Nordkorea - Warten auf den Grenzfall

Kim Jong-un hat als erster nordkoreanischer Machthaber seit Kriegsende südkoreanischen Boden betreten. Inzwischen wird sogar von möglicher Wiedervereinigung gesprochen. Als Blaupause gilt Deutschland. Aber taugen die Erfahrungen aus Ost und West für die Lage in Nord und Süd?

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Ein junger Südkoreaner zeigt seine Landesflagge während einer Busfahrt nahe der Demarkationslinie / Sarah Palmer
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Nein, heißt es im Abgeordnetenbüro von Chung Jong-sup, ein Mauerfall war das nicht. Zwar fuhr im Februar eine ranghohe Delegation aus dem Norden über den Landweg zum Besuch der Olympischen Spiele nach Pyeongchang in Südkorea. In einem symbolischen Akt überquerten die Pjöngjang-Gesandten den 38. Breitengrad, der Nord und Süd schwerbewaffnet voneinander trennt. Und was folgte, das war in Zeiten von Atomtests, Kriegsdrohungen und UN-Sanktionen schon sensationell: Nordkoreas Regent Kim Jong-un lud Südkoreas Präsidenten Moon Jae-in nach Pjöngjang ein. Zugleich hat Südkorea die Kosten für den nordkoreanischen Olympiabesuch übernommen.

Aber Chung Jong-sup, einer der profiliertesten Politiker und Akademiker seines Landes, insistiert: „Das alles ist sehr unklug. Es wird hier viel aufs Spiel gesetzt.“ Obwohl der elegante Herr im Rollkragenpulli und Sakko mit seinen Ansichten nicht nur Freunde hat, hören die meisten zu, wenn er spricht. Bis Südkoreas Konservative vergangenes Jahr die Macht an die Liberalen verloren, war Chung Verwaltungsminister, davor lehrte er als Professor für Verfassungsrecht an der elitären Seoul National University. Jetzt macht Chung als Parlamentsabgeordneter Opposition. Und in seinem Büro im linken Flügel der Nationalversammlung im Zentrum von Seoul sagt er zunächst etwas, worüber sich alle einig sind: „Ich wünsche mir ein geeintes Korea.“ Doch gleich fügt Chung Jong-sup hinzu: „Aber nicht so.“

Vorbild Deutschland

In Südkorea scheiden sich dieser Tage die Geister. TV-Sender, Tageszeitungen und Stadtgespräche drehen sich darum: Wie soll man sich gegenüber dem Norden verhalten, der seit Anfang des Jahres wiederholt das Gespräch sucht? „Wir müssen auf ihn zukommen“, rufen die Liberalen, denn nur durch Annäherung lasse sich Vertrauen aufbauen. „Aber dem Kim-Regime ist nicht zu trauen“, halten die Konservativen dagegen, das zeige doch die Vergangenheit. Trotz allem ist das Wort Wiedervereinigung auf beiden Seiten en vogue. Der derzeitige Streit im Land erinnert an jenen in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, als Willy Brandt gegen die Bedenken der CDU und der Vereinigten Staaten die Hand gen Osten ausstreckte. Doch sofern Deutschland als Wegweiser für die Lage in Korea dienen kann, wem geben die Erfahrungen aus Bonn und Berlin dann recht?

Im Imjingak-Park an der Grenze zu Nordkorea wird des Koreakriegs und der Teilung des Landes gedacht

Tatsächlich orientieren sich Politiker und Akademiker aus Korea an kaum einem Fallbeispiel so sehr wie am deutschen, wenn es um die sogenannte K-Frage geht, die Staatlichkeit der koreanischen Halbinsel, der Umgang mit dem Norden. Das Parlament in Seoul unterhält Arbeitsgruppen, die nur Deutschland analysieren. Südkorea schickt Delegationen nach Berlin und Bonn sowie an Universitäten im ganzen Land und lädt deutsche Experten zu sich ein. Hochschulen unterhalten Deutschlandinstitute. Schließlich sei es in den letzten Jahrzehnten nur den Deutschen gelungen, eine politische Teilung zu überwinden und ohne Krieg wieder zu einem gemeinsamen Staat zu werden.

