Polen - Ein Land im Unfrieden

Seit sie an der Macht ist, betreibt die PiS-Regierung des Parteichefs Jaroslaw Kaczynski den Umbau der polnischen Gesellschaft. Eine Mehrheit der Polen sieht die Demokratie in Gefahr. Dennoch ist die PiS so stark wie selten zuvor. Die Geschichte eines politischen Paradoxons

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Jaroslav Kacinski und Beata Szydlo von der PiS-Partei verdanken ihre Macht der Spaltung des Landes / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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Die Straßenbahnen, Busse und Autos, der gesamte Verkehr hält an. Passanten, die eben noch hektisch ihre Einkäufe erledigten, bleiben stehen, während in den Cafés sich die Besucher von ihren Plätzen erheben. Das einzige Geräusch, das die sonst so pulsierende Metropole Warschau in diesem Moment erfüllt, ist ein ohrenbetäubendes Sirenengeheul. Es ist der 1. August, 17 Uhr. 1944 brach zu dieser Uhrzeit mit der Godzina W, der Stunde W, der Warschauer Aufstand los, der von den deutschen Besatzern mit äußerster Brutalität niedergeschlagen wurde. Je nach Schätzungen wurden bis zu 225 000 Zivilisten von der SS und ihren Schergen ermordet. Die Stadt selber wurde auf Befehl Heinrich Himmlers fast dem Boden gleichgemacht. Für die Polen ist das noch über 70 Jahre nach Kriegsende ein traumatisches Ereignis. Was bei dem Blutzoll, den sie für ihren Freiheitswillen zahlen mussten, auch nur verständlich ist.

Doch wer glaubt, dass zumindest zu diesem Anlass die politischen Spannungen, die in den vergangenen Wochen im Streit um die von der nationalkonservativen Regierung forcierte Justizreform und den daraus resultierenden Straßenprotesten einen erneuten Höhepunkt fanden, beiseitegelegt sind, der irrt. Auch das Gedenken an den Warschauer Aufstand wurde, wie schon in den vergangenen Jahren, überschattet vom politischen Konflikt. Während Warschaus Stadtpräsidentin Hanna Gronkiewicz-Waltz in einer Rede die jüngsten Proteste gegen die von der PiS forcierte Justizreform mit dem Mut der Aufständischen verglich, betonten PiS-Politiker und regierungsnahe Medien, dass nun endlich jenes Polen entstehe, für welches die Heimatarmee 1944 gekämpft habe.
Es sind Differenzen, die nicht nur auf politischer Ebene ausgetragen werden. „Mein Körper ist von einer Mauer geteilt. Zehn Finger auf der linken Seite, die gleiche Anzahl Finger auf der rechten Seite. Der Kopf ist ebenfalls gleich aufgeteilt“, heißt es im Song „Arahja“ der in Polen legendären Alternativband Kult. Ein Song, der 1988 entstand und vom damals geteilten Berlin handelt, dessen Zeilen aber für viele Menschen zwischen Oder und Bug den heutigen Zustand der polnischen Gesellschaft wiedergeben. Nicht wenige sprechen gar von einem „polnisch-polnischen Krieg“. 

