Katalonien - „Die Franco-Zeit wurde nie richtig aufgearbeitet“

Zum spanischen Nationalfeiertag versammelten sich 50 Demonstranten vor der Botschaft in Berlin, um gegen das Verhalten der Regierung im Katalonien-Konflikt zu protestieren. Die Kundgebung wurde jedoch vor allem zu einem Protest gegen die spanische Erinnerungspolitik

Demonstranten vor der spanischen Botschaft in Berlin / privat
Anzeige

Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

So erreichen Sie Ulrich Thiele:

Anzeige

Die Atmosphäre ist friedlich, die Wortwahl aber klingt nach Rudi Dutschke: „Spanischer Staat, faschistischer Staat“, „Spanien ist ein Polizeistaat“ und „12. Oktober: kein Grund zu feiern“ rufen die knapp 50 Demonstranten, die sich vor der spanischen Botschaft in Berlin versammelt haben. Dort findet heute anlässlich des spanischen Nationalfeiertages ein Empfang mit teils hochrangigen Regierungsvertretern statt. Die Situation ist bezeichnend: dort, die adrett gekleideten Gäste, die das noble Gebäude im neoklassizistischen Stil betreten. Durch die Fenster sieht man gedimmtes Licht, Kronleuchter und Wandverzierungen. Hier, die Demonstranten, die bei Berliner Herbstwetter gegen die Regierung aufbegehren wollen.

Erstaunlicherweise sind viele der Protestler Spanier, manche auch Katalanen, die mit ihren deutschen Freunden gekommen sind. Sie schwenken gemeinsam katalanische Fahnen und solche der spanischen Republik, halten Schilder und Transparente mit der Aufforderung „Demokratie!“ hoch.

Auch in Spanien werden die Feierlichkeiten überschattet von der angespannten Lage im Katalonien-Konflikt. Bis nächste Woche Donnerstag soll der katalanische Regionalregierungschef Carles Puigdemont die Unabhängigkeitserklärung für die wirtschaftsstarke Region verneinen. Ansonsten könnte ihn der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy mit der Macht des Zentralstaats aus dem Amt befördern und Kataloniens Autonomie aberkennen. Gleichzeitig ist das Unabhängigkeitsbegehren vieler Katalanen unübersehbar stark. Sie berufen sich auf das Völker-, Gegner der Unabhängigkeit auf das spanische Verfassungsrecht.

Kritik an mangelnder Vergangenheitsbewältigung

Die Forderung nach der Unabhängigkeit Kataloniens ist für die Demonstranten vor der Berliner Botschaft jedoch zweitrangig. In erster Linie attackieren sie die spanische Regierung generell. Sie werfen ihr Korruption, Dialogverweigerung und eine fehlende Bereitschaft zur Verarbeitung der faschistischen Vergangenheit Spaniens unter dem Diktator Francisco Franco vor. Der Katalonien-Konflikt scheint der Auslöser für eine Generalkritik zu sein.

Samuel Solís aus Madrid drückt es so aus: „Wir lehnen die spanische Verfassung ab, die von Faschisten durchgesetzt und uns vorgesetzt wurde.“ Er kritisiert den Polizeieinsatz gegen die Katalanen, der symptomatisch für diese Regierung sei. Probleme müssten politisch gelöst werden, nicht polizeilich. „Das alles passiert gerade nicht in der Türkei, sondern hier bei uns in der EU. Das ist eine Schande!“, ruft der 27-Jährige, der die Kundgebung mitorganisiert hat, durch das Megaphon.

Solís lebte einige Zeit in Österreich, seit vier Monaten ist er in Berlin, wo er Musik an der Universität der Künste studiert. Auch wenn seine Worte polemisch sind: Solís ist kein krakeelender Demagoge. Er spricht recht leise, mit sanfter, hoher Stimme und melancholischem Blick. Er klingt eher sehnsüchtig und enttäuscht als angriffslustig. Immer wieder verhaspelt er sich, freilich auch wegen der fehlenden Deutschkenntnisse. Die Ansprachen wirken alle etwas unbeholfen, doch Solís und seine Mitstreiter lachen selbst darüber und rufen jedem Redner ein „Bravo!“ zu.