Nordkorea bräuchte demokratische Legitimation

Nur wenn Südkoreas Präsident Moon Jae-in dieser Tage behauptet, Koreas Wiedervereinigung sei zwar noch weit entfernt, nähere sich aber in kleinen Schritten, dann dreht sich beim konservativen Chung Jong-sup der Magen um. Auf seinem tiefen Sessel im Büro sieht er gereizt aus, wenn er nur daran denkt. „Ich frage mich, was der Präsident mit solchen Statements sagen will. Und ob er überhaupt weiß, was er da sagt?“ Die Bedingungen des Nordens, um formal Wiedervereinigungsgespräche aufzunehmen, sind bekannt: Kim Jong-un erwartet, dass zuerst die USA ihre Militärpräsenzen aus dem Süden abziehen. „Aber ohne den Schutz der USA hätten wir keine Chance. Der Norden würde uns gleich überrollen.“ Dass Pjöngjang im Gegenzug sein Nukleararsenal verschrotten würde, bezweifeln viele. Schließlich würde das Regime wohl arg wackeln, sobald die militärische Potenz nachließe.

Und wozu sollten Wiedervereinigungsverhandlungen unter solchen Umständen führen? Südkoreas Verfassung schreibt mit Artikel 4 ohnehin vor, dass so etwas nur auf demokratischem Wege erreicht werden kann. Chung Jong-sup, der um die Jahrtausendwende an der Universität Freiburg nach Lehren aus der deutschen Einigung forschte, meint dazu: „Dies schließt ein, dass auch die nordkoreanische Regierung zuerst eine demokratische Legitimation bräuchte.“ Um das mit einem Beispiel aus der Praxis zu untermauern, schlägt er einen Ordner auf, der auf seinem Schreibtisch liegt. Oberhalb einer Übersetzung in koreanischer Schrift prangt da ein Zitat aus dem Bonner Bundestag, aus der Zeit direkt nach dem Mauerfall, Ende November 1989: „Es ist sogar denkbar, konföderative Strukturen zu erschaffen, um in Deutschland eine bundesstaatliche Ordnung zu errichten. Voraussetzung für einen solchen Schritt ist allerdings eine vom Volk legitimierte und demokratisch gewählte Regierung der DDR.“

Koreanische Wiedervereinigung wäre teuer

Sechseinhalb Jahrzehnte sind vergangen, seit Nord- und Südkorea nach einem drei Jahre währenden Krieg, der mehr als vier Millionen Tote forderte, einen Waffenstillstand vereinbarten. Nach so etwas wie Frieden hat es in dieser Zeit nur selten ausgesehen. Ende der neunziger Jahre reichte Südkoreas liberaler Präsident Kim Dae-jung dem Norden die Hand. Als das Präsidentenamt 2008 wieder in die Hände der Konservativen fiel, wurden viele der angeschobenen Kooperationen auf kultureller und ökonomischer Ebene rückgängig gemacht. Der Erfolg dieser sogenannten „Sonnenscheinpolitik“ ist heute umstritten. Doch nun, da die Liberalen erneut regieren, könnte auch eine neue Sommerzeit anbrechen. Wie die Gegner, Juraprofessor und Minister a. D. Chung eingeschlossen, verweisen auch die Befürworter der Annäherung auf Deutschland: Willy Brandts Ostpolitik habe den Wendepunkt markiert, von dem an Ost und West endlich anfingen, miteinander zu sprechen.

Nur: Wie viel haben Deutschland und Korea wirklich gemein? Da ist zunächst der Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die jeweilige Bevölkerungsgröße (in Nordkorea leben 25 Millionen Menschen, im Süden sind es 51 Millionen; in Deutschland waren es 1989 rund 16 Millionen im Osten und 64 Millionen im Westen) und der Wohlstandsvorsprung des liberalen Systems kommen hinzu. Aber hier steckt auch schon ein wichtiger Unterschied. Während das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung rund doppelt so hoch war wie das ostdeutsche, ist Südkoreas Wirtschaft pro Person und Jahr mehr als 20 Mal so stark wie die in Nordkorea. Eine koreanische Wiedervereinigung würde also noch deutlich teurer werden, als es die deutsche bis heute ist.