Eine Kluft in der Bevölkerung 

Mit welch verbalen Attacken dieser „polnisch-polnische Krieg“ ausgetragen wird, zeigt sich täglich beim Blick in die Medien, die sozialen Netzwerke und im täglichen Umgang der Polen untereinander. Während Liberale die Nationalkonservativen, die überwiegend in den ärmeren, ländlichen Landesteilen ihre Bastionen haben, seit den 1990er-Jahren als „Ciemnogród“, als Rückständige diffamieren, beschimpft die Gegenseite ihre politischen Widersacher als Lemminge, denen der Wohnungskredit wichtiger sei als das Wohl des polnischen Vaterlands. Die daraus resultierende Konsequenz: Die PiS und ihre Anhänger bezeichnen sich seit Jahren als die einzig „wahren Polen“. Eine Rhetorik, die mit dem Regierungsantritt der PiS im Herbst 2015 noch schärfer wurde. Die Opposition und ihre Anhänger werden von nationalkonservativen Politikern, Medien sowie dem von der Regierung kontrollierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk mittlerweile ganz selbstverständlich als „Volksdeutsche“, „Kommunisten“ oder „Verräter“ beschimpft. Der bisherige Höhepunkt dieser verbalen Ausfälle war der Auftritt von Jaroslaw Kaczynski, dem allmächtigen Vorsitzenden der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Ende Juli während einer Parlamentsdebatte über die Justizreform die Oppositionspolitiker als „Verrätermäuler“ beschimpfte, die seinen Zwillingsbruder, den im April 2010 beim Flugzeugunglück von Smolensk umgekommenen Präsidenten Lech, ermordet hätten. Schon Monate zuvor scheute sich Kaczynski nicht, die Kritiker der PiS-Regierung vor laufenden Kameras als „Polen der schlechteren Sorte“ zu bezeichnen.

Gescheiterte Ehe

Politisch geprägt wird der tief durch die polnische Gesellschaft gehende Konflikt seit nun zwölf Jahren durch die Konkurrenz zwischen der nationalkonservativen PiS und der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO). Zwei Parteien, die in ihren Ursprüngen eigentlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben. Beide entstanden 2001 und definierten sich als christlich-konservativ. Nicht ganz zu Unrecht verglichen manche politische Kommentatoren die PO mit der CDU und die PiS mit der CSU. Unterschiede gab es lediglich in der Wirtschaftspolitik, die bei der PO marktliberaler war und ist. Wenig erstaunlich ist daher, dass zu den Kommunalwahlen 2002 beide Parteien mit einer gemeinsamen Wahlliste antraten. Nach den Parlamentswahlen 2005 war man sogar kurz davor, eine Koalitionsregierung unter der Führung des damaligen PiS-Politikers Kazimierz Marcinkiewicz zu bilden. Doch die „PO-PiS“ wurde trotz eines fertigen Koalitionsvertrags niemals Realität. Grund dafür war der zeitgleich stattfindende Präsidentschaftswahlkampf, der durch eine Lüge entschieden wurde. „Aus gut infor­mierten Kreisen an der Küste hört man, dass sich der Opa von Donald Tusk freiwillig in die Wehrmacht gemeldet haben soll“, erklärte Jacek Kurski, damaliger Wahlkampfleiter von Lech Kaczynski und heutiger Intendant des polnischen Staatsfernsehens TVP, wenige Tage vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang in einem Interview. Eine Lüge, die ihre Wirkung nicht verfehlte: Donald Tusk, heutiger EU-Ratspräsident, musste sich trotz seines Sieges im ersten Wahlgang geschlagen geben.

Mit dem „Opa in der Wehrmacht“, der in Wirklichkeit als Kaschube in diese zwangsrekrutiert worden war und aus der er nach zwei Monaten desertierte, um sich den polnischen Streitkräften im Westen anzuschließen, begann die Feindschaft zwischen den zwei größten Parteien, welche die polnische Politik bis heute dominiert. Doch während ab den vorgezogenen Parlamentswahlen 2007 die PO aus allen Parlaments-, Präsidentschafts- und Kommunalwahlen als Sieger hervorging, regiert seit dem Herbst 2015 nun die PiS mit absoluter Mehrheit. Ein Wahlerfolg, für den es mehrere Gründe gibt. 

