Korruption in Irland - Mauern aus Stein

Wer an Irland denkt, denkt an grüne Wiesen, Schafe und Schwarzbier. Doch jenseits des Touristenidylls blühen Vetternwirtschaft, Korruption und „Stonewalling“, das systematische Totschweigen all dessen. Der Ire Stephen Manning wurde selbst zum Opfer – und hat dem System den Kampf angesagt

Erschienen in Ausgabe
Stephen Manning ist der Inbegriff eines Schiedsrichters. Gütiger Blick, ruhige Stimme, aber konsequent / Fotos: Paulo Nunes Dos Santos
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Autoreninfo

Christian Ignatzi, Jahrgang 1988, arbeitet als freier Journalist in Stuttgart und Saarbrücken. Den Hinweis auf Integrity Ireland bekam er von einem Kollegen, der den Gründer der NGO, Stephen Manning, kennt. Monatelang recherchierte Ignatzi in Deutschland und Irland, traf sich mit Manning in Dublin, besuchte eine Demonstration und telefonierte sich durch die irischen Behörden – Letzteres selten erfolgreich.

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Ein rauer Wind weht vom Atlantik herüber. Er bricht sich an den jahrhundertealten Steinwällen der Schafsweiden, bevor er über den saftig grünen Fußballplatz streicht. Achill Island im äußersten Nordwesten Irlands lockt Touristen gerade wegen seiner Einfachheit: schier unendliche grüne Weiten mit Schafen, Kühen und noch mehr Schafen. 

Stephen Manning lässt sich von der Kulisse an diesem 9. Juni im Jahr 2009 nicht beeindrucken. Er konzentriert sich auf das Jugendfußballspiel zwischen den Achill Rovers und Ballina Town. Manning ist Schiedsrichter und hat diesmal nicht mit heftigem Gegenwind zu kämpfen, sondern mit einem Mann Mitte 50. George Collins ist Präsident der Achill Rovers – und gar nicht zufrieden mit Mannings Entscheidungen. Er krakeelt am Spielfeldrand, minutenlang. Bis der Unparteiische die Nase voll hat und dem Präsidenten einen Platzverweis erteilt. Collins schnaubt und stürmt davon, nicht ohne Manning wüste Drohungen an den Kopf zu werfen. Der stellt sich taub und trabt zurück auf den Platz.

Am Ende landet er im Gefängnis

Er ahnt nicht, dass diese Szene sein Leben verändern wird. Dass er sich Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sehen wird. Dass Verbrecher seinetwegen ein Rentnerehepaar ins Krankenhaus prügeln. Dass er immer wieder gegen bürokratische Steinwälle rennen und viel größerem Unrecht auf die Spur kommen wird, als ihm selbst widerfährt. Und dass er am Ende im Gefängnis landet. 

Stephen Manning, bald 60 Jahre alt, ist der Inbegriff eines Schiedsrichters. Gütiger Blick, ruhige Stimme, aber konsequent, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Abseits des Platzes trägt er Tweedsakko und Krawatte. In Irland geboren, zieht es ihn früh weg: als Nato-Soldat nach Deutschland, als Skilehrer in die Schweiz, als Sportlehrer nach Alaska. Als Englischlehrer in Japan lernt er seine heutige Frau Noriko kennen. Als er sich 2005 um seine gebrechlichen Eltern kümmern muss, zieht er mit der Frau und den drei Kindern zurück nach Irland. Sein Irland. Er hätte nie für möglich gehalten, dass er heute mit Weggefährten bei einem Glas Guinness im Pub sitzt und Sätze sagt wie: „Ich war immer stolz darauf, Ire zu sein, aber nun? Nun schäme ich mich dafür.“ 

Undurchsichtige Polizei

Erst spät hat er herausgefunden, dass er damit keine Ausnahme ist. Die Organisation Transparency International zählt die irische Polizei zu den undurchsichtigsten der westlichen Welt. Schattenbanken, Polizeikorruption, Vetternwirtschaft – in der internationalen Rangliste der NGO spielt die grüne Insel in einer Liga mit Uruguay oder Chile. Die Antikorruptionsstelle des Europarats Greco ermahnte Irland im Jahr 2014, die Strukturen innerhalb von Regierung und Justiz zu verbessern. Die rechtsstaatlichen Defizite haben vor allem einen Grund, sagt die renommierte irische Investigativjournalistin Gemma O’Doherty: „Das Problem hier sind die sehr engen Beziehungen zwischen Medien, Polizei und Staat“, mit dem Ergebnis, „dass wir Journalisten unseren Job nicht machen können.“

O’Doherty weiß, wovon sie spricht. Die größte irische Tageszeitung, The Irish Independent, setzte sie, die Chefreporterin, im Jahr 2013 vor die Tür. Zuvor hatte sie aufgedeckt, dass der Präsident der irischen Polizei zahlreiche Strafzettel löschen ließ, die er wegen zu schnellen Fahrens erhalten hatte. O’Doherty hatte ihn ohne Erlaubnis ihres Redaktionsleiters angerufen. Inzwischen hat sich ihr ehemaliger Arbeitgeber öffentlich entschuldigt.

