Migration - Ökonomie der offenen Grenzen

Migration stellt die Länder dieser Welt vor neue Herausforderungen. Doch statt überkochender Emotionen ist eine nüchterne Betrachtung über Kosten und Nutzen von Migration angebracht. Ein neuer Ideenansatz könnte die erhitzten Gemüter beruhigen

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Der Weg in ihre Zielländer könnte für Flüchtlinge und Migranten sicherer gemacht werden / picture alliance
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Rainer Hank (Foto dpa) ist Publizist und regelmäßiger Kolumnist im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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Dr. Lee hatte eine geniale Idee. Der südkoreanische Mediziner war vor gut 50 Jahren als Kinderarzt an einer Klinik in Mainz tätig. Aber es fehlten Säuglingsschwestern. Lee schaltete Anzeigen in Zeitungen seines Heimatlands, und bald kamen die ersten Koreanerinnen nach Deutschland, wo sie für 600 Mark netto im Monat in Dr. Lees Klinik arbeiteten. Südkorea war in den sechziger Jahren noch ein sehr armes Land.

Rund 10. 000 junge Frauen aus Korea sollten sich bis in die mittleren siebziger Jahre entscheiden, in deutschen Kliniken als Schwestern zu arbeiten. Einfach waren die Bedingungen nicht. Ein Drittel der Koreanerinnen ist für immer hiergeblieben; viele sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Die meisten von ihnen leben in Seoul. Andere haben sich auf dem Land ein „deutsches Dorf“ gebaut, wo es im Biergarten Wurst und Schnitzel und im Herbst ein Oktoberfest gibt.

Ausgrenzende Zäune

Dr. Lees Migrationsexperiment war ganz offensichtlich eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Wenn es denn immer so einfach wäre, wäre alles gut. Dann wäre es auch nicht so weit gekommen, dass in Europa und anderswo Migration inzwischen von vielen als gefährliche Bedrohung erlebt wird und in vielen Ländern populistische Bewegungen großen Wählerzulauf erhalten.

Wer auswandert, muss Grenzen überwinden. Grenzen haben Wachposten, und die Wachposten haben Schusswaffen. Wenn wir, die Bürger einer wohlhabenden Demokratie, diese Wachposten und Zäune sehen, dann finden wir sie meist beruhigend, weil wir glauben, sie seien dazu da, uns zu beschützen. Für Afrikaner in kleinen, undichten Booten, die bei der Überquerung des Mittelmeers nach Südeuropa darum bemüht sind, den Patrouillenbooten auszuweichen, sieht die Sache vollkommen anders aus. Für sie sind Grenzen und Wachposten nur allzu sichtbar, und das Ziel, sie auszugrenzen, ist nur allzu real.

Mit solchen Beobachtungen eröffnet der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph H. Carens sein mittlerweile berühmtes, weil radikales „Plädoyer für offene Grenzen“, erschienen in Oxford im Jahr 2013, zwei Jahre vor dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise 2015. Nichts, aber auch gar nichts rechtfertige die Ausgrenzung von Migranten, behauptet Carens: Grenzen sollten prinzipiell offen sein, und es sollte den Menschen freistehen, ihren Heimatstaat zu verlassen und sich in einem anderen niederzulassen. Die Begründung ist so verblüffend wie radikal liberal: Wer für die Freiheit ist, muss konsequenterweise gegen jegliche Beschränkung der Freiheit, also für offene Grenzen sein.

Das Recht auf Einwanderung

Carens’ Plädoyer liest sich wie die moralphilosophische Legitimation jener „Willkommenskultur“, die hierzulande 2015 propagiert wurde, als am Ende 1,5 Millionen Asylsuchende und Migranten mitten in unserem Land waren und niemand wagte, ihnen an der Grenze den Zutritt streitig zu machen. Das war auch nur konsequent, sofern eine universale Moral gleiche Chancen für jedermann gebietet, die Idee eines Weltbürgertums Vorrang hat vor dem Recht der Staatsangehörigkeit und eine ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung a priori langfristig höhere Erträge für den Wohlstand einer Volkswirtschaft erwartet. Man kann solch eine Haltung moralischen Kosmopolitismus nennen: Seid umschlungen, Millionen, alle Menschen werden Brüder.