Nichtsdestotrotz ist die Wut auf Madrid groß, vor allem wegen der als rigide und starr empfundenen Regierungsart. „Können Sie sich hier in Berlin eine Hommage an Hitler vorstellen?“, fragt Solís. „In Spanien wird wie selbstverständlich die Blaue Division gefeiert – die hat mit der deutschen Wehrmacht gekämpft. Das ist unfassbar!“, sagt er und betont, dass es ihm nicht um katalanischen Nationalismus geht: „Wir wollen die Vielfalt der Meinungen. Manche von uns sind Independentisten, andere Föderalisten, aber wir alle lehnen gemeinsam die autoritäre Regierung ab, weil sie den Dialog zwischen Katalonien und Spanien blockiert.“

Am deutschen Wesen soll die Welt genesen?

Manche der eintreffenden Empfangsgäste rufen vom Eingang der Botschaft provokant „Viva España!“ herüber, manche kommen auch ein paar Schritte näher. „Viva la República!“, entgegnen die Demonstranten lautstark. Jemand ruft den Gästen zu, dass sie gerade ein Gebäude betreten, das ein Geschenk von Hitler an Franco war.

Ein Großer, Schlaksiger, geschätzt Mitte 20, mit einem Jutebeutel über der Schulter, greift sich das Megaphon. Er sei kein Spanier, sagt er, sondern Deutscher. Er erzählt vom wieder aufkeimenden Nationalismus und berichtet von einer Demonstration in Spanien, auf der die Nationalflagge geschwenkt wurde, während gleichzeitig die Hand zum Hitlergruß gehoben wurde. Später habe ein spanischer Politiker diese Demonstration für ihren Patriotismus gelobt.

„Seit 1978 hat es keine Auseinandersetzung mit dem Faschismus gegeben. Die Faschisten sind immer noch da, das ist ein Skandal!“, sagt er. „Macht jetzt endlich das, was wir in Deutschland schon vor 60 Jahren getan haben!“ Das würden nicht wenige als anmaßend empfinden. Als müsste die Welt an der deutschen Erinnerungspolitik genesen. Die anwesenden Spanier jedoch scheint das nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie klatschen und jubeln.

Kein Vertrauen in die Regierung

Darunter ist auch Sílvía Mariné. Die 32-Jährige mit den blond gefärbten, mittellangen Haaren ist gebürtige Katalanin, seit sieben Jahren lebt sie in Deutschland. Während der Wahlen vor knapp zwei Wochen war sie in ihrer Heimat. Sie stimmte für die Unabhängigkeit, und sie war dabei, als es zu den Ausschreitungen mit der Polizei kam. „Die haben gar nicht erst versucht, mit uns zu reden. Sie kamen und haben uns gleich angegriffen“, sagt sie. „Das ist nicht demokratisch, so ein Land wollen wir nicht.“ Dabei herrsche noch nicht einmal Einigkeit über die Unabhängigkeit, sagt sie, das beste Beispiel dafür sei ihre Familie: Ihr Vater sei für die Unabhängigkeit, ihre Mutter dagegen. Einigkeit herrsche aber – auch unter vielen Spaniern – in der Haltung zur spanischen Regierung. „Franco ist vor 40 Jahren gestorben, seitdem wurde nichts aufgearbeitet. Ich organisiere seit sieben Jahren Kundgebungen, ohne Ergebnisse. Ich fürchte, es ist zu spät. Es gibt kein Vertrauen mehr.“

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bleibt das dominierende Anliegen ein national-historisches Thema, in das man sich als Außenstehender immer nur schwer hineinversetzen kann. Um Punkt 20 Uhr muss die Kundgebung aufgelöst werden. Ohne ein großes Schlusswort zerstreuen sich die Demonstranten plötzlich in alle Richtungen. Sie sind durchgefroren, auch sie wollen ins Warme. Wie die Gäste im Gebäude der spanischen Botschaft, durch dessen Fenster nach wie vor das gedimmte Licht einladend leuchtet.

Anzeige