Liberale Eliten - Abgehoben

Der Liberalismus befindet sich fast überall in der Krise, während Nationalisten Aufwind haben. Doch daran sind die liberalen Kräfte selbst schuld. Sie sollten ihre Sicht auf Demokratie, Kapitalismus und europäische Integration überdenken. Es reicht nicht, die Gegner zu verteufeln

Erschienen in Ausgabe
„Liberale sollten sich an die Wahrheit halten und darauf verzichten, zu lügen und Fakten mit Meinungen zu vermengen“ / Søren Kunz
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Autoreninfo

Jan Zielonka kam 1955 in Polen zur Welt und ist Professor für Europäische Politik in Oxford. Dieser Beitrag stammt aus seinem im Februar 2019 im Campus-Verlag erscheinenden Buch „Konterrevolution: Der Rückzug des liberalen Europa“. Darin setzt er sich mit dem Versagen der (links-)liberalen Eliten auseinander

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Im Februar 2017 erklärte Marine Le Pen der jubelnden Menge in Lyon: „Die Franzosen wurden ihres Patriotismus beraubt. Sie leiden stillschweigend darunter, dass es ihnen nicht erlaubt ist, ihr Land zu lieben.“ Solche Argumente finden ihren Widerhall bei konterrevolutionären Kräften in ganz Europa. Sie deuten auf zwei Aspekte hin, in denen Liberale versagt haben. Erstens hält man Liberalen vor, sie seien für europäische Integration und Globalisierung. Zweitens wirft man ihnen vor, patriotische Zugehörigkeitsgefühle zu einer bestimmten Nation zu ignorieren oder gar schlechtzumachen. Beide Kritikpunkte sprechen Bürger an, die sich im globalen liberalen Universum ohne Gemeinschaftssinn und Schutz verloren fühlen.

Anhänger von Le Pen, Orbán, Farage oder Kaczynski glauben, nur Nationalstaaten könnten für ihre wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte einstehen und ihnen eine bessere Zukunft bieten. Liberale Kräfte lehnen solche Gedanken zu Recht als naiv und gefährlich ab, versäumen es aber, eine überzeugende, geschweige denn ansprechende Vision von einer globalen liberalen Gesellschaft anzubieten. Das mag ihre gegenwärtigen politischen Schwierigkeiten zumindest bis zu einem gewissen Grad erklären.

Einer Gemeinschaft anzugehören ist für Liberale keine Tugend

Man muss kein fremdenfeindlicher Nationalist sein, um die liberale Konzeption der Gesellschaft als vage und abstrakt anzusehen. Angesehene liberale Denker wie Michael Walzer, Michael Sandel, Philip Selznick und Charles Taylor haben auf diese „liberale Kurzsichtigkeit“ hingewiesen, aber mit dem Aufkommen neoliberaler Grundprinzipien wurden ihre Bedenken von den liberalen Mainstream-Parteien und -Medien ignoriert. Kommunitaristische Liberale wiesen darauf hin, dass der Mainstream-Liberalismus dem Einzelnen, nicht den Gemeinschaften besondere Aufmerksamkeit schenkt, und diese Individuen als frei, sprunghaft und privat gelten – und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft lediglich akzeptieren, um ihre Risiken zu minimieren.

In der Regel haben Liberale wenig für familiäre und religiöse Bindungen, nationale oder ethnische Geschichte, Gewerkschafts- oder Klassenzugehörigkeit übrig. Manche dieser Gruppen gelten sogar als Quelle des Bösen. Religiöser Fundamentalismus und ethnischer Fanatismus sind nicht nur illiberal und irrational, sondern auch für Gewalt und Unterdrückung verantwortlich. Bestenfalls sprechen Liberale mit Empathie über Einzelne, die eine Zivilgesellschaft bilden, also eine Gemeinschaft von Bürgern, die sich frei in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Formen nichtstaatlicher, ehrenamtlicher Arbeit engagieren. Aber manche Liberale stehen selbst solchen Bindungen misstrauisch gegenüber. Mitglieder rassistischer Vereinigungen könne man ebenfalls als eine Art Zivilgesellschaft sehen, behaupten sie.

