Orthodoxe Kirchen in der Ukraine - Einheit in der Spaltung

Putins Rechnung ist nicht aufgegangen. Er dachte, dass die russischen Truppen auf eine kampfunfähige ukrainische Armee und auf eine demoralisierte Zivilbevölkerung treffen würden. Es kam aber anders: Die ukrainische Bevölkerung stellt sich hinter ihre Führung. Und die in der Ukraine vertretenen orthodoxen Kirchen stehen an der Seite ihres Volkes.

Der moskautreue Metropolit Onufrij überraschte mit einer Ansprache, in der er den russischen Einmarsch verurteilte / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Die ganze Welt blickt in diesen Tagen auf die Russisch-Orthodoxe Kirche. Ihr Oberhaupt, der Moskauer Patriarch Kirill, versteht den aktuellen Krieg aber nicht einmal als einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Für den früheren KGB-Offizier ist er vielmehr ein interner Konflikt innerhalb der „Rus“. Die Russische Föderation wird daher gar nicht erst als Aggressor im Krieg gegen die Ukraine benannt. Stattdessen macht er ominöse „böse Kräfte“ verantwortlich, die „immer gegen die Einheit der Rus und der Kirche gekämpft“ hätten – und deren baldigen Untergang er sich herbeiwünscht. Man braucht nur eins und eins zusammenzuzählen, um zu verstehen, wer damit gemeint ist: Wenn die Ukraine Teil der von ihm beschworenen „Rus“ ist, setzt er die prowestlich eingestellten Ukrainer mit den ominösen „bösen Kräften“ gleich, für deren Untergang er betet. Auch wenn er für ein Ende des Blutvergießens plädiert: Deutlicher könnte in religiöser Sprache die Parteinahme für den Kreml kaum ausgedrückt werden.

Die ukrainischen Kirchen stehen derweil alle gegen den „brudermörderischen“ russischen Einmarsch zusammen. Das ist gerade deshalb nicht selbstverständlich, weil sich vor drei Jahren innerhalb der Ukrainischen Orthodoxen Kirche ein Schisma vollzogen hat. Um dessen Wurzeln zu verstehen, lohnt es sich, zunächst einen Blick 30 Jahre zurück zu werfen.

Der lange Weg zum Schisma

Nicht nur Russland erlebte nach dem Zerfall der Sowjetunion eine religiöse Renaissance, sondern auch die Ukraine. Aber die politischen Konflikte zwischen Russland und der Ukraine sollten sich auch in der Situation der jeweiligen Kirchen niederschlagen und zu einer zunehmend unübersichtlichen Lage führen. Viele Ukrainer wissen heute gar nicht mehr, welcher orthodoxen Kirche sie eigentlich angehören. Das hängt damit zusammen, dass es in der Ukraine seit 1991 drei Kirchen gibt, die einem orthodox-byzantinischen Ritus folgen und die im öffentlichen Leben relevant sind.

Die heutzutage kleinste dieser Kirchen ist die griechisch-katholische, die papsttreu und dennoch dem byzantinischen Ritus treu geblieben ist. Sie ist vor allem im Westen der Ukraine vertreten. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die traditionell die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung umfasst, ist eigentlich seit 1654 moskautreu. Und 1991 hatte sich die „Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche“ vom Moskauer Patriarchat abgespalten, ohne dass es ihr gelungen war, besonders viele Gläubige in ihren Kirchen zu versammeln.

Als schließlich 2014 die russische Annexion der Krim und De-facto-Besetzung des Donbass für großen Unmut bei namhaften Klerikern innerhalb der weiterhin moskautreuen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche gesorgt hatte, brach ein Teil der ukrainischen Orthodoxie mit seiner Loyalität mit Moskau. Anstatt sich aber mit den Streitkräften der Ukraine loyal zu zeigen, verurteilte der moskautreue Kiewer Metropolit Onufrij weiterhin scharf die Ukrainisierung des Donbass und die „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Streitkräfte. Er weigerte sich sogar, während einer Rede des damaligen Präsidenten Poroschenko zu den Kampfhandlungen im Donbass aufzustehen. Unterdessen arbeitete Teil des bislang moskautreuen ukrainischen orthodoxen Klerus an seiner Abspaltung vom Moskauer Patriarchat.