Keine Presssefreiheit

Doch der Strafzettel­skandal zog weite Kreise. Die Informationen kamen aus der eigenen Behörde. John Wilson und Maurice McCabe wurden zu Whistleblowern, als sie entdeckten, dass ihre Kollegen in der Provinz Tausende weitere Strafzettel hatten unter den Tisch fallen lassen. Als die beiden sich an die Aufsichtsbehörde wendeten, durften sie das Computersystem der Polizei nicht mehr nutzen, weil sie angeblich Interna illegal heruntergeladen hatten. Ein Richter zitierte Wilson zu sich, beschimpfte ihn und drohte ihm. Als eines Morgens tote Ratten vor seiner Haustür lagen, quittierte er den Dienst. ­McCabe traf es noch härter. Kollegen warfen ihm sexuellen Missbrauch eines Mädchens vor. 

Nur ein Mensch nahm die Vorwürfe schließlich ernst. Die Parlamentsabgeordnete Clare Daly. Sie reichte offiziell Beschwerde wegen des Skandals beim Parlament ein – und kam tags darauf ins Gefängnis. Die Begründung: Trunkenheit am Steuer, trotz negativen Alkoholtests. Als das ans Licht kam, war der Fall nicht mehr totzuschweigen. „In Irland gibt es keine Pressefreiheit“, sagt Gemma O’Doherty, die schon zuvor berichtet hatte. Alle hätten sie Angst, sich gegen die staatlichen Repressionen zu wehren. Daran ändert nichts, dass der Strafzettelskandal mit der Entlassung des damaligen Justizministers wegen der falschen Anschuldigungen gegen McCabe endete und auch der Polizeichef gehen musste. Im Mai dieses Jahres trat schließlich Premierminister Enda Kenny zurück. Auch er stand seit Monaten wegen seiner Rolle in der Schmutzkampagne gegen McCabe unter Druck. Kenny hatte im Parlament behauptet, erst spät von den Vorwürfen erfahren zu haben – und musste dies später richtigstellen.

Der neue Premier ist Leo Varadkar: 38 Jahre alt, Sohn eines indischen Einwanderers, konservativ und offen homosexuell. So etwas gab es zuvor nie im katholisch geprägten Irland, in dem gleichgeschlechtliche Beziehungen bis 1993 noch strafbar waren. Ein Blick in die Geschichte hilft, die Frage zu beantworten, warum viele dokumentierte Korruptions-, Verleumdungs- und Vertuschungsfälle unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit bleiben. 

Bestimmender Einfluss der katholischen Kirche

Der Gehorsam der Iren gegenüber der katholischen Kirche war lange Zeit unvergleichlich. Noch bis in die 1970er-Jahre hatte die Kirche eine hohe Stellung in der Verfassung der irischen Republik, wo bis heute mehr als 80 Prozent der Bürger katholisch sind. Über Jahrhunderte hielt die Kirche die Hand über ihre Schäfchen in Irland. Bis 1973 war der Import von Verhütungsmitteln verboten. Die Financial Times bezeichnete die Insel als vielleicht letztes Land, das der Vatikan hält, bis 1985 das Parlament entschied, Verhütungsmittel nun auch zum Verkauf in Irland freizugeben – wenn auch nur gegen ein ärztliches Attest. Zum ersten Mal in der irischen Geschichte widersetzte sich eine Regierung mit dieser Abstimmung erfolgreich dem bestimmenden Einfluss der Kirche – ein erster Schritt der über Jahrhunderte lethargisch gewordenen Iren, sich gegen eine Obrigkeit zu stellen. Die breite Bevölkerung sollte allerdings noch lange nicht so weit sein. Und das wissen korrupte Politiker für sich zu nutzen. „Wir Iren sind das am einfachsten zu regierende Volk“, sagt Whistleblower John Wilson. So einfach zu regieren, dass es oft gut geht, Kritiker ruhigzustellen. Auch wenn es dazu Missbrauchskampagnen braucht.

