Leben in Afghanistan - „Frauenrechtlerinnen sind der Taliban schutzlos ausgeliefert"

Die Taliban haben inzwischen viele Städte Afghanistans eingenommen und wissen, ihre machtpolitischen Interessen durchzusetzen. Was dies für die Bevölkerung, insbesondere für Frauen bedeutet, berichtet Massud Reza.

Taliban-Kämpfer stehen zusammen / dpa
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Autoreninfo

Massud Reza studierte an der Universität Oldenburg Sozialwissenschaften und Philosophie und arbeitet als Bildungsreferent in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin.

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Der Versuch einer Demokratisierung in Afghanistan ist gescheitert. Binnen kürzester Zeit eroberten die radikal-islamistischen Taliban eine afghanische Provinzhauptstadt nach der anderen – meist ohne Widerstand seitens der Staatsgewalt. Auf diese Weise rückten sie bis in die afghanische Hauptstadt Kabul vor und ergriffen kampflos die Macht. Der afghanische Präsident Ghani setzte sich derweil mit seinem Vermögen ins Ausland ab. 

Mehrere tausend Menschen versuchen sich seitdem, am Kabuler Flughafen in Sicherheit zu bringen. Sie sind der Falschmeldung aufgesessen, dort als Bürger Afghanistans in Sicherheit gebracht zu werden. Geplant ist stattdessen die Evakuierung von ausländischem Botschaftspersonal, westlichen Staatsbürgern sowie afghanischen Schutzbedürftigen – wie den Ortskräften.

Gescheiterter Staat par excellence

Es wurde zerstörtes Land hinterlassen, das politisch, moralisch und sozioökonomisch am Ende ist. Schon lange machte sich in der afghanischen Bevölkerung Kriegsmüdigkeit breit. Afghanistan ist ein „failed state“, ein gescheiterter Staat par excellence. In der Vergangenheit hofften einige Menschen auf die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten. Westliche Alliierte, die großspurig deren Umsetzung ankündigten, verwandelten ihren Militäreinsatz in den größten Treppenwitz des 21. Jahrhunderts.

Werte, die heute in der verängstigten Gesellschaft verbreitet sind, gründen vor allem auf den Vorstellungen einer islamischen Rechtsordnung durch die Taliban – der Scharia. Insbesondere Presse- und Meinungsfreiheit sowie die von Frauen hart erkämpften Rechte auf Bildung und Karriere stehen auf der Kippe. Ein mit brachialer Gewalt umgesetzter Islam soll den Lebensalltag der afghanischen Bevölkerung prägen.

Menschliche Schutzschilde

Meine Verwandten berichten aus Kundus, einer Stadt, die bereits vor Kabul gefallen war, wie Taliban-Kämpfer sich in privaten Wohnhäusern einnisteten, um von dort aus auf afghanische Regierungstruppen zu schießen. Die Taliban wussten genau, dass sie nicht mit Gegenfeuer rechnen mussten, weil erhebliche Kollateralschäden die Folge gewesen wären. Sie unterschieden sich bei diesem Vorgehen in keiner Weise von anderen Terrorgruppen wie etwa der Hamas in Gaza oder dem IS im Irak.

In der Vergangenheit feuerte die Hamas Raketen aus Wohnhäusern, Kindergärten und Krankenhäusern ab und missbrauchte damit die eigenen Mitbürger als menschliche Schutzschilde. Ähnlich agierte der IS in der irakischen Stadt Mossul. Die islamistischen Taliban sind ebenfalls bereit, die eigene Bevölkerung zu instrumentalisieren und zu opfern, um ihre machtpolitischen Interessen durchzusetzen. Es überrascht nicht, dass die Hamas der Taliban zur erfolgreichen Militäroffensive gratulierte, schließlich ist die ideologische Nähe beider Terrororganisationen unverkennbar. Es ist zu erwarten, dass der Sieg der Taliban andere dschihadistische Gruppierungen bestärkt und ermutigt, ihre eigenen terroristischen Pläne weiter umzusetzen. 

Scharia-Flaggen allgemein verbindlich

Während ihres Aufenthalts bei meinen Verwandten war das erste, worüber sich Taliban-Kämpfer sofort empörten, die an der Wand befestigte afghanische Flagge schwarz-rot-grün und eine Moschee in der Mitte. Für die Taliban ist sie die Flagge der Marionetten, der bereits aufgelösten afghanischen Regierung. Ihnen zufolge müsste eine Scharia-Flagge an der Wand hängen, denn sie hatten bereits im Rahmen ihrer ersten Pressekonferenz am 17. August die alte Flagge für ungültig und ihre eigene Version für allgemein verbindlich erklärt.

Privatpersonen sollen die Taliban-Kämpfer mit Nahrungsmitteln und Hygiene-Artikeln unterstützen. Aus Furcht wird genau diesen Anforderungen Folge geleistet. Des Weiteren werden technische Geräte wie Fernseher, Receiver und Satelliten von Taliban-Kämpfern gezielt zerstört. 

