Nachruf auf Shinzo Abe - Der mächtigste Japaner der Nachkriegszeit

Heute wurde der ehemalige Regierungschef Shinzo Abe auf offener Straße erschossen. Der am längsten regierende Premierminister Japans wollte während seiner Amtszeit den Einfluss des Landes in der Region stärken, die Wirtschaft auf Vordermann bringen und den in der Verfassung festgeschriebenen Pazifismus beenden.

Shinzo Abe in seiner Zeit als Ministerpräsident von Japan beim G20-Gipfel in Osaka / dpa
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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Shinzo Abe, der an diesem Freitag um 11.30 Uhr während einer Wahlkampfveranstaltung niedergeschossen wurde und später im Krankenhaus verstarb, war eine der schillerndsten Persönlichkeiten in der japanischen Politik. Während seiner Regierungszeit als Premierminister von 2006 bis 2007 und dann wieder von 2012 bis 2020 überstand Abe mehrere unangenehme Affären – von Vorwürfen der Vetternwirtschaft bis zum Vertändeln der Rentendaten von mehr als einer Million Japanern. Im Vergleich zu seinen Vorgängern zeichnete er sich durch einen autoritären, unbeirrten Auftritt aus. Und als wäre von Anfang an klar gewesen, dass sich dieser Mann oben halten würde, hob ihn das Magazin The Economist bereits im Frühjahr 2013, kaum ein halbes Jahr nach Antritt seiner zweiten Amtszeit, auf die Titelseite. Dort flog Abe im Superman-Kostüm durch die Lüfte. 

Am 20. November 2019 stellte der damals 65-Jährige dann einen Rekord auf: Er wurde zum am längsten regierenden Premierminister in der japanischen Geschichte. Zwar reichten dafür schon knapp acht Jahre im Amt, also weniger als zwei volle Legislaturperioden. Aber in der politischen Nachkriegskultur des ostasiatischen Landes, die für große Vorhaben nicht selten Neuwahlen erwartet und in der die Bürokraten oft mächtiger sind als ihr oberster Chef, verschleißen sich Premiers im Durchschnitt nach kaum zweieinhalb Jahren. Abe dagegen hatte seit 2012 fünf Unter- und Oberhauswahlen überstanden. 

Die unangefochtene Nummer eins 

Nie hatte Japan in seiner Nachkriegszeit einen mächtigeren Politiker. In der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) war der Nationalist Abe lange die unangefochtene Nummer eins, auch die Opposition konnte ihm jahrelang nicht mehr gefährlich werden. Was deshalb aber auch am Stolz Abes genagt haben dürfte, denn seine Bilanz als Regierungschef fiel eher bescheiden aus. Die Ankündigung einer Wiederbelebung der Wirtschaft, mit der er Ende 2012 den Wahlsieg errang, blieb unerfüllt. Abes Versuch, auf internationaler Ebene eine multilaterale Handelsordnung wiederzubeleben, wie er es im Juni 2019 als Gastgeber des G20-Gipfels in Osaka verkündet hatte, ist ergebnislos geblieben. 

Lange herrschte nur Krisenmanagement 

Für die älteste liberale Demokratie Asiens waren es keine guten Vorzeichen, die Shinzo Abe den Weg an die Spitze ebneten. Von Anfang an war es vor allem der Wunsch weiter Teile der Gesellschaft nach Kontinuität – nach einem Premier, der Dinge anpacken und umsetzen kann. Diesem diffusen Wunsch war eine für Industrienationen mittlerweile nicht mehr ungewöhnliche Mischung von Wahrnehmungen vorausgegangen. Enttäuschung über die regierenden Politiker paarte sich mit allgemeiner Verunsicherung inmitten gesellschaftlicher Veränderungen. Alles vermengte sich zu einem obskuren Gefühl nationaler Krise. 

Für politische Enttäuschungen hatte in den Jahren 2009 bis 2012 die linksliberale Demokratische Partei Japans (DPJ) gesorgt. Von ihren Reformversprechen (vor allem ein stärkerer Sozialstaat und ein offeneres Ohr für die Bedürfnisse der Menschen) hatte sie nur wenig umgesetzt. Dabei war die DPJ angetreten, um nach Jahrzehnten fast ununterbrochener LDP-Herrschaft moderner und weniger korrupt zu regieren. Zu allem Unglück kamen im März 2011 ein Erdbeben der Stärke 9 und ein Tsunami mit mehr als 20 Meter hohen Wellen, durch den das Atomkraftwerk Fukushima ­Daiichi havarierte. An den Katastrophentagen starben 20.000 Menschen, im 30-Kilometer-Radius um das Atomkraftwerk musste evakuiert werden; Hunderttausende verloren ihr Zuhause. Die als Regierungspartei junge DPJ sah angesichts ihres Krisenmanagements nur noch alt aus. 