„Sexueller Missbrauch“ – gegen diesen Vorwurf muss sich auch Stephen Manning wehren. Es beginnt kurz nach dem Zerwürfnis mit George Collins während des Fußballspiels. Manning erhält einen Anruf der irischen Kinderhilfestelle: Er soll Kinder in der Umkleidekabine beobachtet haben. Die Anschuldigung kam vom Vereinsvorsitzenden der Achill Rovers, der bei den Vereinsmitgliedern auf Zeugensuche geht, weshalb Manning davon erfährt. Jeden darauf folgenden Vorfall, Kontaktversuch und E-Mail-Verkehr dokumentiert er seitdem akribisch.

„Wir werden euch das Leben zu Hölle machen“

Als Manning gegen die Vorwürfe vor Gericht zieht, gehen die Probleme weiter. Auf Internetportalen tauchen Fakeprofile auf, die den Familienvater als Pädophilen darstellen, der es nebenbei auf die Frauen auf Achill Island abgesehen hat. Beleidigende E-Mails empörter Bürger sind an der Tagesordnung. Über ein Jahr hinweg klingelt das Telefon im Hause Manning mehrmals täglich. Drohanrufe: „Verlasse diese Insel“, knurrt jemand, „oder wir werden bei euch vorbeikommen und euch das Leben zur Hölle machen!“ Am Valentinstag im Jahr 2010 prügelte ein Schlägertrupp Mannings Nachbarn krankenhausreif. „Diese Attacke galt dir, Stephen“, sagte der Nachbar, den die Schläger aufgefordert hatten, die Insel zu verlassen. 

Die Mannings ziehen nach dem Vorfall fort von Achill Island. Sie fühlen sich nicht mehr sicher. Als einer der beiden Verantwortlichen der Prügelattacke später doch noch vor Gericht kommt, gibt er zu, sich im Haus geirrt zu haben. „Dann hättest du dich besser konzentrieren müssen, damit so etwas nicht passiert“, ermahnt ihn der Richter. Manning, der das Statement in der Zeitung liest, ist entsetzt. Seine Aussage zu dem Fall will die Polizei nicht hören. Es ist das erste Mal, dass Stephen Manning „Stonewalling“ erfährt – das systematische Abblocken von Kontaktversuchen bei Behörden. Es wird nicht das letzte Mal sein.

Manipulationen und Lügen

Das Verfahren gegen George Collins wegen seiner Anschuldigungen in Sachen sexueller Missbrauch geht weiter. Die Manipulationen ebenso. Die Kinderhilfestelle erhält einen weiteren Brief. Der Vorwurf darin: Manning habe seine Kinder eingesperrt. Polizisten berichten der Kinderhilfsorganisation, Mannings Töchter hätten das bestätigt. Eine Lüge, sagt die heute 17-jährige Christina Manning. Sie versichert: „Unser Vater hat sich immer gut um uns gekümmert und uns nie etwas angetan.“ Er versuche immer, ihnen „das Beste im Leben zu ermöglichen“. Ein weiteres Jahr vergeht, ehe die Familie das Verfahren gewinnt und 30 000 Euro Entschädigung erhält. 

Dennoch fühlt sich Manning ungerecht behandelt und sucht im Internet nach Gleichgesinnten. Er findet Hunderte. Mitte 2012 macht er sich an einem regnerischen Sommertag auf den Weg nach Dublin. Die Wolken wabern am Boden, der Nebel ist so dicht, dass nur dann und wann eine der endlos langen Steinmauern aus den grünen Wiesen lugt, durch die Mannings Zug in die Hauptstadt rollt. Für Schafe und Kühe, die Mehrzahl der Einwohner Irlands, sind die Mauern natürliches Stonewalling. Dass auch die menschlichen Bewohner immer wieder vor Mauern im übertragenen Sinn stehen, muss sich ändern, denkt sich nicht nur Stephen Manning. Das denken auch all jene, die sich später an diesem Tag in verschwörerischer Runde in einem Dubliner Hotel treffen. 

Gegenöffentlichkeit schaffen

Sie erkennen, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Jeder der sieben Teilnehmer hatte versucht, bei staatlichen Behörden Beschwerden gegen Polizisten, Politiker oder Justizmitarbeiter vorzubringen. „Es ist schockierend“, fasst Manning zusammen. Jede Beschwerde fußt auf zahlreichen Beweisen, doch die Behörden ignorierten, bedrohten, verhafteten diejenigen, die sich vehement mit dem Staat anlegten. Die Gruppe gründet die Organisation Integrity Ireland. Manning stellt eine Webseite online, auf der die Mitglieder fortan ähnliche Fälle der Korruption innerhalb staatlicher Einrichtungen sammeln. Aus sieben Mitgliedern werden bald 50, 100, 320.

