Nach dem Brexit-Votum - Großbritannien im Ausnahmezustand

Der britische Politikbetrieb erinnert derzeit an eine Tragödie von William Shakespeare. David Cameron und Boris Johnson haben mit ihren Machtkämpfen nicht nur die eigenen Karrieren, sondern auch die Zukunft des Landes aufs Spiel gesetzt. Profitieren könnten davon zwei Frauen

Sind Boris Johnson inzwischen Zweifel gekommen? Bild: picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Boris Johnson sorgte Donnerstag Mittag für eine nachrichtliche Atombombe. Der ehemalige Bürgermeister von London war das wortgewaltige Sprachrohr der Brexit-Kampagne gewesen. Ihm hatte man immer unterstellt, er habe sich nur aus einem Grund auf die Seite der EU-Feinde gestellt: um David Cameron im Falle eines Sieges als Premierminister in Nummer 10 Downing Street zu beerben. In der Stunde seines Triumphes aber machte der 52-jährige Konservative mit der exzentrischen Strohfrisur einen Rückzieher: Für die neue Ära braucht das Land einen neuen Anführer, meinte er spitzbübisch, „ich werde dieser Mann aber nicht sein“.

William Shakespeare wird in Großbritannien ja öfter zitiert, aber derzeit sind Analogien zu seinen Königsdramen in aller Munde. Der politische Meuchelmord unter Freunden ist in den vergangenen vier Monaten von der Tory-Spitze für das 21. Jahrhundert neu adaptiert worden. Die „Posh Boys“ („Piekfeine Jungs“) David Cameron, Boris Johnson, Michael Gove und George Osborne, die mehr oder weniger gemeinsam aufgewachsen sind, die gleichen Schulen und Universitäten besucht haben und deren Familien miteinander verwoben sind, sind in einen rücksichtlosen und auch sinnlosen Machtkampf verwickelt, der die politischen Karrieren von allen vieren beendet haben dürfte. Selbst Michael Gove, bisher ein Justizminister von solider Blassheit, fiel erst David Cameron und dann Boris Johnson wie ein hysterischer Pennäler in den Rücken, um am Ende selbst als Kandidat für Nummer 10 Downing Street ins Rennen zu gehen.

Großbritannien ist eine Woche nach dem Brexit-Votum ein Land in Schock und Chaos. Eines der stabilsten Länder der Welt mit einer der stärksten demokratischen Traditionen wirkt plötzlich wie eine Anarchie, in der unreife Politiker ohne Not das Wohl des Volkes und die Zukunft des Landes verspielen. Das Pfund ist abgestürzt, die mittel- bis langfristigen Folgen des Brexit lassen sich noch nicht abschätzen. Die Rating-Agentur Standard & Poor aber hat den Briten schon mal das dritte A gestrichen und sie abgestraft: Der Ausblick sei wegen des Brexit „negativ“.

Nicht nur die EU wird kleiner

Langsam dämmert den Engländern, wofür sie da so leichtfertig gestimmt haben. Sie haben ihrem Land geschadet, dass jetzt einige Jahre mühseliger Verhandlungen vor sich hat, an deren Ende ein kostspieliges Abkommen über einen Wiedereintritt in den Binnenmarkt mit weitgehender Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus der EU oder – Variante Zwei  – simple Isolation der mittelgroßen Industrienation steht.

Was heißt mittelgroß? Schon in den ersten Tagen ist sonnenklar, dass die Zerfallserscheinungen nicht nur die EU betreffen. Großbritannien selbst hat sich auf einen Schrumpfprozess vorzubereiten. Denn die Schotten freuen sich ganz ungemein, dass ihnen die Entscheidung gegen die EU die Legitimation für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum verschafft hat. „Wenn wir uns entscheiden müssen zwischen der Europäischen Union und England“, strahlt ein ganz offensichtlich vergnügter Alex Salmond, der die Schotten 2014 ins erste Referendum geführt hatte, „dann bleiben wir lieber in der EU.“ Seine Nachfolgerin Nicola Sturgeon hat den Schotten glaubhaft vermittelt, dass ihre Zukunft als unabhängiger Staat in der Europäischen Union liegen soll – 63 Prozent haben beim EU-Referendum für den Verbleib gestimmt. Sturgeon hat bereits diese Woche inoffizielle Verhandlungen in Brüssel begonnen.