Die Frucht dieser Bemühungen war 2018 das Konzil von Kiew. Damals hatten die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche sowie die gegen Onufrijs Einheitskurs protestierenden Kleriker beschlossen, sich gemeinsam zur „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ zu vereinen. Das Zusammengehen beider von Moskau unabhängigen ukrainisch-orthodoxen Kirchen wurde im Jahr darauf von Bartholomeus I., dem Patriarchen von Istanbul, bestätigt. Damit war das Schisma der Orthodoxen Kirche in der Ukraine besiegelt. In Kiew herrschten von nun an zwei Metropoliten: Onufrij war der von Moskau anerkannte Metropolit, sein Konkurrent Epifanij bezog seine Legitimation von nun an direkt aus der ehemaligen byzantinischen Hauptstadt. Mit etwa 45% der Bevölkerung hat seither die Orthodoxe Kirche der Ukraine die relative Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats vertritt etwa 13,3% der Ukrainer. Und etwa 6% entfallen auf die Ukrainische griechisch-katholische Kirche. Sie steht unter der Führung des Großerzbischofs Swjatoslaw Schewtschuk, den Benedikt XVI. zu ihrem Oberhaupt ernannt hatte.

Die papsttreue griechisch-katholische Kirche der Ukraine meldete sich bereits am Tag des russischen Angriffs zu Wort. Ihr Oberhaupt Schewtschuk verlautbarte: „Es ist unsere persönliche Verantwortung und heilige Pflicht als Bürger der Ukraine, unser Heimatland, unser Gedächtnis und unsere Hoffnung, unser gottgegebenes Recht auf Existenz zu schützen. Die Verteidigung unseres Heimatlandes ist unser natürliches Recht und unsere staatsbürgerliche Pflicht. Wir sind stark, wenn wir zusammenstehen.“ Und dass der Aufruf des Metropoliten Epifanij zur Verteidigung sehr kampfeslustig gehalten ist, verwundert vor dem Hintergrund der ukrainischen Kirchenspaltung wenig. Am Tag des russischen Angriffs ließ er die Gläubigen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche wissen: „Wir haben die Wahrheit auf unserer Seite. Deshalb wird der Feind mit Gottes Hilfe und der Unterstützung der gesamten zivilisierten Welt besiegt werden. Unsere Aufgabe ist es nun, uns zusammenzuschließen, dem ersten Schlag zu widerstehen und nicht in Panik zu verfallen. Wir glauben an die Vorsehung Gottes und an den Sieg der Wahrheit. Wir vertrauen unseren Streitkräften, unseren Verteidigern. Im Gebet sind wir bei all denen, die an vorderster Front gegen den Aggressor kämpfen.“

Zusammenstehen gegen die russische Aggression

Angesichts der Differenzen zwischen Epifanij und Onufrij könnte man denken, die Spaltung innerhalb der ukrainischen Orthodoxie könnte nicht tiefer sein. Und bis vor kurzem hätte man mit dieser Einschätzung Recht gehabt. Zumindest bis zum russischen Angriff, der für das Zusammenrücken beider Kirchen sorgte. Am 24. Februar, dem Tag der russischen Invasion, wandte sich der moskautreue Metropolit Onufrij mit einer dramatischen Videoansprache an seine ukrainischen Landsleute.
Zunächst begann Onufrij seine Ansprache auf Ukrainisch: „Brüder und Schwestern! Eine Tragödie hat sich ereignet. Russland begann mit Kampfhandlungen gegen die Ukraine. Die ukrainische orthodoxe Kirche war, ist und wird immer mit ihrem Volk sein. Ich wende mich heute an alle Amtsträger unserer Kirche und an alle Ukrainer. Verfallt nicht in Panik. Gott ist mit uns. In diesen Tagen seid ihr aufgerufen, euren Mut zu zeigen. Zeigt Liebe füreinander, für Gott und für euer Heimatland. … Verstärkt euer Bußgebet für unsere Ukraine und für unser Volk. Ich möchte mich auch an den russischen Präsidenten richten, Wladimir Wladimirowitsch Putin. Die ukrainische orthodoxe Kirche verteidigte seit jeher die Integrität und Souveränität unseres Staates. Und wir bitten Sie heute, Wladimir Wladimirowitsch“ – und hier wechselt er ins Russische – „den Krieg zu beenden.“

