Ukraine-Krieg - Putins System frisst seine Kader

Der von Russland als „Spezialoperation“ etikettierte Überfall auf die Ukraine läuft aus Kreml-Sicht nicht gerade optimal. Weil dem so ist, hält der russische Präsident Wladimir Putin daher längst nach Sündenböcken Ausschau – und sein Radius wird dabei immer enger. Nun streut ein Ex-Oligarch sogar das Gerücht, der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu sei vergiftet worden. Klar ist: Selbst beim russischen Geheimdienst ist man nicht mehr sicher vor Putins Säuberungsaktionen.

Schoigu vor dem Sarg des Nationalchauvinisten Schirinowski. Sieht er seinem eigenen Schicksal entgegen? / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Hat der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu einen Herzinfarkt erlitten? Das berichtet jedenfalls Leonid Nevzlin, ein russischer Oligarch im Exil, der sich auf seine „Quellen in Moskau“ beruft. Folgt man Nevzlin, sei Schoigus Herzinfarkt zudem die Folge einer Vergiftung durch den Kreml. Vor seiner Flucht aus Russland gehörte Nevzlin zu den Führungskräften von Yukos – der Ölfirma, der der Oligarch Michail Chodorkowski vorstand. Als Chodorkowski stürzte, stürzte auch Nevzlin, der mittlerweile in Israel lebt. Insofern sind seine Berichte mit Vorsicht zu genießen.

Allerdings scheint Schoigu schon auffällig lang von der Bildfläche verschwunden zu sein. Moskau weist das zwar zurück, lieferte als Reaktion auf entsprechende Gerüchte bereits mehrere Videoaufnahmen Schoigus. Deren Aktualität ist allerdings umstritten. Klar ist derweil: Putin steht unter Druck. Denn sein Überfall auf die Ukraine – seine „Spezialoperation“, wie selbiger in Russland nur genannt werden darf – läuft nicht, wie geplant. Und weil dem so ist, hält der russische Präsident schon länger nach Sündenböcken Ausschau – und sein Radius wird dabei immer enger.

Die Rolle der Armee im russischen Herrschaftssystem

Die Machtstruktur in Russland gliedert sich seit der Sowjetzeit in drei Säulen, in Partei (früher KPdSU, heute Einiges Russland), in Geheimdienst (früher KGB, heute FSB) und Armee. Früher war die Partei das entscheidende Organ, heute ist es der Geheimdienst. Beide waren immer schon dazu genötigt, im Interesse des eigenen Machterhalts die Armee klein zu halten. Die Angst, dass es zu einem Putsch durch das Militär kommen könnte, war dabei der zentrale Antrieb.

Im russischen Machtapparat nimmt die Armee also seit jeher eine schwache Stellung ein, was ihre Führungskader auf der Suche nach Sündenböcken für die Misserfolge im Ukraine-Krieg zu leichten Zielen macht. Deutlich wurde das bisher unter anderem Mitte März, als Roman Gawrilow, Vize-Chef der russischen Nationalgarde, festgenommen wurde und Putin parallel verkünden ließ, sein Land von Verrätern „säubern“ zu wollen. Im gleichen Zeitraum wurden dann offenbar noch acht weitere Generäle ihres Amtes enthoben. Wie die ukrainische Zeitung Ukrayinska Pravda berichtete, soll Putin ihnen vorgeworfen haben, „ihre Aufgabe“ nicht erfüllt zu haben.

Unter Schoigu massiv Gelder geraubt

Verteidigungsminister Schoigu blieb bislang zwar unangetastet. Gleichwohl hieß es, er sei wegen gesundheitlicher Probleme länger nicht aufgetreten. Zur Wahrheit gehört dabei auch: Im russischen System deutet die Formel „gesundheitliche Schwäche“ bisweilen auch an, dass man im Kreml der Meinung ist, dass ein Politiker nicht mehr fähig oder in der Lage ist, sein Amt auszuüben. So war es etwa bei Jewgenij Primakow, der eigentlich anstelle Putins der Erbe Boris Jelzins werden sollte.

Putin war 1998 weitgehend unbekannt. Für ihn war es deshalb keine leichte Aufgabe, die Eliten im Kreml und die russische Bevölkerung im Vorfeld der Wahl auf sich zu ziehen. Das gelang ihm dann unter anderem dadurch, dass ein Putin nahestender Medientycoon die Knieoperation seines Konkurrenten Primakows live im Fernsehen übertragen ließ. Parallel dazu war Wladislaw Surkow für die PR des Kreml zuständig, der später unter anderem lokale Gouverneure mit Geheimdienstdossiers erpressen ließ und die Wahlkampftrommel für Putin rührte. Putin hat Surkow einiges zu verdanken – und ließ ihn laut Daily Mail jüngst trotzdem verhaften und unter Hausarrest stellen.

Was heißt „gesundheitliche Schwäche“?

Hat der Zorn Putins nun auch seinen Verteidigungsminister Schoigu getroffen? Klar ist: Putins bisheriger Misserfolg in der Ukraine ist auch auf das Missmanagement, die systematische Erniedrigung der Rekruten und die Korruption zurückzuführen, die unter Schoigu, einem Armeegeneral, grassierten. Die waren Putin gleichwohl lieber als das strenge Reformprogramm des Schoigu-Vorgängers Anatolij Serdjukow – deshalb wurde Serdjukow im Jahr 2012 auch angeblicher Komplotte überführt und seines Amtes enthoben.

Außerdem sollen unter Schoigu massiv Gelder geraubt worden sein, die eigentlich zur Vorbereitung des Krieges in der Ukraine gedacht waren. Und weil Offiziere den Soldaten oft ihren Sold gestohlen hätten, ist zu lesen, sollen die wiederum Treibstoff oder Einzelteile ihrer Fahrzeuge unter der Hand verkauft haben, sodass ein gewichtiger Teil des Fuhrparks nicht mehr einsatzfähig oder beschädigt war. Für einen gelingenden Überfall auf ein Land, dessen Präsident und Bevölkerung fest entschlossen sind, nicht zum Vasallenstaat Russlands zu werden, eine denkbar schlechte Voraussetzung.

Putin wälzt die Schuld ab

Natürlich ist Putin blind für die Fehler seines eigenen Systems. Deshalb wälzt er die Schuld für alles, was darin und drumherum falsch läuft, auf andere ab. Die Einschläge im System Putin rücken unter dem Eindruck der russischen Misserfolge im Ukraine-Krieg dabei immer näher. Selbst in Putins eigenem Laden, dem FSB, scheint man mittlerweile nicht mehr vor Säuberungsaktionen sicher.

Nicht nur wurden Generäle unter Hausarrest gestellt oder gefeuert, sondern auch hochrangige Geheimdienstoffiziere wurden jüngst verhaftet – darunter Sergej Beseda und Anatolij Boljuch vom FSB. Das geht aus Recherchen der Investigativgruppe Bellingcat hervor. Teil der Aktion war auch die erwähnte Verhaftung Surkows. Putin hatte seinerzeit in Dresden als KGB-Auslandsagent angefangen. Jetzt aber frisst Putins System seine Kader.

 

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