Zwangsheirat mit Taliban-Kämpfern

Scheinbar wächst auch in Kundus das Misstrauen in der Gesellschaft. So wird zunehmend hinterfragt, ob sich nicht etwa der Obstverkäufer von nebenan oder der ehemalige Lehrer als Anhänger der Taliban entpuppt. Jeder, der die Taliban kritisiert oder sich aktiv gegen sie stellt, könnte denunziert und letztendlich umgebracht werden. Einige mussten bereits ihre Ausweis- und Behördendokumente verbrennen, die ihnen einen legalen Weg in den Westen garantierten, um Strafen der Taliban zu entgehen.

Frauen wurden gezwungen, die Fenster ihrer Wohnungen zu verdunkeln, weil sie sonst von Männern gesehen werden könnten – in den Augen der Taliban eine moralische Schandtat. Dies ist nicht die einzige Maßnahme gegen Frauen. Mich erreichten Nachrichten, dass verwitwete Frauen mit Taliban-Kämpfern zwangsverheiratet werden. Ohne männliche Begleitung dürfen sie das Haus nicht mehr verlassen. Welche anderen Optionen bleiben ihnen außer dem Tod? Auch Mädchen und Frauen im gebärfähigem Alter sollen mit Taliban-Anhängern verheiratet werden. Frauen mit Behinderungen und jene, die über der gebärfähigen Altersgrenze liegen, wird hingegen kaum Beachtung geschenkt.

Entrechtete Minderheiten

Angesichts der dramatischen Ereignisse am Kabuler Flughafen, wo Menschen versuchen, zu fliehen und ihr Leben zu retten, darf nicht übersehen werden, wie geschickt die Taliban den globalen Fokus auf Kabul nutzen, um ihre Macht in bereits eroberten Provinzen weiter auszubauen. Ihre Beteuerungen, Frauen mehr Rechte zu gewähren, entpuppen sich in Anbetracht der Situation von Frauen in Kundus und anderen Städten als Lügen.

Menschenrechte sollten allgemeingültig anerkannt werden und sich nicht an Einkommen, Bildung oder Geschlecht orientieren. Anders als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sehe ich im gewaltbereiten Islamismus eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die sich primär gegen Frauen, Homosexuelle, Juden und Jüdinnen sowie andere gesellschaftliche Minderheiten richtet. Homosexuelle müssen ihre Identität noch strenger als zuvor verstecken.

Es gab vor vielen Jahrzehnten unzählige jüdische Familien in Afghanistan, doch aufgrund vieler kriegerischer Auseinandersetzungen sind inzwischen sämtliche afghanische Juden nach Israel ausgewandert. Es kommt geradezu einem Wunder gleich, wenn überhaupt noch ein Jude in einem so erzkonservativen Land wie Afghanistan lebt. 

Bestialische Brutalität gegen Frauen

Gerade, weil die Taliban in der Vergangenheit eine bestialische Brutalität gegen Frauen an den Tag legten und gegenwärtig hier anknüpfen, muss aus meiner Sicht geprüft werden, ob die Möglichkeit besteht, gezielt Frauen aus Afghanistan zu evakuieren. Sie gehören zu den Schwächsten der Gesellschaft und haben keine Optionen, sich Gehör zu verschaffen oder gar zur Wehr zu setzen. In Afghanistan gelten sie als entrechtet und werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Insbesondere Frauenrechtlerinnen sind der Gewalt der Taliban schutzlos ausgeliefert.

Die Initiative „Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung“ trifft den Nagel auf den Kopf, wenn sie schreibt: „Es ist zu befürchten, dass all jene Frauen, die sich für Mädchen- und Frauenrechte in irgendeiner Weise eingesetzt haben, einem schweren Schicksal entgegengehen und mit Inhaftierung, Folter (Auspeitschung) und auch mit ihrer Tötung (beispielsweise durch Steinigung) rechnen müssen.“

Das Chaos nimmt zu

Deshalb sollte darüber nachgedacht werden, staatliche Maßnahmen zu ergreifen, die insbesondere Frauen Schutz gewähren. Diese Schilderung der Situation von Frauen und von all denen, die sich für deren Rechte einsetzen, sollte deutlich machen, dass Frauen in Afghanistan als Objekt ohne jegliche Menschenwürde betrachtet werden. Es gilt natürlich auch weiterhin, Ortskräfte zu retten, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um mit ausländischen Truppen zusammenzuarbeiten – Hochverrat in den Augen der Taliban. Aktuell sehen wir, wie das Chaos in Afghanistan immer schlimmer wird. Auf die Frage, wie der Konflikt zu lösen ist, weiß ich, wenn ich ehrlich bin, auch keine zufriedenstellende Antwort.

Ich kann am Ende nur wiedergeben, was sich meine Verwandten und deren Freunde in Afghanistan sagen: Sie wünschen sich ein Ende von Unterdrückung, von Gewalt und von Krieg. Sie wollen endlich ein menschenwürdiges Leben führen mit Zugang zu Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Frieden.

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