Unglaubwürdige Opposition

Der entscheidende Faktor für den Erfolg der PiS ist in der Bürgerplattform PO und deren Koalitionspartner, der Bauernpartei PSL, zu finden. Nach acht Jahren Regierungsverantwortung wirkten beide Parteien zum Ende ihrer Amtszeit nur noch uninspiriert und müde, was sich spätestens im ideenlosen Wahlkampf zeigte. Weder die PO noch die PSL vermochten es, ihre Visionen und Zukunftsvorstellungen für das Land den Bürgern zu vermitteln, weil diese einfach nicht vorhanden waren. Zusätzlich war die PO gebeutelt durch einige Skandale. Im Juli 2012 meldete das in Danzig beheimatete Finanzdienstleistungsunternehmen Amber Gold, dessen Geschäftsmodell auf einem Schneeballsystem basierte, Insolvenz an. Obwohl bereits 2009 die Danziger Staatsanwaltschaft und 2010 die polnische Finanzmarktaufsicht KNF vor den zwielichtigen Praktiken warnten, nahmen staatliche Behörden erst im Juli 2012 Ermittlungen gegen Amber Gold auf. Für viele Polen ein Indiz dafür, dass die damalige Regierung das kriminelle Treiben deckte. Verstärkt wurde diese Annahme durch die Tatsache, dass Michal Tusk, Sohn des damaligen PO-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Donald Tusk, PR-Berater der sich im Besitz von Amber Gold befindenden Fluggesellschaft OLT Express war. Ein weiterer Skandal, der der PO schadete, war die Abhöraffäre im Restaurant Sowa & Przyjaciele. Über Jahre nahmen in dem Warschauer Luxusrestaurant Kellner die Gespräche führender Regierungspolitiker und Chefs staatlicher Institutionen wie der polnischen Nationalbank auf. Die heimlich angefertigten Tonbänder, auf denen sich die Akteure beim feinsten Essen in Gossensprache über politische Gegner und Konkurrenten unterhalten, sorgen bis heute in Polen für Schlagzeilen.

Tücken des polnischen Wahlrechts

Ganz anders präsentierte sich dagegen die PiS. Während in den vorherigen Wahlkämpfen noch Jaroslaw Kaczynski das Zugpferd der Nationalkonservativen war, wurden es 2015 Andrzej Duda und Beata ­Szydlo – zwei bis dahin relativ unbekannte PiS-Politiker, die von den Polen nicht mit dem Fanatismus von Jaroslaw Kaczynski oder Antoni Macierewicz gleichgesetzt wurden. Zudem ist die PiS die einzige große Partei, die mit sozialen Versprechen antrat. Für viele Polen, die nach 27 Jahren müde und erschöpft sind von neoliberaler Politik, ein entscheidender Faktor.

Dass der Wahlsieg der PiS jedoch zu solch einem Triumph wurde, ist den Tücken des polnischen Wahlgesetzes geschuldet. Da linke Parteien wie die SLD in einem Wahlbündnis antraten, scheiterten sie an der für solche Listen geltenden Sieben-Prozent-Hürde und versäumten so knapp den Einzug ins Parlament. Zum Sieg der PiS trug auch die niedrige Wahlbeteiligung bei. Gerade mal 50,92 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. „Die Menschen sind einfach müde von dem jahrelangen Konflikt zwischen der PiS und der PO, der die polnische Politik quasi nur auf diese zwei Parteien reduziert. Deshalb blieben sie damals zu Hause“, erklärt Arkadiusz Peisert. „Den Menschen fehlten einfach politische Alternativen“, so der Soziologe, der an der Danziger Universität über Zivilbewegungen forscht. Für die PiS ein Glücksfall. Ohne die Sieben-Prozent-Hürde für Wahlbündnisse und ohne die niedrige Wahlbeteiligung hätten die Nationalkonservativen, für die gerade mal ein Viertel der Wahlberechtigten ihre Stimmen abgaben, niemals die absolute Mehrheit im Sejm erhalten.

Doch wer sind eigentlich die Wähler der PiS? Hierzulande hält sich jedenfalls die Überzeugung, dass es sich um schlecht gebildete Wendeverlierer handelt, die in wirtschaftlich schwachen Regionen des Landes leben und für die Katholizismus und Patriotismus eine wichtige Rolle spielen. Und ja, die Hochburgen der PiS sind tatsächlich im wirtschaftlich schwachen Osten des Landes zu finden, der wegen seiner ökonomischen Rückständigkeit auch als Polen B bezeichnet wird und wo die katholische Kirche das öffentliche Leben dominiert. So erreichte die PiS in manchen ostpolnischen Regionen zwischen 60 und 70 Prozent der Stimmen. Leichte Zugewinne konnte die PiS jedoch auch in den Städten verbuchen mit Wählern, die nicht dem gängigen Klischee eines typischen PiS-Anhängers entsprechen.

