Olaf Scholz in Kiew - „Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“

Die vier EU-Staatschefs demonstrieren bei ihrem späten Besuch in Kiew Geschlossenheit. Aber folgt der Rest der EU der Empfehlung, der Ukraine einen Kandidatenstatus zu gewähren? In seinen Botschaften war Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron klarer als der deutsche Kanzler.

Klaus Johannis, Mario Draghi, Olaf Scholz und Emmanuel Macron mit Wolodymyr Selenskij am Donnerstag in Kiew / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Als die vier europäischen Staatschefs am Nachmittag unweit des Präsidentenpalasts im Zentrum von Kiew vor die Presse treten, könnte man beinahe vergessen, dass sich dieses Land seit bald vier Monaten im Krieg befindet: Die Sonne strahlt, rundherum steht alles in sattem Grün. Doch zwischen den vier EU-Staatschefs im Anzug steht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij wie immer seit Beginn des russischen Überfalls im olivgrünen T-Shirt mit dem Wappen seines Landes auf dem Ärmel.

Der wohl wichtigste Staatsbesuch in der Ukraine seit Kriegsbeginn geht zu Ende, und Selenskij gibt sich betont dankbar. „Die Einigkeit ist unsere Stärke“ sagt er, sowohl im Hinblick auf die Ukrainer als auch auf die Europäer. Selenskij hat in den vergangenen Monaten hoch gepokert: Er hat hart ausgeteilt gegen jene Länder, die lavierten zwischen einer klaren Unterstützung für Kiew und Versuchen, doch noch einen Kompromiss mit dem Aggressor Russland zu finden. Allen voran waren das Deutschland, Italien und Frankreich, deren Staatschefs heute neben ihm stehen. Selenskij hat sich nicht abspeisen lassen mit Versprechen, insbesondere bei Waffenlieferungen.

Klarer Fingerzeig von Scholz

Den heutigen Besuch von Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Mario Draghi und Klaus Johannis aus Rumänien kann der ukrainische Präsident nun als Erfolg verbuchen – das hohe Pokern hat sich ausgezahlt. Alle vier sprachen sich klar dafür aus, der Ukraine (sowie Moldawien) einen Kandidatenstatus für eine EU-Mitgliedschaft zu geben. „Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“, sagte heute in Kiew Bundeskanzler Scholz, wenn auch mit der Einschränkung, dass eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine eben nur möglich sei unter Erfüllung „klarer Kriterien, die von allen erfüllt werden müssen“, insbesondere in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das war ein klarer Fingerzeig auf die großen Probleme, die es in diesen Feldern bis heute in der Ukraine gibt: Erst vor kurzem hat Selenskij „par Ordre du Mufti“ die Fernsehsender seines Amtsvorgängers Petro Poroschenko abschalten lassen.

An diesem Freitag wird die Europäische Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob die Ukraine, Moldawien und Georgien einen Mitgliedsstatus bekommen sollen. Am Donnerstag kommender Woche werden dann die EU-Regierungschefs zusammenkommen, um letztendlich zu entscheiden. Die Entscheidung muss einstimmig fallen – nach diesem Donnerstag erscheint es wahrscheinlich, dass die Ukraine und Moldawien den Kandidatenstatus bekommen werden, Georgien aber noch nicht.

Selenskij zeigte sich auch beim Thema Waffenlieferungen „sehr zufrieden“ – entgegen der Äußerungen seines Botschafters in Deutschlands und eigenen früheren Äußerungen. Er betonte die Wichtigkeit des Luftabwehrsystems Iris-T zum Schutz ukrainischer Städte vor russischen Raketen, dessen Lieferung Scholz kurz vor seiner Reise nach Kiew versprochen hatte. „Ich bin sicher, dass Deutschland uns auch weiter helfen wird“, so Selenskij. Die ebenfalls gerade angekündigte Lieferung von Mehrfachraketenwerfern bezeichnete Scholz als „die, die jetzt gebraucht werden“ – zur Verteidigung über lange Distanzen. Neue konkrete Zusagen von Kiew aus gab es von Scholz jedoch nicht. Macron dagegen versprach die Lieferung von sechs weiteren Caesar-Haubitzen in den kommenden Wochen.

„Es geht um die Integrität und Souveränität der Ukraine“

Auch in seinen Botschaften war Macron klarer als der deutsche Kanzler: „Europa steht an Eurer Seite, solange, wie es nötig ist, bis zum Sieg“, sagte Macron. Scholz dagegen blieb bei der Feststellung, Russland müsse bedeutet werden, dass es keinen Diktatfrieden durchsetzen kann. Es gehe „um die Integrität und Souveränität der Ukraine“.

War es ein großer Tag für die Ukraine, gleichsam ein großer Tag für die EU? Politisch ist der Besuch, der ein Signal der europäischen Geschlossenheit sendet, ein großer Erfolg für die Ukraine. Militärisch bleibt die Lage für das Land sehr angespannt: In Sewerodonezk im Gebiet Luhansk greift Russland laut dem Armeechef aus gleichzeitig neun Richtungen an, die letzte Brücke, mit der die ukrainischen Verteidiger versorgt werden könnten, wurde von Russland zerstört. Sewerodonezk werden die westlichen Waffen nicht mehr retten – aber womöglich weitere Gebietsverluste verhindern.

Für die EU hat der Besuch Signalcharakter: Nicht umsonst nahmen die drei westeuropäischen Staatschefs der „alten EU“ Klaus Johannis mit auf die Reise. Damit wollten sie signalisieren, dass es beim Thema Ukraine keine Spaltung zwischen west- und osteuropäischen EU-Mitgliedern gibt. Die gibt es natürlich trotzdem: In Osteuropa unterstützt man – mit Ausnahme von Ungarn – klar und deutlich die Ukraine, auch in ihren Ambitionen, EU-Mitglied zu werden. Je weiter westlich und südlich man in der EU geht, desto geringer wird die Unterstützung. Der Moment der Wahrheit ist deshalb der kommende Donnerstag: Bei der Entscheidung über den EU-Kandidatenstatus der Ukraine wird die in Kiew demonstrierte Geschlossenheit auf die Prüfung gestellt.

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