Bald zeigte sich indessen, dass der moralische Kosmopolitismus ein Konzept der Eliten ist, besonders gerne dort in Anspruch genommen, wo es keine oder wenige Berührungspunkte mit den Flüchtenden gab: im „Luftreich der Träume“ (Heinrich Heine). Denn natürlich begründet das Recht auf ungehinderte Emigration nicht zugleich ein Recht auf Einwanderung: Ein solches Recht auf Einwanderung würde die Freiheitsrechte anderer beschneiden. Die Ureinwohner Nordamerikas können ein Lied davon singen. Dem Recht auf freie Wanderung steht ein Recht auf Ausschluss der Wandernden entgegen. Beide Rechte gründen in der individuellen Autonomie, was freilich voraussetzt, dass man eine Nation im Sinne der Volkssouveränität als kollektive Willensbekundung ihrer Individuen versteht und das Gebiet dieser Nation als eine Art Eigentum seiner Bewohner betrachtet. Der Schutz dieses Eigentums ist ebenfalls ein Freiheitsrecht. „Life, liberty, and property“ (Leben, Freiheit und Eigentum) galten dem englischen Aufklärer John Locke als vom Naturrecht gedeckt und werden von jeder liberalen Verfassung garantiert.

Eine Kosten-Nutzen-Analyse

Man kann einen Staat aber auch als eine Art Club verstehen, dessen Mitgliedern bestimmte Rechte zukommen, vor allem jenes Recht zu bestimmen, wer aufgenommen werden soll und wer nicht. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre wäre es töricht zu glauben, alle Einwanderer seien vom Typus der eingangs erwähnten südkoreanischen Krankenschwestern. Es gibt daneben auch Zehntausende Armutsmigranten ohne Schulabschluss und Deutschkenntnisse, die von kriminellen Schlepperbanden hierher gebracht wurden, wo sie Kindergeld und Hartz IV kassieren – um am Ende selbst in der Kriminalität zu landen.

Damit sind wir bei der zentralen Frage der Migrationspolitik: Wen wollen wir reinlassen? Und zu welchem Preis? Dass Migration einem solchen Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen wird, sollte man nicht schlechtmachen. Auch der Migrant handelt danach, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Auch er hat Kosten zu wägen: Er gibt Heimat und Familie auf, nimmt lange Wege in Kauf, zahlt für Schlepper, kalkuliert das Risiko einer unsicheren Zukunft, er weiß nicht, ob ihm sein neuer Club freundlich gesonnen sein wird. Nur wenn die Erwartung auf ein Leben in Frieden und Wohlstand den Preis all dieser Unannehmlichkeiten überwiegt, wird er sich auf den Weg machen. Daher ist es auch nicht unbotmäßig, wenn die Bürger des Ziellandes solche Überlegungen anstellen.

Wagen wir hier also eine Kosten-Nutzen-Analyse, quasi als Zwischenbilanz der aufgewühlten Debatte, die seit 2015 geführt wird und unter Berücksichtigung ausgewählter Erkenntnisse der mittlerweile überbordenden sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Literatur.

Der Fremde ist bedrohlich

Zunächst die Fakten: Migration ist kein neues Phänomen. Im Vergleich zu den Völkerwanderungen im 19. Jahrhundert sind jene 250 Millionen Menschen, die nach den Daten der Weltbank im Jahr 2018 in der Welt unterwegs waren, eine kleine Gruppe – bezogen auf die Weltbevölkerung von 7,5 Milliarden Menschen waren das „lediglich“ 3,3 Prozent. Aber alles ist relativ: Bezogen auf die Neunziger- und Nullerjahre ist es ein Höchststand. Kein Wunder, dass dies Ängste auslöst. Der Fremde ist immer bedrohlich.

Warum wandern Menschen? Dafür gibt es politische, aber auch ökonomische Beweggründe: Migranten auf allen Qualifikationsstufen, die von armen zu reichen Ländern auswandern, können nach Analysen der Weltbank im Schnitt ihren Lohn um das Drei- bis Sechsfache aufbessern. Würde jedermann in der Welt auswandern, der dies will, würde sich unser Wohlstand global verdoppeln: Das wäre in absoluten Zahlen ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt der Welt von sage und schreibe 90 Billionen Dollar, wie das Magazin Economist unter Verweis auf Studien des Center for Global Development schreibt. Migration muss man sich als das schnellste und wirkungsvollste Entwicklungshilfeprogramm vorstellen, zumal die Migranten, wenn sie sich integrieren und assimilieren, neue Ideen in die Welt bringen und in der Regel besonders agil und motiviert sind. Historisch gesehen haben Einwanderer ihre Zielländer stets bereichert. Sie brachten Innovation, Dynamik und wirtschaftlichen Erfolg. Die Wandernden sind „außergewöhnliche Menschen“, so der Titel einer berühmten Studie des Oxford-Ökonomen Ian Goldin. Sie gründen neue Unternehmen und wehren sich zu Recht, wenn immer nur Dankbarkeit von ihnen erwartet wird, statt sie mit Würde zu behandeln.

