Krieg in der Ukraine - Flüchtlings-Ansturm in Lemberg

Die Stadt Lemberg im Westen der Ukraine platzt vor Flüchtlingen. Tausende versammeln sich im und rund um den Bahnhof - neben ausländische Studenten vor allem Familien mit kleinen Kindern. Viele von ihnen haben Freunde und Verwandte in Polen oder Deutschland. Doch wegen der Generalmobilmachung dürfen derzeit nur Frauen und Kinder das Land verlassen.

Der Bahnhof von Lemberg ist Anziehungspunkt für Flüchtlinge aus der ganzen Ukraine / Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Am Ende bleibt ein Kinderschuh zurück auf dem Bahnsteig, Größe 25, daneben ein rosa Handschuh, ausgeleerte Koffer, Plastiktüten voller Essen. Schneeflocken treiben aus der Lemberger Nacht in die Bahnhofshalle. Missmutig machen sich die einen auf den Weg in ihre Flüchtlingsunterkunft, andere bleiben auf dem Bahnsteig zurück, in der Hoffnung, dass doch noch ein weiterer Zug kommt.

Gerade haben sich hier auf dem Bahnhof der Stadt Lemberg Szenen abgespielt, die an Fluchtbewegungen zu Anfang des Zweiten Weltkriegs erinnern. Wir schreiben das Jahr 2022, Tag fünf des russischen Kriegs gegen die Ukraine.

Lemberg mit seinen 700.000 Einwohnern ist für viele Menschen in der Ukraine jetzt das Tor nach Europa: Aus dem ganzen Land kommen sogenannte Evakuierungszüge an, von hier fahren täglich mehrere Züge in Richtung Polen oder Ungarn. Am Montagmorgen meldet Polen, dass es bisher 281.000 Menschen aus der Ukraine aufgenommen hat.

Polnische und deutsche Bahn lassen Ukrainer umsonst Fernzüge nutzen

Aber das Chaos ist groß. Während viele Lemberger in die Dörfer in der Umgebung geflohen sind, sind aus der übrigen Ukraine Zehntausende sind in die Stadt gekommen. An den Grenzübergängen, etwa 60 Kilometer westlich der Stadt, stehen die Autos inzwischen zwei bis drei Tage, bis sie über die Grenze kommen. Auf der polnischen Seite wird alles leichter: Viele haben Verwandte und Bekannte in Polen oder in Deutschland, die sie abholen. Die polnische und die deutsche Bahn lassen Ukrainer zudem umsonst Fernzüge nutzen.

 

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In Lemberg sind es an diesem Sonntag Tausende, die sich im und rund um den Bahnhof versammelt haben, einem neoklassizistischen Prachtbau, gebaut Ende des 19. Jahrhunderts von den Österreichern. Viele ukrainische Familien mit kleinen Kindern sind da, die Väter sind oft noch dabei, aber es ist klar, dass sie von hier wieder in ihre Heimatorte zurückfahren werden: Seit der Verkündung der Generalmobilmachung dürfen Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen.

Tausende ausländischer Studenten studieren in der Ukraine

Auffällig sind auch die vielen Afrikaner und sonstigen Ausländer auf dem Vorplatz des Bahnhofs: Sie gehören zu den Tausenden ausländischen Studenten, die in der Ukraine studieren – ein spätes Erbe der Sowjetunion, die Studenten aus „sozialistischen Bruderstaaten“ ein Studium ermöglichte. Nigerianer, Marokkaner, Iraner, Kameruner, Palästinenser, sogar eine Gruppe Bolivianer sind jetzt aus dem ganzen Land nach Lemberg gekommen, um das Land zu verlassen. Viele von ihnen studieren Medizin, aber auch Maschinenbau und „ökonomische Kybernetik“, wie zum Beispiel eine junge Marokkanerin.

Die meisten sprechen Russisch oder Ukrainisch und können sich in Lemberg orientieren. Aber auch ein iranischer Medizinstudent ist darunter, der in Kiew einen englischsprachigen Studiengang in Medizin absolviert – und nur Englisch spricht. Er will nach Deutschland und dort sein Studium beenden, erzählt er. Eine Gruppe Nigerianer will zuerst nach Deutschland und dann fürs erste in die Heimat zurückkehren. Es sind wie die Ukrainer Menschen, die von Putins Krieg aus ihrem ganz normalen Alltag gerissen wurden.

Im Bahnhof selbst herrschen Lärm und dichtes Gedränge: Die Menschen stehen an den Kassen an, obwohl es für die Züge in Richtung Westen längst keine Tickets mehr gibt. Für die Flüchtlingszüge gilt: Wer es reinschafft, fährt mit. Deshalb formen sich in den Tunneln unter den Bahnsteigen und auf den Gleisen, auf denen Züge erwartet werden, schon ab dem Morgen lange Schlangen. Aggressiv werden die Plätze verteidigt, wer sich vorbeidrängeln will, wird beschimpft und zurückgedrängt.

Hunderte bleiben auf dem Bahnsteig zurück

Kaum jemand weiß, wann Züge wohin fahren. Lediglich die Züge aus Odessa, Kiew oder Dnipro kommen noch nach Fahrplan an. Jeder spuckt wieder Hunderte Menschen aus, die von hier weiter nach Polen oder Ungarn wollen. Gegen Mittag fährt dann ein erster Zug in die etwa 160 Kilometer entfernte polnische Stadt Chelm, der in erster Linie für Ausländer reserviert ist. Eigentlich soll das vor den Ukrainern geheimgehalten werden, um keinen Hass zu schüren. Aber die ukrainische Eisenbahn kündigt den Zug dann doch im Messenger Telegram an, weshalb am Ende auch viele Ukrainer mit dem Zug fahren. Am Nachmittag fährt ein zweiter Zug, der aber nur Frauen und Kinder aufnimmt.

Am Abend dann, gegen 20 Uhr, rollt auf Gleis zwei eine „Elektritschka“, eine Art Regionalbahn, nach Polen ein. Heftiger Schneefall hat eingesetzt und treibt in die Bahnhofshalle. Sieben oder acht Waggons öffnen ihre Türen. Sofort erhebt sich ohrenbetäubender Lärm, die Kinder schreien „Mama, Mama!“. In den Türen stehen bewaffnete Soldaten und Bahnmitarbeiter, die Männer zurückstoßen, die versuchen, in den Zug zu kommen. Frauen mit kleinen Kindern versuchen, sich durchzuzwängen, Kinder werden durchgereicht und von den Bahnmitarbeitern in den Waggon gesetzt. „Only Woman“, schreien die Männer immer wieder in die Menge. Ein Hund bleibt mit Leine auf dem Bahnsteig stehen. „Alina und Lisa, Alina und Lisa“, ruft ein freiwilliger Helfer, auf dem Bahnsteig auf- und abrennend. „Die Mutter ist vorne eingestiegen, sie will wissen, ob ihre Töchter eingestiegen sind.“ Vermutlich haben sie es geschafft, aber im Chaos antwortet niemand.

Nach einer halben Stunde ist der Kampf beendet, die Elektritschka ist so voll, dass die Türen nur mit Mühe geschlossen werden können. Die Soldaten springen kurz vorher ab, schwerfällig verlässt die Elektritschka die Halle in Richtung Westen. Hunderte bleiben auf dem Bahnsteig. Durch den Schnee stapfen Ukrainer und Nigerianer in die Lemberger Nacht, vom Schicksal vereint. Morgen werden sie es wieder versuchen.

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