Ein Jahr nach dem Mord an Jamal Khashoggi - War da was?

Vor einem Jahr ermordete ein saudisches Spezialkommando den Journalisten Jamal Khashoggi bestialisch im Istanbuler Konsulat. Geschadet hat es dem Königshaus kaum. Die strategischen Interessen seiner westlichen Partner wiegen schwerer

Gegen das Vergessen: Ein als Mohammed bin Salman verkleideter Aktivist demonstriert vor dem saudi-arabischen Konsulat in Istanbul / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die BBC hat dieser Tage noch einmal minutiös dokumentiert, was an jenem 2. Oktober 2018 im Istanbuler Konsulat Saudi-Arabiens geschah. Die Dokumentation beruft sich auf Tonaufnahmen der Ereignisse, über die der türkische Geheimdienst verfügt. Sie bestätigen, dass der Journalist Jamal Khashoggi an diesem Tag in das Konsulat gelockt und dort von einem saudischen Spezialkommando kaltblütig ermordet und anschließend zerstückelt wurde.

Der internationale Aufschrei war groß, selbst die traditionell bedingungslose US-amerikanische Unterstützung für Saudi-Arabien schien für einen Moment ins Wanken zu geraten. Doch der schwerste Schlag für die Saudis blieb der Reinfall eines Internationalen Wirtschaftsforums in Riad, das wenige Wochen nach dem Mord stattfand: Die meisten internationalen Partner sagten kurzfristig ab.

Personenbezogene Sanktionen

Keine zwei Monate später war alles vorbei: Ungeachtet der CIA-Erkenntnisse darüber, dass der starke Mann des Landes, Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS), Khashoggis Ermordung angeordnet hatte, versicherte Donald Trump der Welt und speziell den Saudis: „Sie waren ein großartiger Alliierter in unserem sehr wichtigen Kampf gegen den Iran. Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, ein standfester Partner von Saudi-Arabien zu bleiben, um die Interessen unseres Landes, Israels und aller anderen Partner in der Region sicherzustellen.“

Die USA beschränkten sich auf personenbezogene Sanktionen gegen 17 Saudis, die direkt an dem Mord beteiligt waren. Die Europäer waren in der Frage der Sanktionen uneins, schließlich preschte Deutschland vor und verkündete neben Sanktionen gegen beteiligte Täter einen befristeten Stopp der Rüstungsexporte. Diesem Beispiel folgten aber nur wenige Länder wie Dänemark oder Finnland. Frankreich und Großbritannien dagegen hielten sich bei Exportembargos höflich zurück.

Saudisches Öl als Argument

Die Sanktionen waren deshalb praktisch ein Witz. Und das, obwohl die Saudis in gröbster Missachtung aller nur möglichen internationalen Konventionen sowie diplomatischen und nichtdiplomatischen Gepflogenheiten einen Staatsbürger im Ausland ermordet hatten, noch dazu keinen Terroristen, sondern einen Journalisten – und das zu allem Überfluss noch in einem Nato-Mitgliedsland. Nur zur Erinnerung: Für den versuchten Mord am übergelaufenen Spion Sergej Skripal und seiner Tochter in Großbritannien musste Russland nur wenige Monate vor dem Khashoggi-Mord deutlich schmerzhaftere Sanktionen hinnehmen.

Die westliche Linie gegenüber Saudi-Arabien ist nur mehr mit einem einzigen Begriff zu bezeichnen: knallharte Realpolitik. Für die USA sind die Saudis nach Israel der  wichtigste militärische Verbündete in der Region, mit dessen Hilfe man Iran in Schach halten will. Deshalb schaut der Westen auch seit 2015 weg oder assistiert sogar, während Saudi-Arabien zusammen mit den Vereinigten Arabische Emiraten den Jemen in eine humanitäre Katastrophe bombt. Und natürlich ist das saudische Öl ein Argument, das viele andere Argumente sticht: Mit 17 Prozent Anteil am weltweiten Export ist Saudi-Arabien der wichtigste Player im Ölgeschäft.

Touristenvisa als Köder

Auch Deutschland bemüht sich hinter den Kulissen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien. Anfang September wurde bekannt, dass Berlin wieder Bundespolizisten nach Riad schicken wird, die dort Grenzschützer ausbilden. Immerhin wurde das Embargo für den Waffenexport gerade noch einmal verlängert – was die Saudis allerdings wenig bis überhaupt nicht kümmert. Die versuchen derweil, demonstrativ schön Wetter zu machen. Vor einigen Tagen hat das Land verkündet, Touristen aus 49 Ländern, darunter auch aus Deutschland, könnten ab sofort online Visa beantragen – vorher konnte das Land nur mit organisierten Reisegruppen besucht werden.

Und kurz vor dem Jahrestag des Mordes hat der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman nun in einem Interview mit dem amerikanischen Sender CBC „die volle Verantwortung“ für den Mord an Khashoggi übernommen. Nur um gleichzeitig festzustellen, dass er davon nicht das Geringste gewusst hat. Der Mord soll nach saudischer Lesart als bedauerlicher Einzelfall in die Geschichtsbücher eingehen. Der saudische Generalstaatsanwalt hat für fünf Tatbeteiligte die Todesstrafe gefordert, das Gerichtsverfahren findet aber hinter verschlossenen Türen statt. Mit dieser paradoxen Strategie versucht sich MBS, wie der Prinz weltweit genannt wird, reinzuwaschen von einem abscheulichen Verbrechen. Und im Westen macht keiner, auch nicht Deutschland, Anstalten, ihn zur Verantwortung zu ziehen.

Nur die Spitze des Eisbergs

Dabei ist der Fall Khashoggi nur die Spitze des Eisberges: „Reporter ohne Grenzen“ weist darauf hin, dass sich die Zahl der im Königreich inhaftierten Journalistinnen und Journalisten, Bloggerinnen und Blogger verdoppelt hat, seit MBS 2017 zum Kronprinz ernannt wurde. Alles auf normal – und mehr als das. Im November erwartet Riad das große Defilee der internationalen Staatschefs, denn – man glaubt es kaum – turnusmäßig übernimmt Saudi-Arabien dann den Vorsitz der G20. Die Rufe der UN-Sonderberichterstatterin Agnes Callamard nach einer internationalen strafrechtlichen Verfolgung sind verhallt. Die Leiche beziehungsweise die Überreste von Jamal Khashoggi sind bis heute verschollen.

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