Parlamentswahl Bulgarien - War's das für Borissow?

Heute wählt Bulgarien ein neues Parlament. Die Wahl ist nötig, da sich die Parteien bei der Parlamentswahl im April nicht auf eine Regierung einigen konnten. Die Karriere von Alt-Regierungschef Boiko Borissow (GERB) könnte jetzt doch noch an ihr Ende kommen. Er aber wittert bereits Wahlbetrug.

Eine Frau geht an einem Plakat vorbei, das Ex-Ministerpräsident Borissow zeigt Foto: Valentina Petrova/dpa
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Frank Stier ist Korrespondent für Südosteuropa und lebt in der bulgarischen Hauptstadt Sofia.

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Hunderte Sofioter, davon manche mit einem Glas Champagner in der Hand, gedachten am Freitagabend vor dem Staatspräsidium den monatelangen Massenprotesten gegen die Koalitionsregierung von Ministerpräsident Boiko Borissow vor einem Jahr. Am Vormittag des 9. Juli 2020 war die bulgarische Staatsanwaltschaft zu einer Razzia in den Sitz des bulgarischen Staatspräsidenten eingedrungen. Daraufhin trat Staatspräsident Rumen Radew mit erhobener Faust vor die Demonstranten und solidarisierte sich unmissverständlich mit ihrer Forderung nach sofortigen Rücktritten von Langzeit-Premier Borissow und Generalstaatsanwalt Ivan Geschev.

Mit seiner für einen Staatspräsidenten mit repräsentativer Funktion unerhörten Agitprop-Geste positionierte sich Radew klar auf der Seite der Bulgaren, die nichts so sehr ersehnen wie die Überwindung des korrupten und klüngelhaften Status quo und die Schaffung tatsächlich rechtsstaatlicher Verhältnisse.

Abhören des politischen Gegners

Unter den vor dem Staatspräsidium Versammelten weilte am Freitagabend auch Boiko Raschkow. Der Innenminister der seit Mai 2021 amtierenden Übergangsregierung hat sich in den vergangenen Wochen als Schlüsselfigur bulgarischer Politik profiliert. Wie kein anderer hat Raschkow schwerwiegende Korruptions- und Machtmissbrauchsvorwürfe gegen Borissow und seine Partei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) erhoben.

Er prangerte unrechtmäßiges Abhören politischer Gegner vor der April-Wahl an und den Kauf von Wählerstimmen. Ministerkollegen enthüllten zudem Fälle millionenschwerer Misswirtschaft bei Infrastrukturvorhaben, unverhohlene Klientelpolitik der staatlichen Entwicklungsbank und sogar Irregularitäten bei Organtransplantationen im Regierungskrankenhaus.

Alles nur Revanchismus?

In den Augen von Alt-Regierungschef Borissow und seiner Gefolgschaft konnte die Enthüllungsoffensive des von Präsident Radew eingesetzten Übergangskabinetts Stefan Janev nichts anderes sein als Revanchismus. „Diese Kampagne ist unter dem präzedenzlosen Polizeiterror des Wahlkampfstabs von Rumen Radew verlaufen. Finstere Erinnerungen an das totalitäre Regime werden wach. Und trotzdem sind die Leute weiter mit uns“, sprach Borissow am Freitagabend zum Abschluss seines Wahlkampfs in der südwestbulgarischen Kleinstadt Slivnitsa zu seinen Anhängern.

Borissow gab sich einmal mehr in seiner Paraderolle als nahbarer Volksführer und präsentierte sich anschließend auf Facebook Arm in Arm mit einer Hundertschaft Slivnitser Bürger, ohne Mund-Nasenschutz und ohne Einhaltung irgendwelcher Abstandsregeln. Viele Bulgaren halten die Pandemie erst mal für beendet.