Rücküberweisungen stellen die größte Entwicklungshilfe

Befürchtungen, Migranten würden ihren Heimatländern durch den Braindrain, den Exodus von Begabung und Arbeitskraft, Wohlstand und Wachstums­chancen rauben, lassen sich nicht belegen. Im Gegenteil: In aller Regel überweisen sie große Teile ihres Verdiensts nach Hause. Nach Angaben der Weltbank lagen diese Rücküberweisungen („remittances“) im Jahr 2018 mit 529 Milliarden Dollar auf einem neuen Höchststand. Dieses viele Geld ist zugleich die üppigste Entwicklungshilfe, die man sich denken kann, insgesamt viel mehr Geld als die von Staaten oder privaten Wohltätigkeitsorganisationen aufgebrachten Mittel. Die Rücküberweisungen würden noch mehr positive Effekte bringen, würden die Banken bei solchen grenzüberschreitenden Transaktionen nicht einen unverhältnismäßig hohen Anteil als Gebühren abgreifen.

Stehen aber nicht den Vorteilen für die Migranten Nachteile für die Menschen in den Einwanderungsländern gegenüber? Das lässt sich nicht generell behaupten. Befürchtungen, dass Zuwanderung die Konkurrenz am Arbeitsmarkt des Ziellands verschärft und/oder die Löhne der bereits ansässigen Arbeitskräfte unter Druck setzt, haben sich als weit übertrieben erwiesen.

Keine negativen Lohnentwicklungen in den Zielländern

Beginnen wir mit den Löhnen. Die Theorie würde annehmen, dass bei wachsendem Arbeitsangebot der Preis für die Arbeit, also der Lohn, sinken muss. Doch das ist offenkundig eher selten der Fall, weiß der Bochumer Migrationsexperte Martin Werding: Als empirisches Beispiel dient ihm der sogenannte „Mariel Boatlift“, der extrem gut untersucht ist: Im Frühjahr 1980 ließ Kuba 125 000 Bürger nach Miami ausreisen, was die Zahl der Erwerbspersonen dort schlagartig um 8 Prozent erhöhte, die der Kubaner sogar um 20 Prozent. Die neuen Zuwanderer waren jung, unqualifiziert und erhielten schlechte Löhne. Doch bereits ansässige Gruppen (Weiße, Schwarze, andere Hispanics, früher eingewanderte Kubaner) mussten keinen Abschlag auf ihre Löhne hinnehmen – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe farbiger High-School-Abbrecher. Das heißt: Die Arbeitnehmer im Zielland leiden nicht oder nur wenig und allenfalls kurzfristig. Noch nicht einmal in Großbritannien, wo der Aufreger „Personenfreizügigkeit“ maßgeblich zur Brexit-Mehrheit beitrug, lassen sich negative Effekte im großen Stil nachweisen.

Wie kommt es zu diesem überraschenden Befund? Eine Erklärung des Ökonomen Panu Poutvaara, Leiter des Ifo-Zentrums für Migration, geht so: Migranten befinden sich häufig in einer schlechteren Verhandlungsposition als Einheimische. Deshalb erhalten sie auch schlechtere Löhne als die Einheimischen. Dies wiederum erhöht die erwarteten Gewinne von Unternehmen und ermutigt sie, zusätzliche Stellen zu schaffen. Einheimische des gleichen Qualifikationstyps verlieren nicht notwendigerweise durch einen Zustrom von Einwanderern, wie man es theoretisch eigentlich erwarten müsste: Obwohl es einen Wettbewerbseffekt gibt, der die Löhne der Zuwanderer drückt, werden zugleich neue Stellen geschaffen, von denen auch die Einheimischen profitieren können. Forschungen an der Universität Glasgow, bei denen 20 Länder untersucht wurden, ergaben, dass in 14 von ihnen sowohl hoch- als auch niedrigqualifizierte einheimische Personen von den Migranten profitiert haben.

Höherer  „Dichtestress“

Also alles prima? Nein. So positiv die Bilanz für Löhne und Beschäftigung ausfällt, so kritisch wird es, blickt man auf Finanz- und Sozialsysteme in den Zuwanderungsländern. Die enge Betrachtung von Löhnen und Beschäftigung unterschlägt den Umstand, dass die Migranten auch staatliche Infrastruktur- und Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Da kann sich der gerade beschriebene positive Effekt für Zuwanderer und Unternehmen für die Gesellschaft insgesamt problematisch auswirken. Straßen sind überlastet, Bauland wird teuer. Insgesamt wird es eng: Die Schweizer haben dafür das schöne Wort „Dichtestress“ erfunden. Es geht mithin um fiskalische und psychische Kosten für die Einheimischen.