Die Organisation schafft eine Gegenöffentlichkeit via Facebook und Youtube. Gleichgesinnte sollen ihre Erfahrungen austauschen. Noch heute sei das der wichtigste Baustein des Projekts, sagt Manning. „Wir wollten sicherstellen, dass es regelmäßige Treffen gibt, dass unsere Mitglieder sich bei Gerichtsverhandlungen gegenseitig unterstützen oder sich zu Verhören bei der Polizei begleiten.“ Das Hauptproblem vieler Iren sei, dass sie blind in Konflikte mit dem Staat gingen. Wenn überhaupt.

Jahrhundertelange Unterdrückung hat die Iren zu einem willfährigen Volk gemacht. Neben dem Einfluss der Kirche war es vor allem die 800 Jahre dauernde Besatzung durch die Engländer. Die Iren, kleingehalten durch die Besatzungsmacht, verlernten es in dieser Zeit, sich gegen jene aufzulehnen, die ihnen Unrecht antaten. Stattdessen wählten sie immer wieder dieselbe Regierungspartei, die immer wieder mit Korruption in den eigenen Reihen zu kämpfen hat. „Uns hat lange die Wut gefehlt“, sagte Brendan Hennessy von der Wohltätigkeitsorganisation St. Vincent de Paul in einem Fernsehinterview. „Viele Leute waren in Fälle von Korruption verwickelt und sind dennoch mit großen Mehrheiten wiedergewählt worden. Das geht wahrscheinlich auf den Impuls in Irland zurück, während der britischen Kolonialzeit das System auszutricksen.“

Aktivisten werden ignoriert

2015 erschüttert die Finanzkrise die Insel – und Integrity Ireland ist mittendrin. Inzwischen lebt statistisch belegt jeder vierte Bewohner des Landes unter der Armutsgrenze. Die Gerichte wollen reihenweise Hausbesitzer enteignen. Stephen Manning hat sich mit einigen Dutzend Integrity-Ireland-Aktivisten im Gericht des Örtchens Castlebar versammelt, um Menschen zu unterstützen, die um ihr Hab und Gut fürchten. „Sie dürfen diese Fälle nicht verhandeln“, sagt er. Der Richter lächelt wortlos. Doch Manning beruft sich auf ein Urteil des Obersten Gerichts, wonach Regionalgerichte wie jenes in Castlebar nicht über Hausenteignungen verhandeln dürfen. Der Richter hört die Bedenken der Aktivisten nicht an und lässt sie von der Polizei aus dem Saal werfen.

Manning will sich dagegen wehren und beschließt, ein Verfahren zu nutzen, das er Monate zuvor zufällig in einem jahrhundertealten Gesetz entdeckt hatte. In Irland kann jeder Bürger eine Anklage direkt bei einem Richter vorbringen, auch ohne staatlichen Ankläger. Dieses einst für Arme gemachte Gesetz gilt noch heute. Theoretisch. Die hohen Gerichte haben es in diversen Urteilen bestätigt. Doch die niedrigen Instanzen scheint das nicht zu interessieren. Fast ein Jahr nach den Vorfällen in Castlebar erhebt Manning Anklage gegen den Richter und die Polizisten, die die Demonstranten aus dem Saal geführt hatten. Doch keiner der Angeklagten erscheint vor Gericht. Die anwesenden Bürger werden unruhig, als der Prozess nach einigen Minuten ein Ende zu finden droht. Viele trommeln mit den Fäusten auf die Tische und fordern den Richter auf zu gehen. Er verlässt tatsächlich den Saal. Das System aber bleibt.

„Ich bin mir sicher“, sagt Stephen Manning später, „dass sie Integrity Ireland ruhigstellen wollen.“ Das Stonewalling funktioniert nicht nur gegenüber irischen Bürgern. Auch als Reporter stößt man bei Recherchen auf Granit. Niemand antwortet auf Anfragen an die Polizei. Und die einheimischen Medien scheinen sich nicht für die gesammelten Fälle der Integrity-Ireland-Mitglieder zu interessieren. Lediglich das Justizministerium bezieht per E-Mail Stellung. Die irischen Gerichte seien unabhängig und unterstünden nur dem Gesetz, das Ministerium könne deshalb nicht intervenieren, schreibt eine Sprecherin, die versichert, Manning diese Information gegeben zu haben. Wer ein Problem mit Gerichtsurteilen habe, könne sich an die nächsthöhere Instanz wenden. Journalisten gegenüber würden sich Gerichte zum Fall Manning allerdings nicht äußern, schreibt die Sprecherin weiter. 