Verbittertes Verhältnis, kein kultureller Austausch

Und nicht nur wegen des Geldes sollte man zögerlich sein, findet Park Sang-bong. Der altgediente Mitarbeiter im Ministerium für Wiedervereinigung sitzt mit politischen Freunden in einem Restaurant im alten Zentrum von Seoul. Das Lokal wird von einer Geflüchteten aus dem Norden unterhalten, Park isst die Reisschale „Pjöngjang-Bibimbap“. „Mit unserer Teilung ist es noch viel extremer als in Deutschland“, sagt Park im Abendlärm des Lokals. „Wir Koreaner kennen uns gegenseitig kaum noch, es gibt keinen kulturellen Austausch. Das Verhältnis ist verbittert.“ Und Park Sang-bong kann durchaus nachvollziehen, dass es so gekommen ist. Zehn Jahre hat er im geteilten Berlin gelebt, studierte an der Freien Universität, ehe er in Südkorea zu einem führenden Beamten aufstieg und mittlerweile auch einen vergleichenden Blog über die Entwicklungen aus Deutschland und Korea schreibt. Park betont: „Die Deutschen haben sich gegenseitig nie militärisch angegriffen. Wir Koreaner führten drei Jahre Krieg gegeneinander. Wir misstrauen uns bis heute zutiefst.“

Tatsächlich ist dieses Misstrauen in beiden Ländern verbreitet. Die Betreiberin des Restaurants, in dem Park Sang-bong regelmäßig isst, um sich mit den hier kellnernden Flüchtlingen zu solidarisieren, geriet einst im Norden in Verruf. Grund war, dass ihre Großeltern während des Koreakriegs in den Süden gegangen waren, was deren Enkelin fortan das Leben schwer machte. In Südkorea wiederum, das erst 1987 demokratische Reformen einleitete, ist der Umgang mit dem Norden nicht weniger problematisch. Der liberale Präsident Moon Jae-in, der sozial- und wirtschaftspolitisch für deutsche Verhältnisse kaum links der Mitte einzuordnen wäre, wird wegen seiner diplomatischen Annäherungsversuche zum Norden auch als kommunistischer Ideologe diskreditiert. Konservative wiederum, die sich gegen solche Vorhaben auflehnen, werden von deren Widersachern rasch als Sympathisanten der alten Militärelite abgestempelt.

Annäherung mit langem Atem

Wie lassen sich solche Fronten aufweichen? Für seine Sicht der Dinge verweist Park Sang-bong wieder auf Deutschland. Als ihm zum Dessert die Wiedervereinigungskekse des Hauses gebracht werden, sagt er mit ernster Miene: „Falls wir wirklich eine Koexistenz mit gemeinsamen Regeln zuließen, müssten wir auch einen echten Austausch der Menschen ermöglichen.“ Wie einst das Passierschein­abkommen zwischen West- und Ostdeutschland, führt Park an, müssten auch Koreaner sich gegenseitig besuchen dürfen. Aber in beide Richtungen: „Die Nordkoreaner müssen sehen können, wie es sich im Kapitalismus lebt. Dafür sollten sie nicht erst zu Flüchtlingen werden!“ Und solange dies nicht passiert, müsse man dem Norden mit eiserner Härte begegnen: mehr Sanktionen, so lange, bis das Regime kollabiert.

