf der Ebene der EU abgesprochen. Heute sagt Innenminister Horst Seehofer, 2015 sei eine Zeit des Unrechts gewesen. 

Warum nimmt Polen keine Bürgerkriegsflüchtlinge auf? 
Tatsächlich möchten die meisten Asylwerber gar nicht nach Polen – im Gegensatz zu den tschetschenischen Flüchtlingen in den 1990er-Jahren. Außerdem führt die Massenmigration zu einem tiefen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel, es geht also auch um die Frage der ethnischen Zusammensetzung unserer Gesellschaft. Es ist in keinem Vertrag festgeschrieben, dass wir als Mitglied der EU multikulturell werden müssen. Die meisten Polen möchten nicht, dass in polnischen Städten solche Verhältnisse herrschen, die wir heute in vielen französischen Vorstädten sehen. Diese Art von Multikulturalität führt zu großen Konflikten und Spannungen. Diese Sorgen muss man ernst nehmen.

Die polnische Regierung zeigt sich aber auch kein bisschen kompromissbereit. Es geht ja nicht darum, dass Polen eine Million Flüchtlinge aufnimmt wie Deutschland, sondern einen Teil.
 Wir glauben, dass das nicht zur Lösung, sondern zur Verschärfung des Problems führen würde. Die Idee, dass man das Problem löst, indem man die Grenzen öffnet und alle aufnimmt, war idealistisch und sieht humanitär aus, ist aber leider illusionär. Deutschland ist nach einem Jahr selbst von der „Willkommenskultur“ abgerückt. Es war eher der ungarische Ministerpräsident Orbán, der sich damals ans EU-Recht gehalten hat als Merkel. Wenn heute das Migrationsproblem weniger gravierend ist, dann wegen der Schließung der Balkanroute, dem Abkommen mit der Türkei sowie Verträgen mit nordafrikanischen Staaten. Keiner in Europa möchte, dass sich die Ereignisse von 2015 wiederholen, auch die Deutschen nicht.

Was nichts daran ändert, dass bis heute Menschen in Syrien sterben. In Polen können sie nicht auf Asyl hoffen.
Sie sterben, weil sie von jemandem in Syrien getötet werden. Wenn wir im Nahen Osten helfen wollen, dann müssen wir die Ursachen bekämpfen. Polen hat an der Intervention im Irak teilgenommen, darüber gab es einen breiten Konsens von Linken bis hin zu Konservativen. Aber wir wissen heute, dass es unheimlich schwierig ist, solche Konflikte zu lösen. Jedenfalls ist eine Verantwortung für die Situation in Syrien eine andere als die eines polnischen Politikers für die Situation in Polen und für die eigenen Landsleute. Es gibt mittlerweile auch ein gewisses Verständnis für die polnische Position, nicht nur von Seehofer. Überhaupt ändert sich die Ideenlandschaft. 

Was meinen Sie damit? 
Es gab lange Zeit kaum konservative Intellektuelle in Deutschland. Jetzt formiert sich aber zum ersten Mal eine Protestszene, auch gegen die offiziellen Medien. Lange Zeit hatte ich eine positive Meinung über die Medien in Deutschland, die Bereitschaft zur freien Diskussion hat aber stark nachgelassen. Mittlerweile gibt es erste Untersuchungen, dass die deutschen Medien über die Flüchtlingskrise einseitig berichtet haben.

Sind es nicht tatsächlich die polnischen Medien, die in ihrer Freiheit eingeschränkt werden? Der regierungskritische Fernsehsender TVN wurde vom staatlichen Rundfunkrat zu einer Strafe von mehr als 1,5 Mio. Złoty (etwa 350.000 Euro) verdonnert, weil er angeblich unwahr berichtet hätte.
Sie wissen, die Strafe wurde fallengelassen…

Ja, auf großen innenpolitischen und internationalen Druck hin. Dennoch hat sich auch der öffentlich-rechtliche Sender TVP seit dem PiS-Regierungsantritt Ende 2015 stark verändert, das Vertrauen in dessen Berichterstattung ist seitdem rapide gesunken. Viele sprechen von Regierungspropganda.
Öffentlich-rechtliche Sender sind immer regierungsnah – auch in Deutschland ist das so, in Österreich gibt es eine Diskussion über den ORF. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Polen war immer unter dem Einfluss der Regierung, das hat sich seit 2015 nicht geändert. Der Einfluss ist vielleicht direkter als in Deutschland, auch dort gibt es ihn aber: So war etwa Ruprecht Polenz jahrelang Vorsitzender des ZDF-Fernsehrats und zugleich CDU-Abgeordneter im Bundestag sowie ein Vertrauter Merkels. Früher zeigen öffentlich-rechtliche und private Fernsehsender nur eine Seite von Polen. Anders als früher berichten sie jetzt sehr unterschiedlich, und wir haben mittlerweile eine Wahl zwischen verschiedenen Meinungen und einer gewissen Pluralität.

