Krieg in Syrien - „Assad hat de facto keine Armee mehr“

Die Situation in Syrien scheint festgefahren. Die syrische Armee und die von ihr besetzten Gebiete werden mittlerweile von lokalen Warlords dominiert, sagt der Verteidigungsexperte Tobias Schneider. Das Problem: Die Kriminellen haben kein Interesse an einem Ende des Krieges

Baschar al-Assad kann den Großteil seiner Truppen gar nicht einsetzen / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Lars Hauch ist freier Journalist mit dem Themenschwerpunkt Syrien und Irak. Er publiziert bei verschiedenen deutschsprachigen und internationalen Medien.

So erreichen Sie Lars Hauch:

Anzeige

Herr Schneider, zu Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 2011 zählte die syrische Armee rund 300.000 Mann. Können Sie ungefähr beziffern, wie viele Soldaten nach der Desertationswelle und den verlustreichen vergangenen Jahren heute noch unter dem Kommando der Armee stehen?
Das ist eine schwierige Frage. Prinzipiell gibt es verschiedene Abstufungen. In Syrien gibt es eine große Anzahl von Männern, die formal Soldaten sind, jedoch nicht mehr zu Fronteinsätzen herangezogen werden. Insgesamt dürfte der Kern der Armee sich noch auf knapp 6.000 Soldaten belaufen. Im Süden des Landes gibt es zwar vermutlich noch rund 30.000 bis 40.000 Soldaten. Die kann man aber kaum einsetzen.

Woran liegt das?
Die Gründe dafür liegen in mangelnder Loyalität, Ausrüstung und Funktion. Häufig zahlen Familien Geld an Offiziere, damit die ihre Kinder von der Front weghalten. Die, die an die Front geschickt werden, sind oft ehemalige Gefangene, die vor die Wahl gestellt wurden: Fronteinsatz oder Folter-Gefängnis. Dair as-Saur, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Osten des Landes, ist ein Beispiel dafür. Das Regime schickt viele Rekruten in die Stadt, weil sie schlicht nicht weglaufen können. Denn auf der anderen Seite der Front, beim IS, geht es noch brutaler zu. Generell ist es so, dass viele Soldaten nicht effektiv einsatzfähig sind, weil das Regime ihnen nicht vertraut. Dieses Misstrauen hängt unmittelbar mit den jeweiligen lokalen Verhältnissen zusammen.

Die Pro-Regime-Truppen sind also vor allem lokal organisiert?
Definitiv. Da kommen wir zum großen Feld der Milizen. Sie alle sind sehr ähnlich organisiert wie die Opposition. Das Hauptproblem des Regimes ist nicht, dass es über weniger Soldaten verfügt als die Opposition. In dieser Hinsicht hat es sich vermutlich sogar stabilisiert. Doch die Milizen kämpfen eben nur in einer bestimmten Region. Wenn irgendwo im Land eine neue Offensive stattfindet, es dort aber nicht genügend lokale Rekruten gibt, hat das Regime ein Problem: Es verfügt nicht über Soldaten, die flexibel einsetzbar sind.

Gruppen wie die „Tiger Forces“ und „Desert Hawks“ tauchen in den Medien immer wieder auf, zum Beispiel im Rahmen der Rückeroberung Palmyras im März 2016. Meist werden sie als Eliteeinheiten des Regimes bezeichnet. Was sind das für Verbände?
Die Tiger Forces sind das Resultat der jahrelangen Kriminalisierung der syrischen Geheimdienste. Insbesondere der Luftwaffen-Geheimdienst hat sich über Jahre ein Netzwerk von lokalen Kriminellen und bewaffneten Gruppen aufgebaut. Mit Hilfe dieser Gruppen hat das Regime versucht, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. Nach Beginn des Konflikts im Jahr 2011 sind aus diesem Netzwerk dann die Tiger Forces hervor gegangen. Sie sind eine der großen schnellen Eingreiftruppen des Regimes. Die Desert Hawks hingegen kommen aus dem Öl-Schmuggel-Geschäft. Sie stehen nicht unter direkter Kontrolle des Regimes und sind kein Teil der Armee. Sowohl die Tiger Forces als auch die Desert Hawks finanzieren sich hauptsächlich durch Kriminalität: Schmuggel und Kidnapping. Vor allem Kidnapping ist ein gigantisches Geschäft. Die Tiger Forces unterhalten zum Beispiel ein eigenes Gefängnis, aus dem Angehörige Gefangene freikaufen können.

