Gesichtserkennung - Big Brother an der Côte d‘Azur

Als erste europäische Stadt setzt Nizza die umstrittene Technologie der Gesichtserkennung für die öffentliche Sicherheit ein. Bringt die von einem Terroranschlag getroffene Riviera-Stadt chinesische Verhältnisse nach Europa? Ein Ortstermin

Safety first: Beim Karneval in Nizza müssen Besucher durch eine Sicherheitsschleuse/ picture alliance
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Verloren irrt das kleine Mädchen durch die Menschenmenge. Obwohl es in der sinkenden Wintersonne der Côte d'Azur einen Riesenschatten wirft, nimmt niemand Kenntnis von ihm. Eine Kamera schon. Knapp zwei Kilometer weiter vermeldet der Stadtpolizist vor seinem Kontrollschirm trocken: „Die gesuchte Person ist lokalisiert.“

Experiment gelungen: Aus 5.000 Karneval-Besuchern spürte das „Zentrum für städtische Überwachung“ (CSU) im Februar das gesuchte Mädchen im Nu auf. „Es war in Wahrheit meine eigene Tochter, die sich für den Versuch zur Verfügung gestellt hatte“, schmunzelt Sandra Bertin von der CSU-Leitung. „Dank der digitalen Gesichtserkennung dauerte es nur ein paar Minuten, bis wir sie mit Hilfe eines lapidaren Passfotos gefunden hatten.“

Konsequenzen aus dem Terroranschlag

Auch andere Freiwillige wurden mit Hilfe Jahre von Fotos aus der Menge gefischt, die teilweise schon einige Jahre alt waren. Die Polizei-Vizechefin ist ganz eingenommen von der Gesichtserkennungs-Software der israelischen Firma Any Vision: „Stellen Sie sich vor, wie nützlich es ist, in Echtzeit Kleinkinder oder Alzheimer-Patienten aufspüren zu können – aber auch Verbrecher oder Terroristen.“

Das Wort Terroristen hat in der Stadt Nizza, 340 000 Einwohner, einen besonderen Klang: An der Promenade des Anglais fuhr ein Attentäter 2016 mit einem Laster 84 Festbesucher zu Tode. Heute finden sich keine Spuren mehr entlang des berühmten Kiesstrandes. Oder doch: Die Flaniermeile wird nun gesäumt von hübschen Lauben mit seltsam breiten Betonfüßen. Ebenso wuchtige Pflöcke versperren die Zufahrt. Sie lassen sich aus dem Kontrollzentrum der Stadtpolizei per Joystick senken und hochfahren. Eine der derzeit 2.682 Überwachungskameras in den Straßen von Nizza ist permanent darauf gerichtet.

„Wir sind doch nicht in China!“ 

2.682 Kameras – eine gewaltige, europaweit rekordverdächtige Zahl. „Und während wir reden, ist sie schon wieder überholt“, frohlockt Sandra Bertin. „Jeden Monat nehmen wir ein paar neue in Betrieb.“ Nizza treibt den „Videoschutz“, wie er hier genannt wird, weiter als andere Städte, und das nicht erst seit dem mörderischen Anschlag von 2016.

Ein Überwachungsstaat im Kleinen? Bertin schüttelt entrüstet den Kopf: „Wir sind doch nicht in China! Wir wollen die Bürger nicht überwachen, wir wollen nur die Kriminalität bekämpfen.“ Doch wo liegt die Grenze? Die Antwort muss offen bleiben, denn jetzt kommt Bewegung in den verdunkelten Bildschirmsaal des CSU, wo sich über 60 städtische Schauplätze auf einmal beobachten lassen. 

Action-Szenen im Kasten 

„Verstärkung zum Bahnhof!“, ruft eine der 90 Angestellten – Frauen gelten hier als bessere Beobachterinnen als Männer – ins Mikrophon. Sie zoomt mit ihrem Joystick auf eine Seitenstraße. Die nächste Patrouille bricht auf. Bald ist die Situation unter Kontrolle; es war nur eine Schlägerei zwischen zwei Betrunkenen.