Der soeben erschienene Freedom House Bericht bescheinigt Polen einen Absturz bei der freien Medienlandschaft und, noch stärker, in der Unabhängigkeit der Justiz, seitdem Ihre Regierung im Amt ist.  
Ich würde die Bedeutung solcher Berichte nicht überwerten. Polen wird oft in einer Reihe mit der Türkei, Russland und Ungarn genannt, als Land, in dem die Demokratie in großer Gefahr sei. Man zählt verschiedene politische Fakten zusammen, die negativ interpretiert werden: Der Marsch von 60.000 angeblichen Faschisten in Warschau, Justizreform und so weiter. Dieses Bild entspricht nicht der Realität und der Erfahrung der Menschen im Lande. 

Das sehen viele Menschen anders. 
Ja, Oppositionspolitiker, Aktivisten und einige Journalisten, die sich nicht damit abfinden, dass jetzt eine andere politische Option regiert, die nicht die ihre ist. Sie alarmieren ganz Europa, dass die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen bedroht ist. Aber das, was sie anprangern, kommt in unterschiedlicher Form auch in anderen Ländern vor. Bezüglich Justiz: Auch in Österreich gab es eine Diskussion um einen Höchstrichter aus der FPÖ, in Deutschland wechselte der frühere Ministerpräsident des Saarlands, Peter Müller, als Bundesrichter in den Verfassungsgerichtshof  In Deutschland können Richter politischen Parteien angehören, was angeblich ihrer Unabhängigkeit nicht schadet. Aber keine internationale Zeitung würde schreiben: Die Demokratie in Österreich oder Deutschland ist bedroht. Über Polen wird das aber geschrieben. 

Allerdings sind das einzelne Richter, die ausgetauscht werden sollen. In Polen freilich sollen der Oberste Gerichtshof und der Nationale Justizrat zu großen Teilen neu besetzt werden, der Verfassungsgerichtshof wurde bereits unter die Kontrolle der Regierung gebracht.
Das Justizsystem in Polen brauchte eine grundlegende Reform. Die Leute haben PiS gewählt, auch weil sie solche Reformen erwartet haben. Es gab Korruption, politische Einflussnahme: Viele Richter agierten nicht unabhängig, sondern politisch motiviert. Natürlich haben überall Richter einen politischen oder ideologischen Hintergrund, deswegen ist ein Gleichgewicht wichtig. In Polen gab es dieses Gleichgewicht nicht. . 

Aber gerade für eine unabhängige Richterbestellung gibt es ja den Justizrat NJC. Im neuen Freedom House Bericht steht, dass die Unabhängigkeit mit dem Rat tatsächlich gewährleistet war. Seit einer Reform Ihrer Regierung wird dieser allerdings durch das Parlament besetzt. Auch die EU hat größte Bedenken und zum ersten Mal überhaupt ein Sanktionsverfahren gegen Polen wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit eingeleitet. 
Der Justizrat war vor der Reform weder effektiv noch politisch neutral. Er verteidigte oft die Gruppeninteressen der Richter und nicht das Gemeinwohl. Es war völlig entbehrlich, dass die EU dieses Verfahren aktiviert hat, denn die Motive sind eher politisch als rechtlich. Man wollte an Polen ein Exempel statuieren. Ich kann manche Sorgen und Kritik verstehen, weil natürlich die Situation in Polen nicht ideal ist, aber ich glaube nicht, dass die unabhängige Justiz in Gefahr ist. Und ich bin sicher, dass es am Ende einen Kompromiss zwischen der EU-Kommission und unserer Regierung geben wird.

Es kam in den vergangenen zwei Jahren vermehrt zu islamophoben Übergriffen und seit dem neuen Holocaust-Gesetz auch zu einer Welle von offenem Antisemitismus. Eine jüdische Historikerin in Warschau sagte, es sei so schlimm wie zuletzt 1968, als Tausende Juden wegen einer antisemitischen Regierungskampagne das Land verlassen haben. 
Bei allem Verständnis für solche Sorgen, der Vergleich mit 1968 ist absurd. Es gibt natürlich marginale extremistische Gruppen, wie überall. Es gab einzelne, seltene Vorfälle. Aber im Vergleich zu anderen Ländern ist Polen eine Oase der Stabilität und Ruhe. Antisemitische Vorfälle gibt es in Deutschland wesentlich öfter, auch in Paris wurden vor kurzem zwei Jüdinnen ermordet. In Frankreich sehen wir ganze Stadtteile, wo Juden sich nicht mehr sicher fühlen, einige wandern aus. In Berlin werden Juden angegriffen und man rät ihnen, die Kippa nicht zu tragen, während in Polen das schwerste Verbrechen dieser Art bisher die Verbrennung einer Strohpuppe war. Wenn schon, kann man sich eher Sorgen über die politische Polarisierung machen. In der Öffentlichkeit fallen oft harte Worte, die Aggressionen sind aber zum Glück nur verbal. 

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