Das Ende Großbritanniens könnte somit schon 2017 kommen. Denn Salmond stellt klar: „Wir wollen Kontinuität in der EU, Schottland will nicht gemeinsam mit England aus der EU austreten.“ Bisher hält sich die EU bedeckt, aber Salmond meint schlau: „Es könnte der EU durchaus gelegen kommen, wenn ein Land aus- und ein anderes eintritt.“ Dann bleibt die Zahl der Mitglieder bei 28.

Die neue EU-Grenze verläuft mitten durch Irland

Das Beispiel Abspaltung könnte Schule machen. Immerhin bedeutet der Brexit, dass es erstmals in der Geschichte eine echte Grenze zwischen Nordirland und der unabhängigen Republik Irland geben könnte. Irgendwie wird die EU-Außengrenze zu schützen sein und die verläuft nach dem Ausstieg der Briten durchs irische Land. Bisher schützte der Status der EU das unter Mühen nach einem blutigen Bürgerkrieg ausgehandelte Karfreitags-Abkommen 1998 zwischen nordirischen Unionisten und nordirischen Republikanern. Damit könnte es unter den momentanen chaotischen Umständen bald vorbei sein.

Die unfassbare Leichtfertigkeit, mit der derzeit in Westminster politisch gezündelt wird, hat auch gleich die Hooligans auf den Plan gerufen. Rassistische Übergriffe haben sich seit dem Brexit-Votum vervielfacht. Das polnische Kulturforum wurde mit fremdenfeindlichen Parolen beschmiert. Sogar Asiaten, die mit der EU gar nichts zu tun haben, bekommen ihr Fett ab und werden von xenophoben Engländern aufgefordert, „auch gleich ihre Koffer zu packen“. Dass sich so schnell ein Gefühl von nationalistischem Überschwang breitmachen könnte, erschüttert andererseits auch viele Briten.

Seit Tagen kommt es zu Demonstrationen, in denen sich tausende Menschen aufgerufen fühlen, ihre Solidarität mit den Einwanderern aus Europa und dem Rest der Welt zu bekunden. „Wir sind Europäer!“ steht auf einem Schild, dass Charmian Kenner mit sich durch den strömenden Londoner Regen schleppt. „Wir haben einen fürchterlichen Blödsinn gemacht, indem wir für Brexit gestimmt haben, wir müssen möglichst viel Druck erzeugen, damit der nächste Regierungschef den Brexit nicht durchzieht.“

Theresa May die aussichtsreichste Kandidatin

Dafür aber stehen die Chancen nicht gut. Die bisher aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von David Cameron ist Innenministerin Theresa May. Sie hat ihre Kandidatur als einzige mit einem klaren Plan verbunden: „Brexit bleibt Brexit“, sagte sie Donnerstag Vormittag, dem Willen des Volkes müsse stattgegeben werden. Das heißt auch: Die Briten haben für weniger Immigration gestimmt, also wird sie diese aushandeln. Der Weg in den Binnenmarkt nach einem Austritt aus der EU ist damit praktisch verschlossen. May, die mit ihren 57 Jahren und grauen Haaren deutlich gesetzter wirkt als die „Posh Boys“, gilt nach sechs Jahren an der Spitze des Innenministeriums als mit allen Wassern gewaschen. Sie will Recht und Gesetz mit harter Hand durchsetzen und ist eine EU-Skeptikerin. Als Innenministerin hat sie allerdings oft genug erlebt, wie wichtig die EU-Mitgliedschaft für Britannien ist, weshalb sie sich während der EU-Referendums-Kampagne als loyale Ministerin für David Cameron erwies.