Bedeutende Wahlrechtsänderungen

Während der kurzen Zeit ihres Bestehens hat die 45. Bulgarische Volksversammlung wesentliche Änderungen des Wahlrechts beschlossen. Sie könnten das Wahlergebnis am heutigen Sonntag beeinflussen. So dürfte die Erhöhung der Zahl der Wahllokale im Ausland Borissows GERB abträglich sein und den Protestparteien zugutekommen. Als weitere Unbekannte des Wahltags kommt hinzu, dass die Bulgaren erstmals maschinell abstimmen müssen. Dies erweckt Befürchtungen, nicht alle Bürger könnten damit zurechtkommen oder im Fall defekter Maschinen könnte Chaos entstehen.

Hat die fünfte Parlamentswahl in zwölf Jahren Anfang April 2021 keine Regierungsmehrheit ergeben, so sagen nun Meinungsumfragen für die Wahlen zur heutigen 46. Bulgarische Volksversammlung einen vergleichbaren Ausgang voraus. Sechs Parteien – drei etablierte Systemparteien und drei sogenannte Protestparteien – dürften den Einzug ins Parlament schaffen. Borissows bürgerliche GERB könnte ihre angestammte Position als stärkste politische Kraft verlieren an die herausfordernde Partei Ima takev narod ITN (Es gibt so ein Volk) des populären Showmasters Slawi Trifonow.

Ist mit den Nationalisten zu rechnen?

Die postkommunistische Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) hat ihren voraussichtlichen dritten Rang gegen das traditionell konservative Parteienbündnis Demokratichna Bulgaria (DB) zu verteidigen. Dahinter könnte die Partei der bulgarischen Türken, die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) folgen, vor der aus den Protesten hervorgegangenen Partei Ispravi se! Mutri van! ISMV (Rappel Dich auf! Mafia raus!). Erwartet wird, dass die wiedervereinigten Nationalisten von den Bulgarischen Patrioten (BP) ebenso an der Vier-Prozent-Hürde scheitern werden wie die Partei des nach Dubai geflüchteten Glücksspielmagnaten Bulgarsko Ljato BL (Bulgarischer Sommer).

Doch würden die Nationalisten den Einzug ins Parlament erneut verpassen, stünde die von den anderen Parteien geächtete Partei, Borissows GERB, wie im April erneut ohne möglichen Koalitionspartner da. Bojko Borissow eindrucksvolle politische Karriere dürfte damit beendet sein.

Protestparteien könnten auf 40 Prozent kommen

Er und seine Sympathisanten wittern bereits Wahlbetrug. Die Wahlmaschinen und folglich auch das Wahlergebnis der GERB könnten über das Internet manipuliert werden, behauptet er. „Wahlen kommen und gehen. Sie werden sie manipulieren. Aber wir, was immer sie auch machen, werden wieder die Ersten sein. Wir sind dem Volk verpflichtet, am 11. Erster zu sein, um das moralische Recht zu haben, zu ihnen zu sprechen“, erklärte er und zeigte sich überzeugt, am Ende werde „der gesunde Menschenverstand siegen“.

Eine hohe Wahlbeteiligung vorausgesetzt, könnten die drei mit den Protesten vom vorigen Jahr verbundenen Parteien ITN, DB und ISMV zusammen auf einen Stimmanteil von um die 40 Prozent kommen. Für die Parlamentsmehrheit von 121 Abgeordnetensitzen dürfte dies kaum reichen. Sie wären damit für die Bildung einer Koalitionsregierung auf die Duldung durch die beiden anderen Anti-GERB-Parteien BSP und DPS angewiesen. Ob sich ITN-Führer Slawi Trifonow aber dieses Mal, anders als im April, auf solch eine Duldung einlassen wird, ist unklar.

„Politiker erzählen Märchen“

Trifonow hat sich im Wahlkampf rar gemacht. Er beschränkt sich darauf, sich alle paar Tage auf Facebook zu Wort zu melden und traf nur ein einziges Mal in Plowdiw mit Studenten zusammen. Dabei äußerte er sich auch zu seinem bereits zum Markenzeichen gewordenen Schweigen, das stets für viele Interpretationen Raum lässt. Er habe gelernt, „der Herr des Schweigens zu sein”, sagte Trifonow zu den Studenten; es genüge völlig, „wenn die anderen Politiker Märchen erzählen“.

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