Allein die Tatsache, einer Gemeinschaft anzugehören, stellt für viele Liberale noch keine Tugend dar; was zählt, ist die Unterstützung liberaler Werte in Theorie und Praxis. Stephen Holmes argumentierte nachdrücklich: „Es gäbe keinen Terrorismus oder nationalistische Grenzkriege ohne selbstlose Hingabe an gesellschaftliche Gruppierungen … Denjenigen, die Homosexuelle im Namen der islamistischen Revolution erschießen lassen, … kann man keinen antisozialen Individualismus oder gemeinen Eigennutz vorwerfen.“ Zudem halten Liberale es für falsch, manchen Gemeinschaften besondere Vergünstigungen einzuräumen. Warum sollten Christen anders behandelt werden als Atheisten oder Muslime? Warum sollten Angehörige einer bestimmten Rasse oder ethnischen Herkunft Privilegien haben?

Keine klaren Vorstellungen von einer guten Gesellschaft

So weit, so gut, aber trägt unsere liberale Vision den Ängsten und Leidenschaften der Menschen, den kollektiven Bindungen und Traditionen, ihrem Vertrauen, ihrer Liebe und ihren Bigotterien ausreichend Rechnung? Im realen Leben geht es nicht nur um gemeinsam vereinbarte Verfahren, rationale Institutionen und abstrakte Fairness. Die Menschen werden in Familien mit bestimmten Ansichten und Beziehungen hineingeboren, sie wachsen an bestimmten Orten mit Geschichte und Kultur auf, sie arbeiten und pflegen Umgang mit anderen, die häufig emotional und voreingenommen sind. Liberalen sind all diese gemeinschaftlichen und häufig urwüchsigen Verbindungen suspekt, was erklärt, warum sie oft als abgehoben von den „wirklichen Menschen“ gelten.

Die meisten Leute besitzen Nationalstolz, religiöse Überzeugungen und politische Vorurteile. Sie fühlen sich unter Gleichgesinnten und ähnlich Aussehenden „zu Hause“, sie vertrauen denen, die sie kennen, sie pflegen seltsame Gewohnheiten, Gefühle und Mythen. Liberale Forderungen, auf Beweise, Vernunft und Experten zu setzen, stoßen auf taube Ohren bei Menschen, die an Orten, Gemeinschaften und partikularistischen (häufig altmodischen oder engstirnigen) Idealen hängen. Liberale mögen durchaus wissen, wie man den Einzelnen vor schlechten Gesetzen, religiöser Orthodoxie oder ethnischem Hass bewahrt, können aber wenig dazu sagen, wie man Harmonie, Solidarität und Gemeinschaftssinn herstellt, die für alle ernsthaften Kollektivbestrebungen notwendig sind.

Es ist nicht einmal sicher, ob sich eine klare Vorstellung von einer guten Gesellschaft und von Gerechtigkeit darlegen und vereinbaren lässt, ohne sich auf eine bestimmte Gruppe von Menschen zu beziehen, die in einem bestimmten Territorium lebt und eine gemeinsame historische, kulturelle und moralische Sicht hat. Es fällt schwer zu behaupten, diese Argumente seien lediglich populistische Demagogie.

Die liberale Gesellschaftskonzeption ist universell

Nationalismus ist der Hauptfeind der Liberalen, und das nicht nur, weil er zu einer Fülle von Kriegen und Pogromen geführt hat. Nationalismus diskriminiert ethnische Minderheiten und Migranten, was illiberal ist. Im Nationalismus geht es um Mythen, nicht um Vernunft; es geht um urwüchsige, nicht um zivile Bindungen; es geht um zwangsweise Assimilation an eine einzige Gruppe, nicht um individuelle Freiheit. Es fällt schwer, solchen Behauptungen nicht zuzustimmen. Allerdings kommen Liberale nicht umhin einzuräumen, dass Freiheiten überwiegend von Staaten, genauer: von Nationalstaaten garantiert werden. Auch die Demokratie funktioniert nur in Nationalstaaten gut. Nationen abzuschaffen, könnte also durchaus die Grundlagen der Demokratie, des Rechtsstaats und der individuellen Freiheit zerstören. Die meisten Vorzüge der liberalen Gesellschaft waren dank Nationalstaaten möglich und nicht dank irgendwelcher abstrakter politischer Konstrukte.