Nicht mehr das, was es mal 

Auf die gesellschaftliche Verunsicherung, die sich schon über Jahrzehnte im Land ausgebreitet hatte, hatte auch die DPJ keine Antworten gefunden. Nach einem Börsencrash im Jahr 1990, der den bis dahin über Jahrzehnte andauernden Wirtschaftsboom jäh beendet hatte, rutschte Japan zunächst in eine Krise. Es folgten die sogenannten „zwei verlorenen Jahrzehnte“, in denen die Wachstumszahlen häufig um den Nullpunkt oszillierten und sich irreguläre Beschäftigungsverhältnisse ausbreiteten. Durch Konjunkturprogramme wuchs die Staatsverschuldung, die Realeinkommen hingegen stiegen kaum. 

Für den damaligen Oppositionspolitiker Shinzo Abe war das die große Chance. Er zeichnete ein Bild nationaler Krise. Schließlich hatte Japan in all den Jahren ökonomischer Stagnation die Stellung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt verloren – ausgerechnet an den ungeliebten Nachbarn und historischen Rivalen China. Und in Umfragen zeigte sich nicht nur, dass Japaner immer deutlichere Vorbehalte gegenüber den zusehends zu Wohlstand gelangenden Chinesen hegten. Sondern auch, dass sie ihr eigenes Land immer pessimistischer betrachteten. Die LDP befand: Japan ist nicht mehr das, was es mal war. Aber mit der richtigen Regierung könnte das Land wieder „auferstehen“. 

„Japan zurückholen“ 

Im Herbst 2012, eineinhalb Jahre nach der Katastrophe von Fukushima, gab Shinzo Abe dem desillusionierten Wahlvolk eine einfache Antwort auf komplizierte Fragen: „Nippon wo torimodosu“, auf Deutsch: „Japan zurückholen“. Der damals 58-Jährige beschwor alte Zeiten herauf, in denen das Wirtschaftswachstum hoch und der Optimismus kräftig war. Auf Grundlage seines viel zitierten Buches „utsukushii kuni e“ („Hin zu einem schönen Land“) versprach er den Japanern auch eine Nation, die sich mit breiter Brust und starkem Militär gegen aggressive Nachbarn behaupten könne. Abes folgender Wahlsieg war ein Lehrstück für Kampagnen wie „America first“ (Trump) und „Take back control“ (Brexit). 

Viele Menschen überzeugte der heutige Premier zwar nicht, die Wahlbeteiligung erreichte mit 59,3 Prozent den seit Kriegsende niedrigsten Wert bei einer Wahl für das Unterhaus, der mächtigeren der zwei Kammern im japanischen Parlament. Aber unter denen, die wählen gingen, traute eine Mehrheit der LDP zu, dass sie mit einer klaren Marschroute das Land durch diese ungewisse Zeit führen könne. Immerhin hatte die LDP seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast durchgehend regiert und war die Architektin von Japans Wirtschaftswunder. Wer, wenn nicht diese Partei, sollte etwas von Wiederaufstieg verstehen? Zumal unter der Führung Shinzo Abes, dem Spross einer Politikerdynastie. Abes Großvater, Nobusuke Kishi, hatte Japan im Zweiten Weltkrieg als Minister gedient und war Ende der fünfziger Jahre Premierminister. Eisaku Sato, Shinzo Abes Großonkel, war von 1964 bis 1972 Premier. Shintaro Abe, Vater von Shinzo, war in den achtziger Jahren Außenminister. 

Ein lang geplanter Rückschlag 

Tatsächlich hat Shinzo Abe für politische Stabilität gesorgt. Von den acht Männern, die unmittelbar vor ihm Premierminister waren, hatten sich nur zwei länger als ein Jahr gehalten. Alle litten unter schnell sinkenden Beliebtheitswerten, die meisten sahen sich einer Pattsituation zwischen den beiden Parlamentskammern ausgesetzt. Größere politische Vorhaben starben dadurch oft schon bei ihrer Geburt. Zu diesen schnell gescheiterten Premiers hatte auch Abe selbst gehört. Von 2006 an, als er erstmals die Regierung anführte, konzentrierte er sich schnell auf einige konservative Themen, die bei der Mehrheit der Japaner wenig Anklang fanden. Dazu gehörten ein Versuch zur Lockerung von Arbeitnehmerrechten und die Aufwertung der Verteidigungsressorts zu einem vollwertigen Ministerium. Als die LDP daraufhin bei der Oberhauswahl 2007 schlecht abschnitt, trat Abe offiziell wegen gesundheitlicher Probleme zurück. Der Mann galt als politisch genauso schnell erledigt wie seine Vorgänger. Aber er holte nur zu einem lang geplanten Rückschlag aus. 

Aus seiner glücklosen ersten Periode als Premier hatte Abe gelernt, dass es klug sein kann, nicht alle Vorhaben auf einmal anzugehen, dass der Erfolg eines Politikers nicht unwesentlich auf gutem Timing basiert. Und dass auf dem Weg zum Ziel viele Manöver nötig sein können, die mit dem eigentlichen Ziel vermeintlich wenig zu tun haben. 

