Krise in Nordafrika - Vor dem Sturm

Fast überall in Nordafrika kommt es immer häufiger zu Unruhen. Eine riesige Zahl junger Arbeitsloser steht einer kleinen überalterten Machtelite gegenüber, die nicht teilen will. Es droht ein Flächenbrand – mit verheerenden Folgen auch für Europa

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In Marokko finden regelmäßig Ausschreitungen gegen das marokkanische Regime statt / picture alliance
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Susanne Kaiser ist als Journalistin spezialisiert auf die arabische Welt und hat über Nordafrika promoviert. Sie ist auch als politische Beraterin tätig. Foto: privat

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Wenn Omar morgens auf die Straße tritt, stellt er sich zwei Fragen: Wo gehe ich jetzt hin? Und: Was mache ich heute? Manchmal ist es da noch gar nicht richtig hell, die Kühle der Nacht hängt noch in der Luft von Al Hoceïma, einer kleinen Stadt an der Mittelmeerküste im Norden Marokkos. An anderen Tagen brennt die Sonne schon senkrecht herunter, wenn er die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, denn morgens ist, wann Omar aufsteht. Dann zieht er los, in einen ungewissen Tag, an dem alles offen scheint und am Ende doch nur wenig passiert.

Oft landet er an dem Ort, den er eigentlich meiden wollte: im Café. Mit vielen anderen jungen Männern, die nichts zu tun haben, schlägt er hier die Zeit tot. Gemeinsam schauen sie auf den Fernseher; wer Geld hat, wettet auf seine Fußballmannschaft und kann für kurze Zeit auf den ganz großen Gewinn, auf ein besseres Leben hoffen. Davon träumen hier alle. „Die Leute sind arm, deshalb wetten sie. Das ist die einzige Möglichkeit, an viel Geld zu kommen, wenn man nicht kriminell werden will“, erklärt Omar, warum die Männer ihr bisschen Geld lieber in Sportwetten investieren anstatt sich etwas zu essen oder neue Kleidung zu leisten. Die Hoffnung ist für jene, die sich hier versammeln, wertvoller als ein frisches Hemd oder ein voller Magen.

Aber es gibt auch andere Tage, die nämlich, an denen Omar Arbeit hat. Oft sind es Gelegenheitsjobs: einen Computer reparieren, im Cybercafé aushelfen, auf einem nahe gelegenen Gehöft mit anpacken. Eine offizielle Anstellung gibt es nicht, die Beschäftigung läuft ohne Papiere, ohne Sozial- oder Krankenversicherung und vor allem ohne Rechte. Und oft genug wird er dafür nicht einmal bezahlt, denn die Leute haben ja kein Geld. Omar hilft trotzdem, denn nichts ist schlimmer, als gar nichts zu tun zu haben. So schlägt der Mittdreißiger sich durch, tagein, tagaus, seit er die Schule mit 16 Jahren abgebrochen hat. Er kennt es nicht anders. Wie kann er davon seine Miete bezahlen, wie seine Familie ernähren?

„Gar nicht“, sagt der junge Mann knapp. „Ich wohne noch im Haus meiner Eltern.“ Dass er dabei plötzlich ernst wird, verrät den wunden Punkt, denn eigentlich lacht Omar immer und trotz allem. An eine eigene Familie ist unter diesen Umständen kaum zu denken. Die Mieten sind hoch, die Lebensmittel teuer, viele Haushalte haben nur ein einziges Einkommen. Ganze Großfamilien würden so mittlerweile auf engstem Raum aufeinanderhocken, manchmal in nur zwei oder drei Zimmern, weil die längst erwachsenen Kinder sich keine eigenen Wohnungen leisten können. Auch Omars Familie mit sieben Kindern musste mit dem Lehrergehalt des Vaters auskommen, als der noch lebte. Das waren rund 350 Euro im Monat für neun Personen. Aus Omars heutiger Sicht goldene Zeiten, denn immerhin hatte der Vater Sicherheit, eine Aufgabe, einen Ort, wo er jeden Tag hingehen konnte. Und damit auch eine Zukunft.

