Olaf Scholz in Kiew und Moskau - „Es gibt keine Interessensphären in Europa“

Bundeskanzler Scholz hat seinen Besuch in Kiew dazu genutzt, Moskau eine diplomatische Brücke zu bauen: die potentielle Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Russlands Bestreben nach Einflusszonen seien zwei verschiedene Fragen. Wie Putin darauf reagiert, wird sich bei Scholz’ heutigem Besuch in Moskau zeigen.

Spürbare Distanz: Bundeskanzler Scholz und der ukrainische Präsident Selensky in Kiew / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Welchen Stellenwert die Reise von Bundeskanzler Scholz nach Kiew hat, wird wohl erst in einiger Zeit zu bewerten sein. Die von ihm und Präsident Selensky verkündeten Gesprächsinhalte können auf zwei Weisen gelesen werden. Zum einen hat der Bundeskanzler seine Positionen wiederholt und den Dreiklang aus Prinzipienfestigkeit bei Fragen von Souveränität und freier Bündniswahl, Flexibilität bei der Diskussion über die bestehende Lage und Standfestigkeit bei einer erneuten Aggression gegen die Ukraine betont. Andererseits hat Bundeskanzler Scholz eine Neudefinition der gesamten Lage angeboten, die zwei russische Interessen für alle kurzfristigen praktischen Zwecke voneinander trennt.

Das erste Interesse ist, die Ukraine davon abzuhalten, sich weiter nach Westen zu orientieren. Das zweite Interesse ist, mit den USA und der Nato zu Vereinbarungen über weiterreichende Einflusszonen in Europa zu gelangen. Präsident Putin steht vor dem Paradox, dass er, sofern er versucht, das erste Ziel mit Gewalt zu erreichen, das zweite Ziel in sehr weite Ferne schiebt. Je intensiver von Russland Gewalt gegenüber der Ukraine angewandt wird, desto geringer sind die Chancen auf gemeinsame Sicherheitsvereinbarungen. Denn die europäischen Staaten werden sich dann noch nachdrücklicher an die USA anlehnen, um ihre Sicherheit zu garantieren.  

Nato-Mitgliedschaft nicht auf der Tagesordnung

Bundeskanzler Scholz führte in Kiew aus: „Die Frage von Mitgliedschaft in Bündnissen steht ja gar nicht an. Deshalb ist es eigenwillig, zu beobachten, dass die russische Regierung etwas, das gar nicht auf der Tagesordnung steht, zum Gegenstand großer politischer Problematiken macht.“ Parallel wies er darauf hin, dass die Ukraine nunmehr die Gesetze „zur Verfügung stellen“ wird, die in den Minsker Vereinbarungen angelegt sind. Russland hatte sich stets beklagt, dass Frankreich und Deutschland nicht genügend Druck auf die Ukraine ausüben würden. Es sind aber wohl vor allem Anreize gewesen, mit denen Bundeskanzler Scholz nach Kiew kam, etwa weitere 300 Millionen Euro Kredite, die im Gesamtrahmen von 1,2 Milliarden Euro aus der EU enthalten sind. Dass die Bundesregierung wirtschaftliches Engagement in der Ukraine weiter fördern will, sagte der Bundeskanzler zu.  

Scholz war in seiner prinzipiellen Haltung glasklar. „Es gibt keine Interessensphären in Europa, über die andere Staaten beschließen können“, erklärte er. Er federte diesen Satz aber mit dem Hinweis ab, dass es darum ja momentan gar nicht gehe, sondern die Realität darin bestehe, auf allen Gesprächsebenen und in allen Gesprächsformaten die Deeskalation der Lage zu erreichen. Dass dies bedeutet, Russland müsse seine Streitkräfte zumindest teilweise zurückziehen, stand nach Scholz’ Ausführungen außer Zweifel. 

Schmale Öffnung für eine diplomatische Lösung

Präsident Selensky wiederum erklärte, dass die Ukraine auf das Ziel, Nato-Mitglied zu werden, nicht verzichten werde, es aber vielleicht ein Traum sei. Jedenfalls würde die Frage derzeit nicht gestellt. Und genau dies könnte die Lücke sein, die Scholz diplomatisch zur Sedierung der Lage nutzen könnte: dass die Frage der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gar nicht anstehe. Über was, so könnte er fragen, spreche man hier überhaupt? Nun hatte die Nato 2008 beschlossen, die Ukraine (und Georgien) aufzunehmen. Frankreich und Deutschland hatten verhindert, dass beide Staaten sogleich in ein Programm auf dem Weg zur Mitgliedschaft aufgenommen wurden. In Europa wurde dies so verstanden, dass man der Mitgliedschaft ja grundsätzlich zustimmen könne, wenn sie ja sowieso nicht kommt. In Russland wurde die Entscheidung allerdings anders interpretiert, nämlich als prinzipielle Aufnahmebereitschaft, die nur noch nicht umgesetzt wird.

Angesichts der massiven Drohung der russischen Streitkräfte gegenüber der Ukraine ist dies eine äußerst schmale Öffnung für eine diplomatische Lösung. Zusammen mit „Fortschritten“ in der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen könnte es allerdings Handlungsspielräume eröffnen. Dass Russlands Außenminister Lawrow zeitgleich seinem Präsidenten empfiehlt, die diplomatischen Bemühungen fortzusetzen, kann als Zeichen zur weiteren Auslotung von Entscheidungen gewertet werden, die beide Seiten tragen können. Auch der Hinweis aus dem russischen Verteidigungsministerium, dass Teile der Truppen nach Abschluss der Manöver zurückgezogen werden, könnte dies unterstützen.  

Die Gefährdung der Ukraine durch die russischen Truppen an drei Seiten ihrer Grenzen bleibt weiterhin objektiv hoch. Es ist gut möglich, dass dies auch noch für eine längere Zeit so bleiben kann. Eine rationale Kalkulation der Interessen an Sicherheit und Wohlstand müsste Russland von militärischer Gewalt gegenüber der Ukraine abhalten. Denn das zweite Ziel, Verhandlungen über die Sicherheitsordnung in Europa zu erreichen, ist aus russischer Interessenlage höher anzusetzen als die Einnahme der Ukraine. Ob dies Russland ebenso sieht, bleibt abzuwarten. Bundeskanzler Scholz wird die Antwort von Präsident Putin bei seinem heutigen Besuch in Moskau direkt erfahren.  

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