Im momentanen Chaos wird Mrs. May angerechnet, dass sie nicht wie die Männer an der Spitze ihrer Partei zu Verrat und Hysterie, gefolgt von Wehleidigkeit und Rückgratlosigkeit neigt. Bei den Buchmachern führt sie jedenfalls klar. Sofort wird sie von der britischen Presse als „zweite Iron Lady“ tituliert. Dabei hat sie schon einmal gesagt, dass sie sich nicht mit politischen Vorbildern aufhält und lieber ihre eigene Geschichte schreibt.

Angela Eagle die neue Frau an der Labour-Spitze?

Sie dürfte nicht die einzige eiserne Dame sein, die gute Chancen hat, das derzeitige Hauen und Stechen in Westminster politisch zu überleben. Auch die Labour-Party könnte sich im September eine Frau an die Spitze wählen. Davor muss die traditionelle Arbeiterpartei allerdings erst ihren Noch-Vorsitzenden Jeremy Corbyn loswerden, der sich in unerhörter Art und Weise an seinem Chefsessel festkrallt.

Der 67-jährige linke Friedensaktivist war vor einem Jahr auf einer Welle der Basisdemokratie an die Spitze der traditionellen Arbeiterpartei geschwemmt worden, hat sich als Führer und Manager aber als äußerst glücklos erwiesen. Der Brexit hat nun das Fass zum Überlaufen gebracht. Ein Großteil seines Schattenkabinetts hat ihn Anfang der Woche verlassen, weil er sich nicht beherzt genug für den Verbleib in der EU eingesetzt hatte. Im Misstrauensvotum sprachen sich 172 Abgeordnete gegen ihn aus. Bloß 40 Vertraute stimmten für ihn. Corbyn aber weiß, dass viele junge Linke im Land ihn unterstützen und möchte bleiben. Dass er trotzdem längst auf verlorenem Posten steht, versuchte sogar Oberverlierer Cameron ihm klarzumachen. Der Noch-Premier fand Corbyns Verhalten offenbar derart würdelos, dass er dem Oppositionsführer beim wöchentlichen Duell im House of Commons über die Dispatch-Box hinweg zurief: „Tritt endlich zurück!“

Als Alternative hat Angela Eagle die besten Karten. Sie war bis 27. Juni noch Handelsministerin in Corbyns Schattenkabinett. Eagle gilt als loyale Parteipolitikerin mit großem rhetorischen Talent, die sowohl mit Blairisten wie Corbynisten auskommt. Eagle gehörte zu jenen, die beherzt für einen Verbleib in der EU gekämpft haben. Neben ihrer fachlichen Kompetenz bietet sie auch persönlich einige schillernde Facetten: Sie ist die erste öffentlich auftretende Lesbe und die erste, die im britischen Unterhaus gemeinsam mit ihrer Zwillingschwester Maria in der vordersten Reihe der Labour-Führung gesessen hat. Unter dem Eindruck des tobenden Tory-Krieges hielt Eagle ihre Bewerbung als Parteichefin erst noch zurück.

Wut gegen das Establishment beruhigen

Bereits im September könnte die Shakespeare-Analogie ein Ende haben. Dann nämlich, wenn die beiden Frauen die politische Bühne als Chefinnen ihrer Parteien betreten. Zu Shakespeares Zeiten durften Angehörige des weiblichen Geschlechts ja noch nicht einmal auf die Bühne.

Neben der Aushandlung des Brexit, der Verhinderung der Abspaltung Schottlands und Nordirlands und der Befriedung ihrer tief gespaltenen Parteien werden die beiden noch eine Aufgabe gestellt bekommen. Sowohl der rote sozialdemokratische Norden wie der blaue konservative Süden Englands hat voller Wut gegen ein Establishment votiert, von dem sich zu viele nicht mehr vertreten fühlen. Dagegen müssen die Parteichefinnen ein Mittel finden, wollen sie das Vereinigte Anarchistische Königreich wieder in die gewohnt geruhsamen Bahnen lenken.  

In einer vorherigen Version des Textes schrieben wir, dass Boris Johnson 51 Jahre und Labour-Chef Jeremy Corbyn 63 Jahre alt sei. Richtig ist: Johnson ist 52 und Corbyn 67 Jahre alt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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