Hinzu kommt ein Problem, das man „Einwanderung in den Sozialstaat“ zu nennen sich angewöhnt hat. Ein gut ausgestatteter Wohlfahrtsstaat wie Deutschland wird zum Ziel ärmerer Migranten gerade auch aus der EU, die viele Sozialleistungen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, später Rente) in Anspruch nehmen, obwohl sie dafür gar keine oder nur in geringem Maße Anrechte erworben haben. Das empfinden viele Einheimische als ungerecht. Es ist zugleich auch eine Erklärung für die Paradoxie, dass etwa in Ostdeutschland kaum Zuwanderer leben, aber zugleich die Ausländerdistanz bis -feindlichkeit sehr groß ist. Man braucht den Fremden nicht unbedingt in der Nachbarschaft zu haben: Es genügt, ausrechnen zu können, was unter dem Strich nach allen Abzügen einer arbeitenden Familie bleibt, und diese Summe in Beziehung zu setzen zu den Ansprüchen aus Hartz IV, die Zuwanderern quasi leistungslos zustehen. Die Ansprüche an Sozialleistungen stehen zwar in gleichem Maße auch den „Biodeutschen“ zu. Doch viele Untersuchungen zeigen, dass die Akzeptanz sozialstaatlicher Umverteilung abnimmt, wenn die ethnisch-multikulturelle Vielfalt des Landes zunimmt. „Kirchturmaltruismus“ oder „Nationalchauvinismus“ heißen die etwas arroganten Fachbegriffe dafür.

Entweder offene Grenzen oder Wohlfahrtsstaat

„Man kann offene Grenzen haben oder einen üppigen Wohlfahrtsstaat, aber keinesfalls beides zusammen“, so lautet die klassische These des Chicago-Ökonomen Milton Friedman. Wer dies ignoriert, wird mit den berühmten Pull-Effekten konfrontiert, die die moralischen Kosmopoliten gerne leugnen. Der Wohlfahrtsstaat wirkt nämlich wie ein Magnet, er zieht Einwanderer an, wenn er ihnen ab sofort denselben Umfang der Sozialleistungen verspricht wie den Einheimischen. Die Magnetthese ist inzwischen empirisch gut bewiesen: Dänemark hat im Jahr 2002 die Zuwendungen für Migranten um 50 Prozent reduziert und diese Beschränkung später dann wieder zurückgenommen. Der Effekt: Die Einschränkung der Sozialleistungen führte dazu, dass jährlich 5000 Migranten weniger nach Dänemark kamen, nach der Rücknahme aber wieder die früheren Zahlen erreicht wurden.

Daraus lässt sich mit William Niskanen, einem liberalen amerikanischen Ökonomen und Berater Ronald Rea­gans, eine Faustregel der Migration ableiten: „Öffne dein Land für die Fremden, aber baue eine Mauer um den Sozialstaat.“ Das Schlimmste, was ein Land machen kann, ist, den umgekehrten Weg zu gehen: Großzügige Sozialleistungen für Migranten offerieren, ihnen aber den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren, vermeintlich aus Rücksicht auf die heimischen Arbeitskräfte. Das führt zu öffentlich subventionierten Gettos. Besser wäre es, den Arbeitsmarkt zu öffnen, aber die Zuwendungen des Sozialstaats restriktiv zu handhaben.

Die Idee des Eintrittspreises

Hans-Werner Sinn, der ehemalige Ifo-Chef, unterscheidet zwischen ererbten und erarbeiteten Ansprüchen an den Sozialstaat. Erarbeitete Ansprüche sind solche, die man selbst durch Steuern und Abgaben finanziert hat, also Leistungen aus der Renten-, Unfall-, Arbeitslosen- oder Krankenversicherung. Ererbte Ansprüche stammen aus der Grundsicherung, die jeder genießen darf, wenn er nicht oder noch nicht arbeiten kann. Dazu zählen Sozialhilfe, Kindergeld oder Hartz-IV-Leistungen und wohl auch Bildung. Der Clou an der Unterscheidung: Erarbeitete Leistungen können sofort vom Gastland gewährt werden, für ererbte Ansprüche muss das Heimatland des Migranten aufkommen. Der Vorschlag hat einen doppelten Vorteil: Die Freizügigkeit, auswandern zu dürfen, wird nicht eingeschränkt; ob innerhalb der EU oder von außen spielt dabei eine eher nebensächliche Rolle. Aber auch der Sozialstaat wird durch Migration nicht gesprengt.