Ein Großteil der jungen Leute ist arbeitslos

Da, wo Omar herkommt, gibt es viele, die wie er noch nie einen richtigen Job hatten, die noch nie fest und offiziell irgendwo gearbeitet haben, mit dreißig noch zu Hause wohnen und nicht heiraten können. Wie viele genau, lässt sich nur schwer sagen. Laut offiziellen Statistiken sind es bloß 5 Prozent, die in der Region ohne Beschäftigung sind. Dass das nicht stimmen kann, zeigt allein das Stadtbild in Al Hoceïma, denn überall begegnet man tagsüber Gruppen von jungen Leuten, die offensichtlich nichts zu tun haben. Sie hängen herum, weil die kleine Küstenstadt auch sonst kaum etwas zu bieten hat. Omar schätzt, dass über 80 Prozent der Jungen arbeitslos sind. „Besonders schlimm ist es für die Frauen. Wenn sie aus konservativen Familien kommen, dann sitzen sie den ganzen Tag nur zu Hause und haben trotzdem nie ihre Ruhe oder gar Privatsphäre. Immer ist irgendwer da.“

Weil die Wirtschaft in diesem Teil Marokkos am Boden liegt, florieren Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft. Schmuggel, Drogen, Korruption, das sind die Bereiche, in denen sich etwas verdienen oder zumindest das Existenzminimum sichern lässt. Der Zentralstaat ist weit weg und kümmert sich nicht um die Belange der einfachen Leute in dieser Region. Doch nicht nur hier, in vielen Gegenden Marokkos fühlen sich die Menschen abgehängt und an die Ränder der Gesellschaft gedrängt. Wo überall, lässt sich erahnen, wenn man sich das Bahnnetz genauer anschaut. Die Streckenlinien zeigen mit einem Blick, wie ungleichmäßig hier verteilt wurde. Die vielleicht besten Züge auf dem afrikanischen Kontinent fahren auf einem schmalen Streifen am Meer zwischen Casablanca und Tanger, mit wenigen Schlenkern zu wichtigen Städten im Landesinneren wie Marrakesch, Fes oder Oujda. Investitionen sind im Königreich in die Infrastruktur der wirtschaftlich viel versprechenden Atlantikküste geflossen, dort konzentriert sich der Reichtum. Der Rest muss sehen, wo er bleibt oder wie er von A nach B kommt. Dazu gehört das Rifgebirge zwischen Mittelmeerküste und algerischer Grenze, wo Al Hoceïma liegt. Hier fährt kein Zug, im Landesinneren gibt es nicht einmal richtige Straßen. Der Staat tut sich mit der Verwaltung der unzugänglichen Bergregion schwer und vernachlässigt sie deshalb lieber. Das Gleiche gilt für den riesigen Süden des Königreichs vom Atlas abwärts, der erst gebirgig ist und dann Wüste wird.

In Städten wie Marrakesch konzentriert sich der Reichtum, der Tourismus floriert / picture alliance

„Immer wenn die Menschen hier versuchen, etwas an ihrer Situation zu ändern, und irgendein kleines Geschäft aufziehen wollen, irgendeine gute Idee haben, werden ihnen vom Staat Steine in den Weg gelegt“, beschwert sich Omar. „Dann ist der Staat auf einmal da und verlangt einen Haufen Papiere – und Geld.“ Für den Arbeitslosen ist das der Hauptgrund dafür, dass seine Stadt in einen Zustand der Apathie verfallen ist, in eine gewaltige gesellschaftliche Depression, wie er es nennt. „Wir sind hier immer im Dazwischen, wie gelähmt“, sagt er.

Wut auf die Staatsmacht

Dann wird es Nachmittag in Al Hoceïma, und plötzlich tut sich etwas. Zuerst schließen die Läden. Dann treten die Jungen aus ihren Cafés und sammeln sich in den Straßen, setzen sich gemeinsam in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller. Es werden mehr und mehr, von überallher strömen jetzt Menschen zusammen, bald sind auch Frauen, Kinder, Alte vertreten. Sie singen und rufen, manche haben von irgendwoher Transparente. Gemeinsam werden sie zu einem Meer aus Menschen und Fahnen. Endlich gibt es etwas zu tun. Seit einem Jahr, seit der Fischhändler Mouhcine Fikri in eben dieser Stadt in einem Müllwagen zu Tode gequetscht wurde, wird der ganze Norden von Marokko regelmäßig von Aufständen und sozialen Unruhen geschüttelt, auch in anderen Städten wie Nador oder Tanger. Hin und wieder springt der Funke dabei auf die großen Metropolen über, auf Rabat, Casablanca, Marrakesch. Der Tod des Fischhändlers in der Müllpresse wurde zum Sinnbild für das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern. Für Omar bedeutet es, dass sein Tag nicht ereignislos zu Ende gehen wird.

