Trotz Brexit-Referendum - Warum wir Volksabstimmungen brauchen

Der Schock sitzt tief nach dem Brexit-Referendum. Wusste das britische Volk, was es da tat? Doch angesichts des Ergebnisses die direkte Demokratie zu verteufeln, wird das Misstrauen der Bürger nur verstärken. Mehr Bürgerbeteiligung ist Europas einzige Chance

Wahlzettel zum Brexit-Referendum. Bild: picture alliance
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Autoreninfo

Ralf-Uwe Beck ist Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V.

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Die Welt schaut am Morgen nach dem britischen Referendum auf die Abstimmungsergebnisse – und erschrickt: Brexit! Wie konnte das passieren? Großbritannien und die Europäische Union gehen getrennte Wege. Schon werden Anforderungen an die Gütertrennung gestellt und gefordert, die Briten für diesen Auszug teuer bezahlen zu lassen. Scheidungsrhetorik. Und wie immer, wenn sich Partner trennen, stellt sich sie Frage, wie das bloß passieren konnte. Wer trägt die Schuld?

Jetzt die direkte Demokratie für den Brexit haftbar zu machen, ist so, als würden wir das Recht auf Scheidungen für die Scheidungen selbst verantwortlich machen. Die direkte Demokratie hilft zu offenbaren, wie es um eine Gesellschaft bestellt ist. Sie hilft, ihren Zustand zu erkennen. Sie ist für die Gesellschaft wie ein Spiegel. So wenig wie ein Spiegel verantwortlich ist für das, was er abbildet, so wenig ist die direkte Demokratie für den Zustand einer Gesellschaft verantwortlich. (Im Übrigen diskutieren wir nach einer Wahl, wenn uns das Wahlergebnis nicht zusagt, auch nicht die Änderung oder gar Abschaffung des Wahlrechts.)

Jung vs. Alt, Schotten vs. Engländer

Tatsächlich wissen wir jetzt mehr darüber, wie die Briten über Europa denken und auch die Briten selbst heften sich nun Denkzettel an die Pinnwand der gesellschaftlichen Aufgaben. Knapp 75 Prozent der unter 25-Jährigen waren für den Verbleib in der EU, 60 Prozent der über 60-Jährigen dagegen. Ein Generationenkonflikt. Auch die Kluft zwischen Schotten und Engländern ist wieder aufgebrochen, ablesbar an den sehr unterschiedlichen Abstimmungsergebnissen.

Zu reflektieren wird auch sein, welches machtpolitische Spiel die offizielle Politik mit dem Referendum getrieben hat. Und warum die mit der EU vereinbarten Reformansätze, die bei einem Verbleib Großbritanniens gegriffen hätten, kaum kommuniziert wurden. Sie wären auf eine stärkere Rolle Großbritanniens und der Nationalstaaten überhaupt hinausgelaufen.

Die Idee Europas ist verblasst

Der Brexit hat auch den Teppich gelüftet, unter den seit Jahren die Kritik an der EU gekehrt wird. Hier stellen sich ganze Aufgabenkataloge an die Europäische Union selbst wie auch an ihre Mitgliedsstaaten. Nicht nur viele Briten empfinden die EU als elitär und abgehoben. Das Gefälle zwischen den Ländern und die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich lassen die Idee Europas verblassen. Eine Union, die ihren Schwerpunkt darauf legt, ihre Wirtschaftsmacht zu vergrößern, aber die Ohnmacht der Menschen nicht mehr sieht, wird mit Vertrauensverlust bestraft.

Die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, die sich bis in jede Kommune hinein auswirken können, soziale Standards ebenso hintertreiben wie solche für den Umwelt- und Verbraucherschutz, haben eine europaweite Widerstandsbewegung auf den Plan gerufen, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat.

Mehr Demokratie!

Die Menschen verlangen danach, von der EU überhaupt wahrgenommen zu werden und ziehen deshalb zu Hunderttausenden auf die Straße. Man mag bedauern, dass erst der Austritt eines Mitgliedsstaates die Diskussion darum befeuert, wo es schwelt in dieser EU. Aber daraufhin mehr noch als bisher auf eine EU der Eliten zu setzen, wäre das Gegenteil dessen, wonach die Menschen verlangen. Im Gegenteil: Europa muss demokratischer werden.

Nur ein Instrument hält die EU bisher parat, um der Kommission von Bürgerseite zu signalisieren, worum sie sich bitte kümmern soll: die europäische Bürgerinitiative. Dieses Bonsai-Beteiligungsinstrument ist dringend reformbedürftig. Auch das Europäische Parlament sieht das so, die Kommission aber stellt sich blind und taub.

