Nordirland - Der Fluch des Brexits

Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs destablisiert das Kräfteverhältnis zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Republikanern. In Nordirland fürchtet man in der traditionellen „Marching Season“ Ausschreitungen paramilitärischer Gruppen, die gegen die neue Zollgrenze im Irischen Meer Stimmung machen.

Marsch des Oranierordens in Portadown / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Jedes Jahr steigt in der „Marching Season“ die Spannung in Nordirland. Die protestantischen „Orange Orden“-Männer marschieren zwischen April und August besonders gerne durch katholische Stadtteile. Mit orangefarbigen Ordensbändern und schwarzen Melonen, aber auch allerhand anderen britischen Uniformen, gedenken die Unionisten dem historischen Moment anno 1690, als der in Holland geborene Protestant William II. von Oranien-Nassau den katholischen König James II. in der Battle of Boyne besiegte. Nur Protestanten dürfen Mitglieder im Orden sein. Die nationalistische Demonstration führt seit Jahrzehnten immer wieder zu bösem Blut zwischen protestantischen Loyalisten und katholischen Republikanern.

In diesem von der Corona-Pandemie und zugleich den Brexit-Folgen geplagten Sommer drohen in Nordirland neue Ausschreitungen, wenn die Märsche am 12. Juli ihren Höhepunkt erreichen. Um Gewalt zwischen loyalistischen paramilitärischen Gruppen und der Polizei zu vermeiden, hat die EU am Mittwoch einen Kompromiss angeboten und die „Grace Period“, eine Übergangsphase für gekühlte Wurtswaren, vom Stichtag 1. Juli um drei Monate bis Ende September verlängert. Die Briten sollen dafür bis dahin das Nordirland-Protokoll umsetzen.

Unionistische Nordiren fühlen sich verraten

Für die unionistischen Nordiren ist die neue Zollgrenze allerdings grundsätzlich ein Affront. Sie fühlen sich verraten. Nur: von wem? Von Boris Johnson, der den Brexit wollte und so durchführte, dass es heute eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien gibt? Oder von der EU, die auf die Einhaltung des zwischen Vereinigtem Königreich und EU geschlossenen Vertrages besteht?

Nordirland ist immer noch Mitglied im EU-Binnenmarkt – so wie die Republik Irland im Süden der Insel. Darauf hat die EU in den Brexit-Verhandlungen bestanden, um nach dem Brexit die grüne Grenze zwischen den Inselteilen zu schützen und Zollkontrollen zu vermeiden. Vor dem Belfaster Friedensabkommen von 1998 hatte die Irisch-Republikanische Armee IRA an dieser Grenze Bomben gelegt. Der Friede konnte nach Jahrzehnten der Gewalt erreicht werden, weil alle Beteiligten EU-Mitglieder waren und es dank des EU-Binnenmarktes keine Grenzen mehr gab, die nationalistische Gemüter reizen konnten.

„Das Protokoll muss weg“

Mit dem Brexit aber hat sich die Lage grundsätzlich verändert. Der britische Premier Boris Johnson unterschrieb 2019 ein Austrittsabkommen mit der EU, in dem die grüne Grenze zwischen Nord- und Südirland erhalten bleibt. Die neue Zollgrenze wird in das Irische Meer zwischen Nordirland und Großbritannien verschoben, weil die Briten für Johnsons harten Brexit auch aus dem EU-Binnenmarkt ausgetreten sind.

Boris Johnsons Regierung steht jetzt auf dem Standpunkt, dass die EU nicht darauf pochen soll, den Austrittsvertrag – und im Besonderen das darin enthaltene Nordirland-Protokoll – tatsächlich zu implementieren. „Die EU soll nicht so puristisch sein, sondern pragmatisch“, fordert auch Baroness Kate Hoey gegenüber dem Cicero. Die aus Nordirland stammende ehemalige Labour-Abgeordnete wurde von Boris Johnson für ihren unermüdlichen Einsatz in Sachen Brexit mit einer „Peership“ im House of Lords (und Ladies) belohnt. „Das Protokoll muss weg“, sagt sie klipp und klar. Die noridirische, unionistische Regierungspartei DUP sieht das auch so.