Für Liberale ist es besonders schwierig, mit Forderungen nach nationaler ( und territorialer ) Unabhängigkeit in multiethnischen Staaten umzugehen. Sie fanden ethnische Kriege in der ehemaligen Sowjetunion und auf dem Balkan abstoßend und exotisch. Auch die Bestrebungen in Schottland und Katalonien in den vergangenen Jahren haben Liberale verwirrt und gespalten. Ich schreibe dies in einer Zeit, in der sich die Augen in Europa auf den Konflikt über die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens von Spanien richten. Der Ausgang dieses Konflikts wird tief greifende Auswirkungen für das liberale Projekt haben, aber die europäischen Liberalen sind offenbar unfähig, über vage Mahnungen zu Dialog, Demokratie und verfassungsmäßiger Ordnung hinauszugehen.

Da die liberale Gesellschaftskonzeption eher universell ist, als an einen bestimmten Ort oder eine Nation gebunden zu sein, begrüßen Liberale wie selbstverständlich transnationale Politik und Wirtschaft. Dass die Vereinten Nationen und die Europäische Gemeinschaft geschaffen wurden, verdanken wir liberalen Idealen. Freihandel, Multilateralismus und Kulturaustausch gehören zu den vorrangigen Mitteln, das liberale Projekt zu fördern. Kurz: Liberale gehören zu den „Globalisten“, nicht zu den „Territorialisten“, um den Ausdruck von Charles S. Maier zu verwenden. Die Frage ist: Wer wird die liberale Ordnung in einer Welt unklarer Grenzen und kaskadierender wechselseitiger Abhängigkeit sichern? Die einzige transnationale öffentliche Autorität von einiger Bedeutung, die Europäische Union, befindet sich gegenwärtig in einem Zerfallsprozess. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Weltbank können Einzelne kaum vor raubgierigem Verhalten von Wirtschaft und Politik schützen. Glaubt irgendein echter Liberaler immer noch, das US-Imperium sei tatsächlich ein Agent der Freiheit in der Welt? Würde ein russisches oder deutsches „Imperium“ in seiner jeweiligen europäischen Nachbarschaft es besser machen?

Margaret Thatchers neoliberales Projekt

Im Europa der sechziger und siebziger Jahre drehte sich der liberale Diskurs weitgehend um den Sozialstaat und die Vorstellung, gegenseitige Verantwortung, die Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeit und Gemeinsinn seien die Mittel, um die individuelle Entwicklung zu unterstützen. Dieser Diskurs ging seit 1989 verloren. Neoliberale (unter dem Einfluss der Reagonomics) führten eine falsche Dichotomie von Liberalismus und Kommunitarismus ein. Beim Ersteren sollte es ausschließlich um Individuen gehen: „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht“, lautete ein berühmter Ausspruch von Margaret Thatcher. In der Folge ließ das liberale Projekt den Einzelnen verloren im Gewirr mächtiger transnationaler Märkte und unzulänglicher transnationaler Institutionen zurück.

„So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht“, lautete ein berühmter Ausspruch von Margaret Thatcher / Søren Kunz

Bürger sehen sich zunehmend isoliert und staatlichen Schutzes beraubt, sei es auf wirtschaftlichem, rechtlichem oder administrativem Gebiet. Wir haben die nationalen Grenzen untergraben, ohne effektive transnationale Hoheitsorgane zu schaffen. Wahrscheinlich ist es naiv von den Konterrevolutionären zu glauben, eine Rückkehr zu Nationalstaaten werde alle größeren Probleme lösen, aber ich frage mich, ob liberale Freiheiten in einem Europa, das wir Liberalen aufgebaut haben, noch zu schützen sind. Außerdem frage ich mich, ob Liberalismus sich ohne einen kollektiven Willen, Solidarität und eine ans Mythische grenzende Hoffnung noch verteidigen lässt. Wir haben es versäumt, eine europäische Zivilgesellschaft und eine europäische Hoheitsgewalt zu schaffen, die imstande wären, das liberale Projekt voranzutreiben. Kein Wunder, dass immer mehr europäische Bürger sich von uns abwenden und stattdessen eine überholte, aber vertraute Politik der nationalen Herrlichkeit, der Moralgemeinschaft und der Mauern unterstützt, die eine Gruppe von der anderen trennt.