Sandra Bertin hat noch ein paar Action-Szenen im Kasten. Eine zeigt zwei Diebe, die einem Touristenpaar an der „Prom“ (Promenade des Anglais) 4.100 Euro abnehmen. Dank dem dichten Kameranetz lässt sich ihre Flucht auf einem Motorroller durch die halbe Stadt verfolgen. Und die dramatische Festnahme durch die Polizei. Eine andere Kamera filmte, wie zwei Jungs einen Personenwagen im Rotlichtmilieu ausrauben. Die in Echtzeit gefilmte Szene ermöglichte es einer nahen Patrouille, die Täter zu fassen.

Den Terroranschlag haben die Videokameras nicht verhindert

„Seitdem wir auch in der Tramlinie 1 Kameras installiert haben, sind die Taschendiebstähle dort um die Hälfte zurückgegangen“, sagt Bertin. Das in Nizza verpönte, aber verbreitete Parken n der Doppelreihe habe ganz aufgehört. Das alles dank der Videoüberwachung.

„Aber den Terroranschlag hat die Video-Überwachung nicht verhindert“, korrigiert Henri Busquet von der lokalen Menschenrechtsliga. Sein südfranzösischer Akzent verhärtet sich, als er erzählt, wie Bürgermeister Christian Estrosi noch ein Jahr zuvor geprahlt habe, in Nizza wären die Charlie Hebdo-Attentäter „schon bei der dritten Ampel gefasst“ worden. „Gegen den Lastwagenfahrer war das städtische Kameranetz aber wirkungslos“, sagt Busquet. „Und nicht nur dagegen.“

„Gefühls-Analyse“ von Gesichtern 

Für Sandra Bertin ist das nur ein Grund, noch weiter zu gehen. „Mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, hätten die Videokameras gegen das Attentat hilfreich sein können. Etwa mit einem Algorythmus, der ein auffälliges oder sonstwie abnormales Verhalten weitermeldet, wie zum Beispiel Erkundungsfahrten per Laster.“

Die Stadtpolizei von Nizza hat schon diverse Experimente durchgeführt, und sie sind laut Bertin technisch erfolgreich verlaufen: Neben der Gesichtserkennung am Karneval wurde auch die rundum automatische Verfolgung eines Verdächtigen durch das flächendeckende Kameranetz geprobt. Es funktionierte. Sogar die „Gefühls-Analyse“ auf den Gesichtern der Tram-Passanten wurde in der Tram geprüft. Überraschung, Angst, Wut könnten helfen, einen Alarm auszulösen, sagt die Polizistin.

Wie sieht es aus mit dem Datenschutz? 

Aktivist Busquet hat mehrere Einwände. Was, wenn ein einziger Passagier in der Menge nicht einverstanden ist, gefilmt zu werden? Und: Was ist schon ein „abnormales Verhalten“? „Die Gesichtserkennung könnte auch in einer politischen Protestdemo zum Einsatz kommen“, glaubt der ältere Menschenrechtskämpfer und erzählt, die oberste Chefin des CSU sei eine gute Freundin von Bürgermeister Estrosi.

Der konservative Stadtvorsteher, der im kommenden Frühjahr die Wiederwahl anstrebt, wird derzeit noch von der Nationalen Kommission für Informatik und Freiheit (CNIL) gebremst. Das Gremium aus Paris ist nicht generell gegen die Gesichtserkennung, macht ihre Einführung aber abhängig vom Erlass eines verbindlichen Datenschutz-Gesetzes. Solange die Frage der Datenspeicherung nicht geklärt ist, wünscht die CNIL auch keine Experimente mehr. Estrosi, der ebenfalls auch eine gesetzliche Regelung verlangt, versichert dagegen, dass beim Karneval in Nizza kein Gesicht länger als 0,2 Sekunden lang festgehalten worden sei.

„Unsere Bilder zirkulieren ohnehin überall“

Busquet will das nicht glauben. Mit seiner Skepsis steht er in Nizza aber fast so allein da wie das Mädchen im Karnevals-Experiment. Die Mittelschule Les Eucalyptus im Westteil der Stadt hat unlängst die Gesichtserkennung installiert, um den Zutritt zum Schulareal zu kontrollieren. Freiwillige Tester fanden sich problemlos. Vor Ort meint eine 17-Jährige schulterzuckend, während ihre Freundinnen nicken: „Unsere Bilder zirkulieren ohnehin überall.“ Mit „überall“ meint sie die sozialen Medien.