Die friedliche Stimmung kippt in dem Moment, in dem die Staatsmacht auftaucht. Plötzlich sind es wütende Demonstranten, die auf geschlossene Reihen der langsam vorrückenden Polizei treffen. Auf der einen Seite die vielen, auf der anderen die Hochgerüsteten, mit Schilden, Schlagstöcken, Helmen. Mit einem Mal stehen einem die Bilder von den Arabischen Aufständen vor Augen. Mit einem Unterschied: Die Protestierenden von Al Hoceïma fordern nicht den Sturz des Regimes. Dazu fehlt ihnen der Optimismus, der 2011 noch die Straßen beseelte und die Bewegungen von Marokko bis Syrien beflügelte. Doch heute weiß niemand, was kommen wird. Sicher ist nur, dass es so nicht weitergehen kann. Deshalb fordern die Demonstranten von Al Hoceïma pragmatische Dinge wie Jobs, Infrastruktur, Krankenhäuser, Schulen.

Auch wenn die Situation in Marokko besonders ist – das Rifgebirge war schon immer rebellisch und wurde bereits in der Kolonialzeit systematisch ausgegrenzt –, ist sie in Nordafrika kein Einzelfall. In der letzten einigermaßen stabilen Region der arabischen Welt brodelt es überall so wie in Al Hoceïma. Selbst das Bürgerkriegschaos im arabischen Osten schreckt die Menschen nicht länger davon ab, auf die Barrikaden zu gehen. In Ägypten kommt es regelmäßig zu Brotunruhen, in Algerien und Tunesien sorgt eine handfeste Wirtschaftskrise vor allem in den abgehängten Regionen der südlichen Peripherie für Aufruhr; sogar in Libyen demonstriert die Bevölkerung, während sie um ihr tägliches Überleben kämpft. Dabei gibt es hier nicht einmal mehr einen Staat, dessen Vertretern sie ihre Wut und Verzweiflung entgegenhalten könnte.

Jederzeit können Unruhen losbrechen

Wie in Marokko gehen auch in Tunesien die Menschen regelmäßig auf die Straße, weil sie an ihrer Lage verzweifeln. Orte wie Al Hoceïma findet man auch hier. Tataouine ist so einer, eine trostlose Stadt in der tunesischen Provinz gleichen Namens im südlichen Dreieck zwischen libyscher und algerischer Grenze. Sie ist das „Tor zur Wüste“, wie der Beiname verrät, und hier gibt es wirklich kaum etwas anderes als Häuser und Sand. Vor allem gibt es für fast 70 000 Einwohner nichts zu tun: keine Freizeitangebote, keine Kultur, keine Arbeit. 30 Prozent der Bevölkerung sind offiziell arbeitslos, unter Akademikern sogar fast 60 Prozent. Der Schmuggel mit Alkohol, Zigaretten und Menschen ist das einträglichste Geschäft in der Gegend – und selbst das läuft schlecht, seit die Grenze nach Libyen dicht ist. Der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz Anis Amri kam von hier, und viel Fantasie braucht man nicht, um sich seinen Werdegang vorzustellen.

Dabei liegen hier Tunesiens Öl- und Gasressourcen. Aber auch in der vergessenen Gegend von Tataouine kommt das kaum jemandem zugute, denn die Regierung im weit entfernten Tunis hat die Erschließungsverträge an ausländische Großunternehmen wie den italienischen Ölmulti Eni vergeben. Die Bevölkerung wurde dabei schlicht übergangen. Wenn die wenigen einfachen Arbeiter aus der Region dann entlassen werden wie vor einigen Monaten, sind soziale Unruhen programmiert. Demonstranten blockierten über Wochen in Zelten die Zufahrtswege zu den Förderanlagen in El Kamour und organisierten Protestmärsche in der Provinzhauptstadt. Als die Armee ausrückte, um zum ersten Mal seit der Revolution gegen Zivilisten vorzugehen, schlug der zunächst friedliche Konflikt in offene Gewalt um.