Umbau des Staates

„Ich habe linke Ansichten“, sagt Stanislaw Zerko. Zerko, der in Polen den Ruf eines scharfzüngigen Kommentators des politischen Geschehens genießt, ist Deutschlandexperte am Posener West-Institut, einer renommierten Forschungsanstalt mit dem Schwerpunkt Westeuropa. „In den 1990er-Jahren wählte ich die liberale Demokratische Union von Tadeusz Mazowiecki. Doch relativ schnell war ich enttäuscht von dem Staats- und Gesellschaftsmodell, das diese Partei baute. Daraufhin wählte ich über mehrere Jahre das postkommunistische Bündnis der Demokratischen Linken (SLD). Mir wurde immer klarer, dass auch die SLD dieselbe Politik realisiert wie die liberalen Parteien. Nur mit leichten, linken Akzenten. Seit 2010 wähle ich nun die PiS“, erzählt der 1961 geborene Historiker und liefert auch gleich eine Erklärung. „Ich stimme deshalb für sie, weil es die einzige Partei ist, die mit dem bisherigen Staats- und Gesellschaftsmodell bricht, in dem eine Minderheit von mehreren Millionen gut oder gar sehr gut lebt, während die Mehrheit von fast 30 Millionen Menschen Probleme hat, über die Runden zu kommen.“ Aus diesem Grund tut sich Zerko auch schwer mit dem Etikett „nationalkonservativ“, das die PiS hat. „Aus sozialpolitischer Sicht hat die Partei ein ganz klar linkes Programm“, so Zerko, der jedoch kein Geheimnis daraus macht, dass die PiS nicht die Partei seiner Träume ist. „Von allen Parteien ist sie einfach nur die interessanteste und weckt die meisten Hoffnungen auf Veränderungen.“

Veränderungen, mit welchen die PiS gleich nach ihrem Amtsantritt begann. Diese betreffen jedoch nicht nur soziale und wirtschaftliche Projekte wie die Realisierung des Kindergeldprogramms 500+, welches jeder Familie ab dem zweiten Kind eine Unterstützung von monatlich rund 125 Euro garantiert, die Absenkung des Rentenalters oder die Repolonisierung der Wirtschaft, die ihren bisherigen Höhepunkt in der Übernahme der Pekao Bank von der italienischen Unicredit durch den staatlichen Versicherungskonzern PZU fand. Die Veränderungen betreffen aber auch den Umbau des Staates.

Radikale Umstrukturierung 

Ein Umbau, den die PiS Schritt für Schritt vorantreibt. Die öffentlich-rechtlichen Medien, die in Polen niemals richtig entpolitisiert waren und mit jedem Regierungswechsel eine neue Führung bekamen – die mal mehr, mal weniger darauf achtete, die Berichterstattung im Sinne der amtierenden Koalition zu beeinflussen –, wurden zu einem Propa­gandasprachrohr der Nationalkonservativen. Möglich wurde es, weil ganze Redaktionen entlassen und durch linientreue Journalisten ersetzt wurden. Auch das Verfassungsgericht geriet ziemlich schnell ins Visier der PiS und erfüllt heute seine eigentliche Funktion nur noch auf dem Papier. Was nicht erstaunlich ist bei einer Verfassungsgerichts­präsidentin wie Julia Przylebska, Ehefrau des polnischen Botschafters in Berlin, der 2001 Kollegen die nötigen Qualifikationen für einen Richterposten an einem Landgericht in Posen absprachen. 
Im Juli startete die PiS mit drei Gesetzen einen Großangriff auf die polnischen Gerichte. Lediglich das zweifache Veto von Staatspräsident Andrzej Duda verhinderte vorerst, dass die PiS mit ihrer Offensive gegen den Landesrichterrat, der über die Besetzung von Richterposten in ganz Polen entscheidet, und gegen das Oberste Gericht die Kontrolle über die polnische Justiz gewinnt und somit die Dreiteilung der Macht aushebelt. Unterschrieben hat Duda dagegen ein Gesetz, das es Zbigniew Ziobro, in Personalunion Justizminister und Generalstaatsanwalt, ermöglicht, Gerichtspräsidenten und ihre Stellvertreter zu entlassen.