Dabei sind Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie nicht eine Gefahr, sondern der Ariadnefaden, an dem entlang sich Europa zurück zu seinen Ideen und Werten hangeln kann. Das Misstrauen, das die Menschen gegenüber der EU haben, könnte die Kehrseite des Misstrauens sein, das die EU gegenüber ihren rund 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern erkennen lässt. Mit anderen Worten: Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie könnten Wege eröffnen, auf denen sich Vertrauen wiedergewinnen lässt. Die direkte Demokratie angesichts des Brexit zu diskreditieren, heißt auch, diese Wege zu verbarrikadieren.

Volksabstimmungen statt Referenden

Zu einfach wäre allerdings die Formel, es müsste nicht weniger, sondern mehr Referenden geben. Auf europäischer Ebene (wie auch auf Bundesebene in Deutschland) fehlt die direkte Demokratie gänzlich. Notwendig wäre die Möglichkeit, Volksbegehren initiieren zu können, so dass die Bürgerinnen und Bürger von unten Themen auf die politische Tagesordnung setzen und notfalls auch bis zu einer Abstimmung durchtragen könnten. Die Politik könnte wie über einen Seismografen ablesen, was den Menschen auf den Nägeln brennt – und reagieren. Diese Form der direkten Demokratie, die „von unten“ ausgelöste Volksabstimmung, ist viel weniger zugänglich für Machtspiele als „von oben“ angesetzte Referenden.

Natürlich verbindet sich mit dieser Forderung ein Menschenbild, das jede und jeden in der Gesellschaft als fähig ansieht, Bürgerin und Bürger zu sein, also für die Gesellschaft auch zu bürgen, sich verantwortlich zu zeigen. Ja, es gibt komplexe Themen. Der Austritt aus der EU ist bestimmt ein solches. Aber können wir, weil uns der Brexit missfällt, Tante Emma und Bob dem Baumeister absprechen, dass sie sich eine Meinung bilden und eine Position haben?

Kein Thema ist zu komplex

Es gab 57 Volksentscheide auf nationaler Ebene zu europäischen Fragen. 70 Prozent davon sind für eine europäische Integration ausgegangen. Meint wirklich jemand, die Schotten und die Nordiren seien intelligenter als die Engländer, nur weil sie gegen den Brexit votiert haben? Wer hat das Recht, zu entscheiden, ob ein Thema zu komplex für das Volk ist? Nur das Volk selbst! Mit der direkten Demokratie von unten kommt es nur zu einer Abstimmung, wenn die Unterschriftenhürde bei einem Volksbegehren genommen wird. Hier zeigt sich und zeigt das Volk selbst, ob es ein Thema für zu schwierig oder zu schwerwiegend ansieht.

Und generell gilt, was Olof Palme, der 1986 ermordete schwedische Ministerpräsident, formuliert hat: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß oder zu kompliziert sind. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. Politik ist zugänglich, ist beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“ Damit sei zugleich der Finger in eine offene Wunde dieser EU gelegt: Mehr Demo-, weniger Bürokratie!

Jetzt ein Verfassungskonvent

Der Brexit sollte in einen Verfassungskonvent münden, wie ihn der Lissabon-Vertrag für grundlegende Veränderungen auch vorsieht. Das wäre der Zieleinlauf dafür, Europa neu zu denken. Dabei liegt es nahe, diese Zukunftswerkstatt nicht nur den Eliten zu überlassen, sondern für Bürgerinnen und Bürger offen zu halten und auch den Konvent selbst demokratisch zu legitimieren. So könnte auch die mit dem Brexit ausgelöste Krise zur Chance für Europa werden.

Und die Rechten, was, wenn sie die direkte Demokratie nutzen? Beteiligungsinstrumente stehen allen in der Gesellschaft offen. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie einen breiten Dialog anstoßen. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, sagt Hölderlin. Dafür aber muss ausreichend Zeit, müssen die Fristen lang sein. Selbstverständlich braucht es eine wache Zivilgesellschaft, die bereit ist, in Auseinandersetzungen zu gehen, mit den Menschen zu reden. Dafür muss sie die Menschen als würdig ansehen und sie nicht als „doofes Volk“ abtun, sondern sie ernst nehmen. Dann ist die direkte Demokratie weniger anfällig für Populismus als die parlamentarische.

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