Ein Demonstrant in Casablanca: „Die Menschen wollen einfach nur ihre Rechte.“ / picture alliance

Jederzeit können solche Unruhen von neuem losbrechen, denn die Aufständischen haben weder etwas zu verlieren noch etwas anderes zu tun. Im tunesischen Hinterland gibt es viele Städte und Provinzen wie Tataouine. Die Revolten mögen vereinzelt erscheinen, die regionalen Unterschiede groß und die Ereignisse, die sie auslösen, lokal. Doch sie alle entstehen auf demselben Nährboden: Es sind junge Leute, die sich mit den Etablierten anlegen. Sie fordern Arbeitsplätze, politische Teilhabe und soziale Gerechtigkeit, ein Ende der Korruption und der Selbstbedienungsmentalität der herrschenden Eliten. Fast genau wie 2011, als der Slogan von „Brot, Freiheit, Würde“ durch die arabische Welt ging, erzählt man sich in den Gesellschaften von Marokko bis Ägypten bei allen Unterschieden ja doch ein und dieselbe Geschichte von Armut, Unterdrückung und Ungleichheit.

„Von Unabhängigkeit wie einst spricht hier niemand mehr“, weiß auch Omar. „Die Menschen wollen einfach nur ihre Rechte. Dafür gehen wir auf die Straße.“ Das ist in den abgehängten Gegenden Nordafrikas überall gleich – sie haben deshalb mehr miteinander gemeinsam als mit den privilegierteren Regionen ihrer jeweiligen Länder. Daran hat sich zwischen Mittelmeer und Sahara auch nach 2011 grundsätzlich nichts geändert, außer dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergegangen ist. Seit Jahrzehnten geht das so. Es ist etwas ganz Grundsätzliches, das hier schiefläuft.

Der niedrige Ölpreis ist Grund für die Misere

Stagnation, die wie Stabilität aussieht, ist gefährlich. Denn damit ist es noch weniger vorhersehbar, wann Staaten umstürzen. 40 Jahre lang hält sich ein Regime wie das von Gaddafi in Libyen an der Macht – und dann ist binnen weniger Wochen alles vorbei. Das Potenzial für einen solchen Umsturz ist in allen Ländern am südlichen Mittelmeer vorhanden, die aufflammenden Proteste sind oft genug gefährlich nah an der Eskalation. In Algerien beispielsweise fällt es dem Regime immer schwerer, die öl- und gasreichen Wüstenregionen zu kontrollieren, genau wie in Tunesien. Nur dass Algerien viel größer ist und fast nur aus Wüste besteht. Im flächenmäßig größten Land auf dem afrikanischen Kontinent sind riesige Gebiete sich selbst überlassen. Der Süden wird regelmäßig zum Schauplatz von sozialen Unruhen. Vom Zentralstaat schaut nur jemand vorbei, wenn es darum geht, die Ressourcen abzuschöpfen oder Ausschreitungen einzudämmen. Eine greise Garde um Staatspräsident Bouteflika hält die Zügel im altersschwachen Griff. Sie legitimiert ihre Herrschaft immer noch aus dem Unabhängigkeitskrieg mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Aber das war vor 55 Jahren, und heute interessiert es längst niemanden mehr, weil die meisten Algerier erst viel später geboren sind.

Was die Menschen hingegen interessiert, ist der niedrige Ölpreis, denn der ist verantwortlich für ihre wirtschaftliche Misere. Dass der überalterte Bouteflika-Clan die Regierungsgeschäfte abgeben wird, ist nur eine Frage der Zeit. Der Machtkampf um die Nachfolge ist hinter den Fassaden längst losgebrochen. Was dann aber aus der letzten „sozialistischen Volksrepublik“ in der arabischen Welt wird, ist völlig offen. Durch die engen wirtschaftlichen und menschlichen Verflechtungen zwischen den nordafrikanischen Staaten lässt sich kaum ausmalen, welche Dynamik in Gang kommt, wenn in nur einem der Staaten größere Umbrüche geschehen – mit ungewissem Ausgang auch für Europa. Denn was passiert, wenn im Maghreb und in ganz Nordafrika Chaos ausbricht? Dass Revolutionen Jahrzehnte dauern und viele Opfer fordern können, haben die vergangenen Jahre gezeigt.