Man könnte noch einen Schritt weitergehen und von den Migranten eine Art Eintrittspreis verlangen. Wäre es nicht viel marktwirtschaftlicher und zugleich freiheitskompatibler, als komplexe Punktesysteme zu administrieren? Würde das Recht, in ein Land zu kommen, verkauft, eröffnete dies eine Einreisemöglichkeit ohne Betrug. Neben oder anstelle eines einmaligen Eintrittspreises könnte man sich auch eine Steuer (ähnlich einer „Kurtaxe“) vorstellen, die über eine geraume Zeit zu entrichten ist (die Schweizer Ökonomen Reiner Eichenberger und David Stadelmann schlagen für ihr Land 12 bis 16 Franken am Tag vor).

Rechte und Pflichten im Einwanderungsland

Eine solche Legalisierung der Zuwanderung über Preise entkriminalisiert die Migration; anstatt obskurer Schlepper und Retter könnten Migrationsunternehmen den Transport organisieren. Man sage nicht, Preise für den Zuzug zu nehmen, sei zynisch und unzumutbar. Auch die, die heute kommen – es sind ja gar nicht die Ärmsten der Armen –, nehmen hohe Kosten auf sich, sammeln Geld bei ihren Familien oder Kredite, weil sie begründete Hoffnung hegen, dass sich ihre Investition für sie und ihre Angehörigen später auszahlt. Sie sind also bereit, einen Preis zu zahlen. Das war immer schon so: Die Kosten einer Atlantiküberquerung, hat der Ökonom Gary S. Becker erzählt, entsprachen im 19. Jahrhundert etwa einem Jahresverdienst in den Kolonien. Heute sind die Transportkosten niedriger, dafür die Eintrittskosten höher: Deshalb könnte eine „Migrationstaxe“ zugleich die verängstigten einheimischen Bürger beschwichtigen, die vor Einwanderung in den Sozialstaat warnen. Es würde wieder ein Gefühl dafür wachsen, dass es hierzulande „fair“ zugeht – und dies, wohlgemerkt, mit einem liberalen Einwanderungsland vereinbar ist.

Ein Einwanderungsland, in dem es fair zugeht, hat nicht nur das Recht, Eintrittspreise zu nehmen, sondern auch die Pflicht, von seinen neuen Bürgern Integration und Assimilation zu verlangen. Der britische Soziologie David Miller („Fremde in unserer Mitte“) unterscheidet zwischen sozialer, ziviler und kultureller Integration. Soziale Integration bedeutet, dass es für beide Teile einer Gesellschaft gefährlich ist, wenn Einwanderer und Einheimische dauerhaft in Parallelwelten leben. Zivile Integration setzt bei allen Ankömmlingen (aber natürlich auch bei den Staatsbürgern) nicht nur die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft voraus, das Beherrschen der Landessprache und den Willen zur Partizipation an der Arbeitsgesellschaft, sondern auch die Einhaltung sogenannter Sekundärtugenden, worunter all das verstanden wird, „was sich gehört“. Wissenstests, die dies überprüfen, sind zumutbar.

Das Funktionieren von Gesellschaften

Zumutbar schließlich ist auch eine „kulturelle Integration“. Anhänger eines Multikulti-Pluralismus würden schon den Begriff der „kulturellen Integration“ als illiberal verwerfen – erst recht das Pochen auf „Assimilation“, also einer weitgehenden Anpassung der Fremden an die Gebräuche des Einwanderungslands. Kulturelle Integration würde nämlich bedeuten, dass die Menschen, die in einem Land zusammenleben, zumindest Schnittmengen darin haben, welche Filme sie sehen, welche Bücher sie lesen, welche (Volks)feste sie besuchen. Ohne gelebte Zugehörigkeit funktioniert keine Gesellschaft.

Ich gebe zu: Solche Kosten-Nutzen-Analysen sind in Gedanken leichter zu machen, als in der Praxis umzusetzen. Aber es hilft alles nichts: Nur mit einem nüchternen Migrationsutilitarismus lässt sich die aufgeheizte Debatte entgiften, abkühlen und zur Vernunft bringen. Eine Welt, die wieder Mauern baut, schadet sich selbst – und denen, die kommen wollen. Es wäre der Sieg der Populisten. Gerade deshalb muss nüchtern über die Kosten geredet werden.

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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