Ein entscheidender Grund für das Veto von Andrzej Duda, der bisher alle ihm vorgelegten Gesetze unterschrieb und deswegen von Kritikern abfällig als „Notar“ verhöhnt wurde, dürften die landesweiten Proteste sein, die sich gegen die Justizreform richteten. Allein in der Hauptstadt gingen nach Angaben des Warschauer Rathauses an manchen Tagen bis zu 50 000 Menschen auf die Straße, obwohl PiS-nahe Medien dies als einen aus dem Ausland bezahlten Putsch zu diskreditieren versuchten. „Während das Verfassungsgericht für viele Polen nicht greifbar ist, ist ihnen bei der Justizreform bewusst geworden, dass diese auch ihre persönlichen Rechte einschränken könnte. Das hat die Menschen mobilisiert“, erklärt der Soziologe Peisert. „Meiner Meinung nach kann man auch sagen, dass dies das Erwachen der polnischen Zivilgesellschaft war“, so der Wissenschaftler. Bestätigt wird diese Einschätzung durch eine Ende Juli durchgeführte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar Public. Demnach glauben 56 Prozent der Polen, dass die Demokratie in ihrem Land durch die Politik der PiS bedroht ist.

Schwache Opposition

Wer jedoch meint, dass sich die Furcht vor dem Abbau der Demokratie in gestiegenen Sympathiewerten für die Oppositionsparteien widerspiegelt, der irrt. Laut den jüngsten Umfragen würden aktuell 40 Prozent der Wahlberechtigten für die PiS stimmen. Auf die größte Oppositionspartei PO, die immerhin acht Jahre Regierungsverantwortung trug, würden dagegen nur 21 Prozent der Stimmen entfallen. Solch gute Umfragewerte konnte die PiS zuletzt in den ersten Monaten nach ihrem Wahlsieg verbuchen. 
Doch sosehr PiS-Politiker und nationalkonservative Journalisten diese aktuellen Umfragewerte als Zustimmung für die eigene Politik zu deuten versuchen, spiegeln die jüngsten Ergebnisse vielmehr das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Oppositionsparteien wider, welches viele Polen trotz aller Sorgen um die Demokratie davon abhält, ihr Kreuz bei der PO oder der wirtschaftsliberalen Nowoczesna zu machen. „Es gibt keine Opposition. Das ist eine Paro­die“, sagt Marek Wawrzynowski, der eigentlich ein typischer Wähler der Oppositionsparteien wäre. Wawrzynowski ist 36 Jahre alt, Akademiker, lebt in einer Großstadt und gehört zu den bekanntesten Sportjournalisten des Landes. Zudem betrachtet Wawrzynowski die Politik der PiS nicht nur mit Skepsis, sondern auch mit Sorge. „Die Partei wandelte sich zu einer gefährlichen Sekte. Ich würde dies als eine Art neuen Kommunismus bezeichnen“, schimpft Wawrzynowski, der gleichwohl versteht, weshalb die PiS gewählt wird. „Es ist die einzige Partei, die so etwas wie ein Programm hat“, so der Sportjournalist.