Die Protestierenden werden mit ihren Forderungen irgendwann die Oberhand gewinnen, sagen Experten. Nur den Zeitpunkt kennen sie nicht. Der Grund dafür ist gar nicht so sehr, dass die jungen Aufständischen auf der „richtigen Seite der Geschichte“ stünden, wie US-Präsident Obama damals, im Arabischen Frühling, den Demonstranten versicherte. Sie haben etwas viel Verlässlicheres auf ihrer Seite: die Natur. Der Altersdurchschnitt liegt überall in Nordafrika bei rund 25 Jahren. Das bedeutet naturgemäß tektonische Veränderungen für die Gesellschaften und für die Wirtschaft.
Der Jugendüberschuss sorgt dafür, dass binnen kurzer Zeit immer mehr Einwohner Forderungen stellen: Arbeitsplätze, Wohnungen, Lebensmittel, Wasser. Die Regierung in Algier beispielsweise muss heute die Versorgung für doppelt so viele Algerier sicherstellen wie noch vor 30 Jahren: für 40 Millionen Menschen. In Marokko verlangen heute doppelt so viele Menschen nach Arbeit. Stagnation reicht da nicht aus als Wirtschaftsmodell.

Armenviertel am Stadtrand von Casablanca: Die Wirtschaft liegt am Boden / picture alliance

Deshalb sind überdurchschnittlich viele junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen, das war 2011 so und ist es heute. Im Jahr vor der Revolution waren laut Weltbank etwa in Tunesien offiziell 30 Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos, heute sind es 36 Prozent. Und das, obwohl sie viel besser ausgebildet sind als ihre Eltern. Sie stehen aber einer kleinen und überdurchschnittlich alten Wirtschafts- und Machtelite gegenüber, die nicht teilen will. Dass dieses System zusammenbrechen wird, scheint unausweichlich; die vielen jungen Leute haben außer ihrer Perspektiv­losigkeit kaum etwas zu verlieren. Hinzu kommen die großen sozialen und regionalen Unterschiede, die schier unüberwindbare Kluft zwischen Zentrum und Peripherie. Für Tunesien ist und bleibt sie das größte Hindernis auf dem Weg zur Demokratie.

„Ich hänge an meiner Heimat“

Wann wird Omar sich entschließen, sein Glück woanders zu suchen? Was hält ihn davon ab, sich zusammen mit den anderen Jungen aus Al Hoceïma aufzumachen, nach Europa? Die vielen jungen Einwohner Nordafrikas haben alles, was man zum Auswandern braucht: genug Bildung und Horizont, um sich ein besseres Leben ausmalen zu können; Omar etwa spricht fünf Sprachen, obwohl er nicht einmal Abitur hat. Sie sind verzweifelt genug, um sich in ein Schlauchboot Richtung Europa zu setzen. Niemand würde sie aufhalten, wenn die staatliche Ordnungsmacht im Chaos Besseres zu tun hätte, als Migrationsabkommen zu erfüllen.

Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Jugendüberschusskrisen gelöst werden, indem man die eigene Bevölkerung ziehen lässt. So war es auch in Europa, als im 19. Jahrhundert eine riesige Auswandererwelle nach Amerika schwappte. Amerika war damals ein großes Land mit wenigen Einwohnern und vielen Möglichkeiten. In Europa sieht das anders aus, schon die knappe Million Flüchtlinge von 2015 brachte die EU an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit und viele Bürger an die Grenzen ihrer Toleranz. Ganz Nordafrika aber hat fast 200 Millionen Einwohner. Hinzu kommen Migranten aus den Regionen des Kontinents südlich der Sahara.

Deshalb lautet Omars Antwort auch: „Ich hänge an meiner Heimat, an Al Hoceïma und den Bergen. Aber wenn ich nicht arbeiten kann, hält mich hier nichts mehr.“ Ob er sich Sorgen über die Zukunft macht? „Über meine Zukunft denke ich überhaupt nicht nach“, sagt Omar, „denn hier habe ich keine.“

Dies ist ein Artikel aus der Dezemberausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.









 

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