Klage abgeschmettert

Baroness Hoey hat sogar eine Klage beim Höchsten Gericht in Belfast gegen das Nordirland-Protokoll eingebracht. Dieses widerspräche dem Unions-Akt aus dem Jahr 1800. Am Mittwoch schmetterten die Höchstrichter die Klage der Baroness ab: Der Unions-Akt sei genauso verfassungsrechtlich relevant wie der Austrittsvertrag, der das Nordirland-Protokoll beinhält und der vom britischen Parlament angenommen worden ist. Der Austrittsvertrag, so die Richter, überschreibe das 200 Jahre alte Recht.

Die zweite große nordirische Regierungspartei, Sinn Fein, und die gleichnamige Schwesterpartei in Dublin dagegen machen nicht die EU, sondern den Brexit für die neuen Spannungen in Nordirland verantwortlich. „Wir haben den nordirischen Unionisten von Anfang an gesagt, dass es verantwortungslos, nicht weise und kontraproduktiv ist, den von Boris Johnson ausgehandelten Brexit-Plan zu unterstützen. Diese Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien ist eine direkte Folge des Brexit“, sagt Mary Lou McDonald, die Sinn-Fein-Präsidentin. „Eine politische Führung, die internationale Vereinbarungen einseitig außer Kraft setzt, fördert die Instabilität“, sagt McDonald gegenüber dem Cicero. „Die internationale Gemeinschaft muss sich klar hinter die Verträge stellen. Es ist nur fair, wenn die EU juristische Schritte einleitet.“

Im Ringen um eine neue Regierungsvereinbarung

Die EU droht zwar mit einem Vertragsverletzungsverfahren, hat aber am Mittwoch einen Kompromiss angeboten. EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič verkündete, die Übergangsfrist, wie von den Briten gefordert, bis Oktober zu verlängern – das Vereinigte Königreich soll im Gegenzug das Nordirland-Protokoll implementieren und weitere Zugeständnisse machen, etwa das Versprechen der Einhaltung von EU-Nahrungsmittelstandards.

In Belfast ringen Sinn Fein, DUP und die kleineren Parteien um eine neue Regierungsvereinbarung, damit sie wieder gemeinsam Nordirland regieren können. Seit DUP-Regierungschefin Arlene Foster von radikaleren Kräften in ihrer Partei im April gestürzt wurde, kämpft die DUP mit internem Chaos. Am Mittwochnachmittag wurde mit Jeffrey Donaldson immerhin ein neuer Parteichef bestätigt. Sein Credo lautet: Das Nordirland-Protokoll muss weg.

Politisch heikle nationalistische Bestrebungen

Die nationalistischen Bestrebungen der katholischen und protestantischen Bevölkerungsteile in Nordirland sind nicht nur politisch heikel. Die Region ist immer noch von der Gewalt der 60er-, 70er- und 80er-Jahre traumatisiert. Mehr als 3.500 Menschen wurden während der sogenannten „Troubles“ getötet. Damals war für 60 Prozent der Toten die irisch-republikanische IRA verantwortlich.

Nach einer Untersuchung der britische Regierung aus dem Jahr 2015 sind „alle paramilitärischen Gruppen, die in den Jahren der ,Troubles’ aktiv waren, immer noch existent“. Darunter sind die unionistischen Gruppen „Ulster Volunteer Force“, „Red Hand Commando“, „Ulster Defence Association“ und die republikanischen Gruppen „Provisional IRA“ und „Irish National Liberation Army“. Insgesamt soll es 12.500 loyalistische Kämpfer geben.

Gefahrenlage hat sich verschoben

Heute hat sich wegen des Brexits die Gefahrenlage verschoben. Die Gewalt geht jetzt eher von den loyalistischen paramilitärischen Gruppen aus. Die unionistischen Kräfte fürchten, dass die neue Zollgrenze und die Sonderregelungen des Nordirland-Protokolls die beiden irischen Teile enger zusammenrücken lassen, während sich Nordirland und Großbritannien voneinander entfernen.

Schon im April kam es deshalb zu Straßenschlachten. Die nordirische Polizei ist in Alarmbereitschaft: Wenn die „Marching Season“ in den kommenden Tagen ihren Höhepunkt erreicht, könnten sich die politischen Spannungen wieder auf der Straße entladen.

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