Die CNIL stoppte den Versuch nach einem Einspruch der Menschenrechtsliga, eines Elternverbandes und des Netzwerks La Quadrature du Net. Mittelschüler digital zu registrieren, nur um die Zutrittsformalitäten zu beschleunigen, sei nicht „verhältnismäßig“, sagt Busquet. Dieses Erfordernis sei in einer verbindlichen EU-Direktive enthalten.

Sprechende Videokameras 

Diese dringt aber nicht bisher nicht an die französische Riviera, wo viele sicherheitsbedürftige Rentner ihren Lebensabend fristen. Im Lokalzug entlang der malerischen Küste erklingt alle paar Minuten die Durchsage: „Die Bahn informiert Sie, dass dieser Wagen mit einer Überwachungskamera ausgerüstet ist.“

Halt in Mandelieu-La Napoule, einem schicken Vorort von Cannes, 23.000 Einwohner, der auch jede Menge Kameras installiert hat. Vizebürgermeister Guy Villalonga, zuständig für Sicherheit, verkündet im kommunalen Überwachungszentrum, hier gelte „Null-Toleranz“. Zu dem Zweck hat Mandelieu unter anderem sprechende Kameras eingeführt. „Guten Tag, hier ist die Stadtpolizei“, sagt die freundliche Polizistin vor der Bildschirmwand via Mikrophon zu einem Hundehalter im Stadtpark. „Bitte sammeln Sie den Hundekot ein. Vielen Dank.“

Die Kriminalität sinkt

Der Ertappte fragt sich nicht einmal mehr, woher die unsichtbare Stimme kommt; schuldbewusst senkt er den Blick und bückt sich, um sein Aufräumgeschäft zu erledigen. Zur Kasse gebeten werde nur, wer die Faust in Richtung Kamera recke und sich davonstehle, sagt Villalonga. Aus der kommunalen Verbrechensstatistik der ersten neun Monate dieses Jahres liest er vor: „Dank der Kameraüberwachung ist die Zahl der Einbrüche und Diebstähle um 49 Prozent zurückgegangen. 76 Missetäter sind – in flagranti oder nicht – festgenommen worden.“

Martin Drago vom kritischen Pariser Netzwerk La Quadrature du Net traut der Statistik nicht. „Bisher hat keine Studie den Beweis  erbracht, ob und wie Gesichtserkennung oder auch nur Kameraüberwachung die reale Sicherheit der Bürger erhöht“, sagt der Jurist. Trotzdem propagieren die Software-Anbieter ihr „smart city“-Konzept der künstlichen Intelligenz im urbanen Raum. Die Firma Two-i, die in der ostfranzösischen Stadt Metz Algorythmen zur Gefühlserkennung auf Gesichtern entwickelt, hat das Experiment in Nizza durchgeführt und offeriert auf ihrer Webseite „unbegrenzte“ Möglichkeiten der Gesichts- und Gefühlserkennung. Gegenüber Cicero wollte sie sich nicht äußern.

Kritik an „mangelnder Transparenz“

Das aktuelle Hauptproblem der Gesichtserkennung ist laut Drago die fehlende Transparenz: „Wer befindet über den Einsatz der Gesichtskontrollen? Und über die Speicherung der Daten? Da herrscht völliger Nebel.“ Und zwar nicht nur in Nizza. In Paris will Präsident Emmanuel Macron eventuell noch in diesem Jahr das Projekt „Alicem“ lancieren, nach eigener Darstellung das „europaweit erste staatliche Programm zur Schaffung einer biometrischen Identität“. Die Gesichtsdaten sollen Login und Passwort überflüssig machen, wenn nicht gar ganz ersetzen. Das entsprechende Experiment läuft seit einem halben Jahr, laut Innenministerium zur vollen technischen Zufriedenheit.

Kritik daran wird kaum laut. In Frankreich sei man seit den Zeiten von Ludwig XIV. oder Napoleon daran gewohnt, dass die Pariser Zentralmacht das Volk überwache, bedauert Drago. Sein Netzwerk hat gerichtlich Einspruch gegen „Alicem“ erhoben. Damit Biometrie nicht gleichbedeutend wird wie Big Brother.

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