Weiter sagt er auf Russisch: „Unsere Völker, das ukrainische Volk und das russische Volk, sind beide aus dem Kiewer Taufbecken des Dnjepr hervorgegangen. Und es ist die größte Schande für uns, dass wir gegeneinander kämpfen. Einen Krieg zwischen solchen Völkern nennt man einen Kainsmord, denn er wiederholt den ersten sündhaften Mord, der sich auf der Erde ereignet hatte: als Adams Sohn Kain seinen jüngeren Bruder Abel ermordete.“ An die russische Seite gerichtet, ruft Onufrij weiter dazu auf, zum Dialog zurückzukehren, da Gott schließlich den Menschen die Gabe des Wortes gegeben habe. Daraufhin segnet er in ukrainischer Sprache die Soldaten seines Heimatlandes: „Möge Gott unsere Krieger beschützen. Wir drücken unsere besondere Liebe und Unterstützung unseren Soldaten aus, die Wache stehen und unser Land und unser Volk schützen und verteidigen. Möge Gott sie segnen, erhalten und ihnen helfen!“

Was daran für Putin besonders brisant sein dürfte: Onufrij ruft dazu auf, nicht die russischen Invasoren, sondern die ukrainischen Soldaten durchs Gebet zu unterstützen. Damit bringt ausgerechnet der moskautreue Metropolit das Narrativ durcheinander, die Ukraine sei ein Teil Russlands. Und dass er den Krieg einen Brudermord nennt, eine „Wiederholung der Sünde Kains“ nennt, verleiht seiner Botschaft eine theologische Grundlage. Es kommt auch ein weiterer, geschichtspolitisch äußerst relevanter Aspekt hinzu: Indem Onufrij die Verwurzelung der ukrainisch-orthodoxen Kirche im Volk betont, hält er der russisch-orthodoxen Kirche den Spiegel vor. Die hatte schließlich nach dem nationalsozialistischen Überfall auf die Sowjetunion der sowjetischen Regierung die folgende Botschaft übermittelt: „Unsere orthodoxe Kirche hat immer das Schicksal des Volkes geteilt. Sie hat dessen Prüfungen ertragen und wurde durch seine Erfolge getröstet. Sie wird ihr Volk jetzt nicht im Stich lassen. … In einer Zeit wie dieser, in der das Vaterland jeden zu einer Heldentat aufruft, wäre es für uns, die Hirten der Kirche, unwürdig, wenn wir dem schweigend zusehen würden, was um uns herum geschieht.“

Wie tief reicht die Spaltung?

In seinem neuesten Appell fordert Metropolit Onufrij den Moskauer Patriarchen Kirill auf, sein „hochpriesterliches Wort zu sprechen, damit das brudermörderische Blutvergießen auf ukrainischem Boden aufhört, und die Führung der Russischen Föderation aufzufordern, die Feindseligkeiten, die sich bereits zu einem Weltkrieg auszuweiten drohen, unverzüglich einzustellen.“ Der Kiewer Metropolit wird in Moskau mit seiner Bitte vermutlich wieder auf taube Ohren stoßen.

Und auch wenn für den aktuellen Augenblick – trotz verschiedener Nuancen – alle ukrainischen Kirchen hinter ihrem Volk stehen, scheint der Graben letztlich doch schon so tief zu sein, dass er langfristig kaum zu überbrücken ist. So ist etwa auf der Website der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats davon die Rede, dass ukrainische Nationalisten einige Kirchen des moskautreuen Patriarchats überfallen hätten. Dennoch sind die Reden aller drei Kleriker ein wichtiges Zeichen: Sie signalisieren der russischen Führung, dass das ukrainische Volk und seine Kirchen zusammenstehen.

Putin hat also nicht nur den „Informationskrieg“ gegen den Westen verloren. Wenn er den Angriff auf die Ukraine weiterführt, muss er sich von nun an darauf einstellen, einen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung zu führen. Die Ukrainer und ihre Kirchen ziehen an einem Strang, während innerhalb der russischen Bevölkerung der Unmut über die Kremltreue der Russisch-Orthodoxen Kirche wächst.

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