Die politische Vision Shinzo Abes ist schnell erklärt. Wie seinen Amtsvorgängern schwebte ihm ein Japan vor, das sich in der Welt behaupten kann und als regionaler Hegemon Einfluss im pazifischen Raum ausübt, daheim gestärkt durch einen starken Staat. Andere Politikbereiche waren diesem höheren Ziel untergeordnet. Im Wahlkampf 2012 gab Abe selbst zu, dass er „nicht besonders vertraut mit Finanzpolitik“ sei. Sein Interesse lag in Diplomatie und Sicherheit. 

Land ohne Militär 

Es nagt am Selbstverständnis der in Japan einflussreichen Nationalisten, zu denen Abe an vorderster Stelle gehörte, dass China ihrem Land allmählich in mehrfacher Hinsicht den Rang abläuft. Über die letzten Jahrzehnte hat Japans Abhängigkeit von China als Handelspartner zugenommen, während umgekehrt China immer weniger auf den japanischen Markt angewiesen ist. Bis in die neunziger Jahre fürchtete der Westen noch die Unternehmen aus Japan und umgarnte dessen Konsumenten. Heute orientiert sich die Welt nach China. Und weil Japans Bevölkerungsgröße nur auf ein Zehntel von der Chinas kommt, dürften sich all diese Entwicklungen bis auf Weiteres zuspitzen. Japan gerät gegenüber seinem großen Nachbarn, dem sich gerade die Nationalisten kulturell überlegen fühlen, ins Hintertreffen. 

Abes Lösungsansatz, sein Land auch deshalb wieder zu einer militärischen Macht aufzubauen, war durchaus konsequent. China, dessen ökonomisches Wachstumspotenzial seinen Zenit wohl überschritten hat, versucht sich unter Präsident Xi Jinping umso aggressiver in territorialer Expansion. Wo es nur kann, ob in Hongkong, im Südchinesischen Meer oder rund um die von Japan kontrollierten Inseln, erhebt es mit offensiver Rhetorik und militärischem Muskelspiel Gebietsansprüche. 

Mit der Wirtschaft hat Abe angefangen. Mittels „Abenomics“, einer einfachen Strategie mit hochtrabendem Namen, wurde den Japanern das Blaue vom Himmel versprochen. Auf das seit mehr als zwei Jahrzehnten geringe Wachstum, das seine Ursachen vor allem im bereits erzielten Reichtum im Land und in der schrumpfenden Arbeitsbevölkerung hatte, sollte ein Boom folgen. Abenomics waren eine Mischung aus hohen Staatsausgaben, sehr lockerer Geldpolitik und vermeintlich wachstumsfördernden Strukturreformen. Superkräfte waren nicht im Spiel. 

Schonungslose Berichterstattung über die Wirtschaftspolitik und andere Themen musste Abe allerdings kaum fürchten. Kurz nach Amtsantritt besetzte er den Vorsitz von Japans öffentlichem Rundfunksender mit seinem politischen Freund Katsuto Momii. Momii bekundete bald, dass er Kritik an der Regierung seitens des Rundfunks für „verwirrend“ halte. Zudem brachte Abe ein Gesetz durchs Parlament, das es der Regierung ermöglicht, bestimmte Themen zum Staatsgeheimnis zu erklären. Whistleblowing und Berichterstattung darüber konnten seitdem mit Gefängnis bestraft werden. Mehrmals wurden Medien auch eingeschüchtert, Fernsehsendern drohte Abes Kabinett schon mit dem Lizenzentzug. 

Notwendiger Verfassungsbruch? 

Mit dem Versprechen eines bald einsetzenden Wirtschaftsbooms hatte sich Abe Zeit gekauft, mit der Gängelung der Medien relative Ruhe in einer überwiegend pazifistisch eingestellten Nation hergestellt. In diesem Umfeld versuchte er sich Schritt für Schritt auf dem Weg „hin zu einem schönen Land“, wie es ihm vorschwebte. Das Budget der Selbstverteidigungskräfte hatte Abe erhöht. Um die heimische Rüstungsindustrie zu unterstützen, durfte diese erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder ihre Produkte exportieren. Seit 2015 interpretierte die Regierung den „pazifistischen“ Verfassungsartikel 9 („Das japanische Volk entsagt dem Krieg als souveränem Recht der Nation sowie der Abschreckung oder der Nutzung von Gewalt als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte“) zudem so, dass Japan sehr wohl zur Waffe greifen darf, sobald die eigene Sicherheit oder die eines strategischen Partners bedroht ist. Die meisten Experten hielten diese Auslegung für einen Bruch der Verfassung. Abe hingegen erachtete sie als notwendig, um für die Spannungen in der Region gewappnet zu sein. 

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