Verfolgen diese Gruppen auch eigene politische oder ideologische Ziele?
Nein, prinzipiell nicht. Politisch sind sie aber natürlich insofern, als dass sie dem Regime gegenüber loyal sind. Sie werden sich nicht gegen Präsident Assad auflehnen oder putschen. Lokal verfolgen sie jedoch ihre eigenen Interessen und beeinträchtigen damit die gesamte Effektivität des Regimes. Regelmäßig kommt es zu Konflikten. Zum Beispiel, wenn die Milizen Öl zum Islamischen Staat oder Waffen zur Opposition schmuggeln. Manchmal versucht das Regime, dies zu unterbinden, kann es letztlich aber nicht. Wenn es den Schmuggel unterbände, würde es damit die ihm loyalen Milizen schwächen, die von der Kriegsökonomie leben. Gleichzeitig speist es so natürlich die Opposition. In gewisser Weise erhält sich der Krieg auf lokaler Ebene dadurch selbst.

Akzeptieren die Milizen staatliches Recht, sofern es noch gilt, oder setzen sie mit ihrem Gewaltmonopol eigenes Recht durch?
Sie akzeptieren kein staatliches Recht. Über Jahre hinweg haben lokale Offiziere und Gouverneure sich ein Netzwerk von Kriminellen aufgebaut, das sie finanzieren sollte. Als der Staat sich dann zu Beginn des Krieges zurückgezogen hat, haben die Kriminellen große Handlungsfreiheit erhalten und setzen seither ihr eigenes Gesetz durch. Das Regime kann auf die militärische Kraft der Milizen nicht verzichten, gleichzeitig bewegen die sich außerhalb jedes Gesetzes. Mittlerweile steht der Großteil des Landes unter der Kontrolle von Kriminellen und lokalen Warlords.

Wenn die Warlords und zugehörigen Milizen sich durch die Kriegsökonomie finanzieren, haben sie überhaupt ein Interesse an einem Ende des Krieges?
Grundsätzlich nein. Ein Problem mit Waffenstillständen haben sie zwar nicht: Solange die Opposition existiert, können sie mit ihr handeln, und solange Zivilisten unter relativer Belagerung stehen, kann man sie ausbeuten. Aber ein tatsächliches Endes des Krieges und der Belagerungen würde sie aus dem Geschäft werfen.

Sollte es doch einmal Frieden geben, würden die Milizen ihre Waffen abgeben?
Das schwere Gerät, also Panzer und Geschütze, womöglich. Viele von ihnen würden wahrscheinlich in die Armee eingegliedert werden. Grundsätzlich gehe ich aber davon aus, dass es auf eine Situation wie im Irak hinausläuft, wo jeder bewaffnet ist und sich lokale Milizen formieren, die sich immer neue Geldgeber suchen. Außerdem bräuchte man für eine vollständige Entwaffnung hunderttausende Blauhelm-Soldaten.

Zugespitzt: Lässt sich das Territorium des Regimes noch als Staatsgebilde bezeichnen?
Es handelt sich um das Kernland des Regimes, nicht um ein Staatsgebilde. Das Regime hat über Jahre hinweg oppositionelle Sunniten vertrieben und jeden Widerstand unterdrückt. Um seine Macht durchzusetzen, instrumentalisiert es lokale Minderheiten. Außerdem setzt es gezielt auf Clans und Stammesnetzwerke, die aus unterschiedlichen Gründen dem Regime die Treue geschworen haben. Über all dem stehen die Geheimdienste, die im Gegensatz zur Armee nicht verschwunden sind. Diese bilden das Rückgrat des Regimes und sind zu gewaltigen Organisationen geworden, die sich wegen ihrer kriminellen Strukturen und staatlichen Verflechtung recht gut mit mexikanischen Kartellen vergleichen lassen.

Tobias Schneider ist sicherheitspolitischer Analyst und befasst sich insbesondere mit dem syrischen Regime. Er war für verschiedene deutsche sowie internationale Thinktanks tätig und hat mehrere Jahre in der Konfliktregion verbracht. Er ist Absolvent des Graduiertenkollegs School of Advanced International Studies der John-Hopkins-Universität in Washington D.C.

 

Zu diesem Artikel gibt es eine Umfrage
Cicero arbeitet mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Civey erstellt repräsentative Umfragen im Netz und basiert auf einer neu entwickelte statistischen Methode. Wie das genau funktioniert, kann man hier nachlesen. Sie können abstimmen, ohne sich vorher anzumelden.
Wenn Sie allerdings  direkt die repräsentativen Ergebnisse – inklusive Zeitverlauf und statistische Qualität – einsehen möchten, ist eine Anmeldung notwendig. Dabei werden Daten wie Geburtsjahr, Geschlecht, Nationalität, E-Mailadresse und Postleitzahl abgefragt. Diese Daten werden vertraulich behandelt, sie sind lediglich notwendig, um Repräsentativität zu gewährleisten. Civey arbeitet mit der Hochschule Rhein-Waal zusammen.

Anzeige