Der Liberalismus wurde schon mehrfach in der Geschichte verächtlich gemacht und für tot erklärt, am eindringlichsten im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit im 20. Jahrhundert. Dennoch hat er sich immer wieder erholt und wird dies vielleicht auch in Zukunft tun. Tatsächlich halten sich Liberale nach wie vor in mehreren europäischen Staaten an der Macht, und wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Tage des Liberalismus gezählt sind.

Bob-Dylan-Song als liberales Motto

Das bedeutet allerdings nicht, dass sich seine Kritiker bald zerstreuen und er in ganz Europa wieder „die einzige Möglichkeit“ sein wird. Ich möchte nicht pessimistisch klingen, aber ich fürchte, liberale Ideale werden noch geraume Zeit unter Beschuss bleiben und sich erst nach einer langen und wahrscheinlich traumatischen Geschichtsperiode wieder erholen. Hoffen wir, dass sie nicht so schlimm wird wie in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aber sicher sein können wir uns dessen nicht. Um wieder Aufwind zu bekommen, müssten Liberale ihre Sicht von Demokratie, Kapitalismus und europäischer Integration überdenken. Abstrakte liberale Prinzipien zu predigen und antiliberale Gegner scharf zu kritisieren, wird nicht reichen.
 

Für einen erneuten Aufschwung müssen Liberale zudem ihre Führungskräfte auswechseln, denn denjenigen, die das liberale Projekt kompromittiert oder sogar verraten haben, kann man dessen Erneuerung nicht anvertrauen. Vor allem sollten Liberale ihre Fehler eingestehen, und zwar nicht nur, um bei den Wählern wieder an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, sondern auch um zu verstehen, wo es Verbesserungen vorzunehmen gilt.

Bob Dylan schrieb 1989 einen Song, der zum liberalen Motto der nächsten Jahre werden könnte:

What good am I
if I know and don’t do,
If I see and don’t say,
if I look right through you,
If I turn a deaf ear
to the thunderin’ sky,
What good am I?

What good am I
if I say foolish things,
And I laugh in the face
of what sorrow brings,
And I just turn my back while you silently die,
What good am I?

(Wozu bin ich gut, wenn ich weiß und nichts tue
Wenn ich sehe und nichts sage,
wenn ich durch dich hindurchsehe
Wenn ich taube Ohren habe
für den donnernden Himmel
Wozu bin ich gut?

Wozu bin ich gut, wenn ich törichte Dinge sage
Und lache angesichts der Dinge,
die Trauer bringen
Und einfach den Rücken kehre,
während du stumm stirbst,
Wozu bin ich gut?)

Mehr soziale Verantwortung und nicht nur individuelle Freiheiten

Ich habe versucht zu vermitteln, was Liberale ignoriert oder falsch gemacht haben. Das ist mir sicher nicht so prägnant und poetisch gelungen wie Bob Dylan, aber drei Begriffe oder Werte sind wiederholt in den Vordergrund gerückt: Gleichheit, Gemeinschaft und Wahrheit. Gegenwärtig haben konterrevolutionäre Politiker sie sich auf die Fahnen geschrieben. Liberale sollten diese Begriffe für ihr eigenes Projekt zurückzuerobern versuchen.

Gleichheit lässt sich nicht ernst nehmen, ohne die neoliberale Ökonomie aufzugeben. Das ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftstheorie, denn hinter der neoliberalen Ökonomie stehen eigennützige Interessen, und echte Liberale müssen den Mut aufbringen, sich gegen sie zu erheben. Aber ihr Kampf gegen den Neoliberalismus wird nicht gelingen, solange keine plausible alternative Vision des Kapitalismus in Sicht ist.