Und tatsächlich haben es weder die PO noch andere im Sejm vertretene liberale Oppositionsparteien geschafft, Alternativen zur Regierungspolitik aufzuzeigen. Stattdessen agieren sie ideenlos und wirken dabei auch noch arrogant. Bestes Beispiel ist dafür die Debatte um das Kindergeldprogramm 500+. Dieses stieß den Oppositionspolitikern und ihnen nahestehenden Medien nicht wegen der fragwürdigen Finanzierung auf, sondern weil die Empfänger nun angeblich in den Urlaub an die Ostsee fahren und dort das Geld vertrinken. Für die PiS ein gefundenes Fressen, die damit ihren Vorwurf bestätigt sah, die PO vertrete nicht die Interessen der gesamten Bevölkerung, sondern nur die einer kleinen, elitären Klientel.

Gerüchte um Donald Tusk

Was der Opposition jedoch am meisten fehlt, ist eine charismatische Führungsfigur. Ryszard Petru, Vorsitzender der liberalen Nowoczesna, der vor einem Jahr als der große Hoffnungsträger galt, disqualifizierte sich selbst, als er zu Silvester mit seiner Parteikollegin Joanna Schmidt in einen Liebesurlaub nach Madeira aufbrach. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als aus Protest gegen die damals von der PiS geplanten Einschränkungen für Parlamentsjournalisten die liberalen Oppositionsparteien den Plenarsaal im Sejm besetzt hielten. Grzegorz Schetyna, ehemaliger Außenminister und heutiger Vorsitzender der PO, fällt nicht nur durch wechselnde Meinungen negativ auf wie zum Beispiel beim Thema Flüchtlinge, die er mal aufnehmen, ein andermal wieder nicht aufnehmen möchte, sondern hat noch mit einer starken innerparteilichen Opposition zu kämpfen. „Das schreckt viele Polen ab, ihre Stimme der PO zu geben“, erklärt der Soziologe Arkadiusz Peisert. Ob eine mögliche Rückkehr des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk in die polnische Politik die Situation der Opposition verbessern würde, ist fraglich. Tusk erfreut sich bei einem Teil der Wählerschaft trotz aller politischer Altlasten zwar großer Beliebtheit und dürfte der einzig ernsthafte Herausforderer sein, doch ob ihn auch seine alte Partei wiederhaben möchte, darf bezweifelt werden. Deswegen gibt es auch immer wieder Gerüchte, dass Tusk die Gründung einer neuen politischen Kraft anstrebe. Allerdings: Bisher hat Tusk sich selber noch nicht zu einer Rückkehr geäußert.

Zerstrittene Rechte

Bis dahin können sich Kaczynski und seine Parteifreunde nur selber gefährlich werden. Und dass die Nationalkonservativen alles andere als eine geschlossene Einheit sind, als die sie sich gerne verkaufen, zeigte das zweifache Veto von Andrzej Duda. Mit diesem brachen Konflikte auf, die das Bild von der „Vereinten Rechten“, wie sich die PiS und ihre Verbündeten nennen, ad absurdum führen. So drohte Justizminister Ziobro vor einigen Wochen Andrzej Duda in einem Interview mit dem Entzug der Unterstützung bei den Präsidentschaftswahlen 2020. Duda selbst liefert sich seit Monaten einen offenen Konflikt mit Verteidigungsminister Antoni Macierewicz um die Besetzung von Führungsposten im Militär. Und mit jedem Tag werden die Stimmen lauter, dass Duda die PiS verlassen und eine eigene Partei gründen könnte. 

Ein innerparteilicher Streit, der vor allem die radikalen Kräfte innerhalb der PiS in den Vordergrund spült. So wie Krystyna Pawlowicz, die politische Gegner quasi täglich auf übelste Weise beschimpft und mit ihrer eigenen Schwester gebrochen hat, weil diese an regierungskritischen Demonstrationen teilnahm. „Die Hoffnung der gemäßigten PiS-Wähler ist das Präsidentenlager. Der Doppelerfolg von Duda und der PiS war nur deshalb möglich, weil man auch die gemäßigten Wähler gewinnen konnte. Doch momentan dominieren die Radikalen“, sagt Stanislaw Zerko, der PiS-Wähler mit linken Ansichten. „Ich fürchte, dass dies der Grund für die Niederlage der PiS in zwei Jahren sein könnte.“

 

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