Etwas tut sich

Zahlreiche Korruptionsfälle in Irland bleiben auf diese Weise im Dunkeln und zumindest auf dem europäischen Festland unbeachtet. Nur wenige Skandale sorgen für Aufsehen. Die katholische Kirche Irlands verkaufte jahrzehntelang uneheliche Kinder an reiche amerikanische Familien. Deren Mütter mussten in sogenannten Magdalene Laundries in kirchlicher Sklaverei Priesterroben waschen. 1993 entdeckten Bauarbeiter 155 Frauenleichen unter einem ehemaligen Klostergelände. 2017 fand ein weiterer Fall Beachtung in internationalen Medien: Ermittler hatten in der westirischen Kleinstadt Tuam ein Massengrab mit fast 800 toten Kindern unter einem Mutter-Kind-Heim gefunden. Totschweigen – das Wort bekam eine neue Bedeutung.

Im Fall Stephen Manning tut sich unterdessen etwas. Die Justiz wirft ihm vor, den Richter während der missglückten Verhandlung gegen die Polizisten wüst beleidigt zu haben. „Das ist eine Lüge“, wehrt sich Manning und pocht auf die Herausgabe der Tonbandaufnahmen, die in irischen Gerichten Standard sind. Nach langem Hin und Her bekommt er sie und erlebt den nächsten Rückschlag: Die Passagen, die Schuld oder Unschuld beweisen, sind gelöscht. Ein Dateifehler, behauptet das Gericht. Unmöglich, widerspricht der Tonbandhersteller Fujifilm. Manning will mit all seinen Beweisen erneut vor die hohen Gerichte in Dublin ziehen – ohne Erfolg.

Im Frühling 2017 fährt er wie so oft die zweistündige Strecke aus der Hauptstadt zurück nach Hause. Zwei Stunden voller durch Steinwälle getrennter Wiesen. Doch am Bahnhof taucht ein neuer Wall auf. Einer, mit dem Stephen Manning nicht gerechnet hatte. Einer, in den er ungebremst rennt und der ihn jäh stoppt: „Es tut uns leid, Stephen“, sagt ein Polizist dort, „aber wir müssen dich festnehmen.“ Manning runzelt die Stirn: „Warum?“, fragt er. „Weil du deinem Gerichtstermin ferngeblieben bist.“ Es geht um den Fall der angeblichen Beleidigung. Der Richter hatte den nächsten Verhandlungstermin auf einen Tag vorgezogen, an dem Manning in Dublin war – ohne ihn darüber zu unterrichten. Nun drohen ihm zwei Monate Haft. 

Zusammenschluss ist wichtig

Die Mitglieder von Integrity Ireland haben bis heute mehr als 3000 Fälle zusammengetragen. Und die Organisation ist nicht allein. Gruppen wie Reality Ireland oder Land of the Free erreichen in Social-Media-Netzwerken mehrere Tausend User. Die Gruppe Justice for All besteht zum Teil aus Parlamentsabgeordneten, die sich gegen Korruption in den eigenen Reihen wehren. Journalistin Gemma O’Doherty hält es für wichtig, dass sich die Geschädigten zusammenschließen: „Jeder Whistleblower, der in Irland versucht hat, Korruption aufzudecken, hatte mit großen Problemen zu kämpfen“, sagt sie.

Anfang Mai läuft die Verhandlung über Mannings zweimonatige Haftstrafe. Er bringt Zeugen mit, die der Richter nicht anhört. Dass die Tonaufnahmen, die Mannings Schuld beweisen sollen, gelöscht sind, ignoriert er nach wie vor. Auch einen Pflichtverteidiger bekommt Manning nicht, obwohl er sich keinen Anwalt leisten kann. Stattdessen hat der Staat eigene Zeugen organisiert. Das Urteil: zwei Monate Haft.

In den nächsten Tagen lassen Mannings Mitstreiter nichts unversucht, um ihn aus dem Gefängnis zu holen. Eine Unterschriftensammlung findet innerhalb weniger Tage mehr als 1000 Unterzeichner. Mehrere Mitglieder von Antikorruptionsgruppen stellen Anträge beim Obersten Gericht. Ende Mai haben sie Erfolg. Stephen Manning darf nach Hause. Bei strahlendem Sonnenschein steht er im Garten seines Häuschens, blickt ernst in die Kamera und kündigt an, nun vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Dann sprintet sein zehnjähriger Sohn Danny ins Bild und nimmt seinen Vater in den Arm. Er reckt den Arm in die Höhe. „Freiheit!“, ruft er. „Freiheit!“, ruft Stephen Manning. 

 

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