Liberale dürfen nicht nur über Individuen und deren Freiheit denken und reden. Sie sollten anfangen, ernsthaft über kommunitaristische Bindungen, soziale Verantwortung und ihr Potenzial zur Sicherung liberaler Freiheiten nachzudenken und zu reden. Philip Selznick argumentierte schon vor vielen Jahren: „Die dünne Theorie zur Gemeinschaft, die viele Liberale vertreten, genügt nicht … wir brauchen eine stärkere Gemeinschaftsidee, welche die Verpflichtungen und Opfer rechtfertigt, die wir uns und einander im Namen eines Gemeinwohls abverlangen.“

Die Sorgen der Bürger verstehen

Ich bin mir nicht sicher, ob eine menschlichere Form von Nationalismus, ein „liberaler Nationalismus“, wie Stefan Auer ihn nannte, eine Option ist. Höchstwahrscheinlich sollte man eine neue, etwas utopische Vision einer kommunitaristischen Republik mit digitalen Mitteln öffentlicher Beratungen ins Auge fassen. Welche Möglichkeit man auch wählt: Gemeinschaftsfragen konterrevolutionären Kräften zu überlassen, würde Liberale marginalisieren und Europa allen negativen Manifestationen des Kommunitarismus aussetzen – vor allem nationalen Kriegen, ethnischem Hass und religiösem Fundamentalismus.

Last, but not least sollten Liberale sich an die Wahrheit halten. Damit meine ich nicht nur, dass sie darauf verzichten sollten, zu lügen und Fakten mit Interpretationen und Meinungen zu vermengen. Ich möchte auch nicht für ideologische Wahrheiten eintreten. Michael Freeden erklärte: „Wenn Liberale einen Wahrheitsbegriff unterschreiben, dann ist diese Wahrheit experimentell und sich wandelnden historischen und geografischen Auffassungen unterworfen.“ Mit dem Akzeptieren der Wahrheit meine ich vielmehr ehrliche Bestrebungen, das heutige Europa und die Sorgen seiner Bürger zu verstehen. Sich über die neuesten Umfrageergebnisse den Kopf zu zerbrechen, mit tröstlichen Statistiken zu protzen und gezielt ein bestimmtes politisches Image zu verbreiten, zielt in die entgegengesetzte Richtung.

Mehr Selbstkritik, bitte!

Mit dem Akzeptieren der Wahrheit meine ich auch, nach neuen liberalen Lösungen für die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu suchen: Frieden, nachhaltige Entwicklung, Klimawandel, Migration und Gleichheit. Bevor wir übereilt handeln, müssen wir das Problem, das wir zu lösen versuchen, sowie unsere (Un-)Fähigkeit, etwas zu verbessern, verstehen. Das ist im Eifer der aktuellen politischen Auseinandersetzungen nicht einfach, aber wir müssen die richtige Balance zwischen Anprangern und Erklären finden. Wir dürfen nicht nur mit dem Finger auf unsere Gegner zeigen, die uns hindern, Dinge zu richten; wir müssen auch in den Spiegel schauen und unsere eigenen Fehler erkennen. Die Erklärer neigen dazu, Fehlverhalten zu rechtfertigen: Ist nicht die Globalisierung für den Populismus verantwortlich? Aber die Anprangerer tun nichts, um etwas zu erklären: Schaut, wie destruktiv die Populisten sind!

Man kann die Welt ohne normativen Kompass nicht verstehen, was offenkundig erfordert, dass wir bestimmte Urteile fällen. Allerdings dürfen sich Urteile nicht nur auf unsere Gegner beziehen, sondern auch auf uns. Immer wieder müssen wir uns fragen: Wozu tauge ich? Werde ich meinen liberalen Standards gerecht? Erst dann werden wir imstande sein, mit gutem Beispiel voranzugehen, was Hannah Arendt als ideale Verbindung von Wahrheit und Politik verstand. In ihrem berühmten Essay von 1967 schrieb sie: „Diese Probe aufs Exempel ist in der Tat die einzige ,Beweisführung‘, deren philosophische Wahrheiten fähig sind.“

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff

Dies ist ein Text aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.













 

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