Die Joint Security Area Panmunjeom, eine entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea

Aber verspricht diese Taktik mehr Erfolg als Annäherung mit langem Atem? 8000 Kilometer weiter westlich steigt Lee Eun-jeung die Treppen hinauf in den ersten Stock eines kleinen Hauses an der Berliner Fabeckstraße. Lee ist Professorin für Koreanistik an der Freien Universität, seit mehreren Jahren erstellt sie im Auftrag der koreanischen Regierung das größte Archiv deutscher Dokumente zur Wiedervereinigung. Ein ganzes Zimmer ist voll von Regalwänden mit koreanischen Übersetzungen zu allen möglichen harmonisierenden Regulierungen – von Militär über Familienpolitik bis zur Treuhandanstalt. Beim Durchforsten sämtlicher Gesetzestexte und Bundestagsdebatten ist Lees Befund nicht nur, dass Deutschlands Wiedervereinigung trotz aller Hektik und Korruption beachtlich sachlich abgelaufen sei. „Mit Blick auf Korea fällt auch auf, dass sich die politischen Lager dort aufgrund von Fehleinschätzungen an Deutschland orientieren.“

Die kurz gewachsene Dame mit langem Haar und kantiger Brille zieht ein gebundenes Skript aus dem Regal. Sie blättert durch Dokumente zum Nato-Doppelbeschluss, mit dem die Westmächte zwischen 1979 und 1983 beschlossen, mehr Raketen in Westdeutschland zu stationieren. Lee hebt den Kopf: „Die Politik der USA gegenüber Nordkorea beruht seit Jahrzehnten auf dem Irrtum, dass dieses Regime bald zusammenbrechen wird.“ Die militärische Aufrüstung Nordkoreas wiederum stehe im klaren Zusammenhang mit dem Konfrontationskurs des Westens. „Und der Beginn der deutschen Wende hatte mit der Aufrüstung des Westens ein paar Jahre zuvor nicht direkt etwas zu tun.“ Dass in Berlin die Mauer fiel, sei ein Zufall gewesen. Auf solch ein Wunder müsste ein Korea, das sich einander nicht annähern will, dann wohl warten.

Zuspruch von der breiten Mehrheit

Was aber, wenn sich die vertrackte Lage tatsächlich durch so einen unvorhersehbaren Umstand ändert – etwa, indem das Kim-Regime in die Knie geht und eine Öffnung wirklich beginnt? Wie wäre eine Wiedervereinigung dann zu bewältigen? Lee Eun-jeung ist zumindest mit Blick auf die Finanzen zuversichtlich. „Einerseits hat Südkorea eine relativ geringe Staatsverschuldung. Außerdem könnte sich der Präsident wohl an die Koreaner wenden und sie um ihren patriotischen Beitrag bitten. Als in der asiatischen Finanzkrise Ende der Neunziger die Wirtschaft zusammengebrochen war, gaben die Leute in Scharen ihre Autos und Ersparnisse ab, um Ressourcen für einen nationalen Rettungsfonds aufzubringen.“

Lee Eun-jeung stellt die Dokumente zurück ins Regal; was sie noch sagen will, hat sie im Kopf: Am Rande einer Veranstaltung zur koreanischen und deutschen Wiedervereinigung habe sie einmal Johannes Ludewig getroffen, den Bundesbeauftragten der Kohl-Regierung für den Aufbau Ost. Lee wollte von Ludewig wissen, warum man sich in Deutschland damals nicht an die Bürger gewandt hatte, um möglichst großzügige Spenden für die Wende zu erbitten. „,Frau Lee‘, sagte er mir mit einem betretenen Lächeln, ‚Sie wissen doch, dass dies bei uns nicht gegangen wäre. Das hätte den Beigeschmack der Kriegsanleihen gehabt, mit denen das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg mitfinanzierte.‘“ Für Korea, das so eine Bürde nicht zu tragen hat, ist sich Lee Eun-jeung sicher: „Die Wiedervereinigung wäre ein Zweck, den eine breite Mehrheit befürworten würde. Die Koreaner würden aufbringen, was sie können.“

Welche konkreten Verwaltungsschritte man dann vom deutschen Beispiel übernehmen sollte und welche lieber nicht, das prüft Lee Eun-jeung derzeit. Das Archiv sei noch lange nicht komplett.

Fotos: Sarah Palmer

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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