Auslieferung von Julian Assange gestoppt - Held oder Verbrecher?

Julian Assange wird vorläufig nicht in die Vereinigten Staaten ausgeliefert. Damit ist die Diskussion um den Wikileaks-Gründer und sein weiteres Schicksal aber noch lange nicht beendet. Die US-Regierung will gegen das Urteil eines Londoner Gerichts Berufung einlegen.

Bekommt weltweit Rückendeckung: Wikileaks-Gründer Julian Assange / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Die Bezirksrichterin hatte es sich nicht leicht gemacht. Zuerst zerpflückte Vanessa Baraitser am Montag Vormittag die Argumente von Julian Assanges Rechtsanwälten, die gegen eine Auslieferung ihres Klienten kämpfen. Der Gründer von WikiLeaks ist von US-Staatsanwälten wegen 17 Delikten – unter anderem wegen Spionage und Computer-Hacking – angeklagt worden.

Es gebe für sie keinen Zweifel daran, sagte die Richterin, dass „verfassungsrechtlicher und prozeduraler Schutz“ für Assange bei einem Gerichtsverfahren in den USA gewährleistet wären. Dann aber lehnte sie das Auslieferungsbegehren der USA doch ab, denn Assange mache den Eindruck „eines depressiven, manchmal verzweifelten Mannes“. Es bestehe „Selbstmordgefahr“.

Wende in einem komplexen Drama 

Die Entscheidung der britischen Richterin ist eine weitere Wende in dem komplexen Drama um den australischen Whistleblower von Weltruhm, der für die einen Held und für die anderen ein Verbrecher ist. Der investigative Journalist gründete die Aufdecker-Plattform WikiLeaks 2006.

Vier Jahre später erlangte Julian Assange internationalen Ruhm: Gemeinsam mit Chelsea Manning, die in Bagdad als Datenanalytikerin der US-Armee Zugang zu klassifizierten Dokumenten hatte und diese an WikiLeaks weitergab, veröffentlichte er knapp 400.000 geheime Dokumente des amerikanischen Militärs aus den Einsätzen im Irak. Gefangene waren gefoltert, Zivilisten getötet worden. 

Assange drohen bis zu 175 Jahre Haft 

Mit dieser spektakulären Aktion wurde ein Licht auf bislang verdeckte illegale Praktiken der US-Armee geworfen, die vom politischen System gedeckt worden waren. Hillary Clinton, damals US-Außenministerin, verurteilte Assanges Vorgehen. „Geheime Dokumente zu veröffentlichen, bedeutet, dass Menschenleben in Gefahr gebracht werden. Jene von Amerikanern, aber auch von unseren Partnern in Sicherheitsapparaten und von Zivilisten.“ Amerika will Julian Assange deshalb vor Gericht stellen. Ihm drohen bis zu 175 Jahre Haft.

Er selbst aber ist sich keiner Schuld bewusst. Seiner Auslieferung nach Amerika wegen seiner Veröffentlichungen und nach Schweden wegen der Anschuldigung von Vergewaltigungen entzog sich der Aktivist 2012, indem er in der ecuadorianischen Botschaft in London Zuflucht suchte. Sieben Jahre blieb er dort als Gast, der seinen Gastgebern zunehmend zur Last fiel. Der 2017 zur Macht gekommene Präsident Lenin Moreno wies ihm 2019 die Tür. Vor dieser wartete die britische Polizei, die ihn prompt verhaftete. Seitdem sitzt Assange im englischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh und kämpft gegen seine Auslieferung. 

Sorge um den Geisteszustand von Assange 

Damit ist der 49-jährige Aktivist nicht allein. „An Assange wird ein Exempel statuiert“, sagte Nils Melzer in einem Interview mit der Autorin im Februar 2020. Der Schweizer Professor für Internationales Recht an der Uni Glasgow ist UN-Sonderrapporteur für Folter. Er hat Assange im Gefängnis besucht und teilt die Sorge, dass der Geisteszustand des Aufdeckers inzwischen massiv gefährdet sei. 

Melzer hält ein Strafausmaß von 175 Jahren zudem für völlig unverhältnismäßig und erklärt, wieso „an Assange ein Exempel statuiert“ werden soll: „Die Methodologie von Wikileaks ist eine Bedrohung für das Establishment. Sie zeigt auf, wie das Kriegsgeschäft geführt wird. Aus eigener Erfahrung habe ich Einsicht hinter die Kulissen und in die Privilegien, die Staaten für sich beanspruchen. Sie setzen ihre eigene Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen durch. Von Wikileaks aber wird genau das in Frage gestellt. Deshalb möchte man verhindern, dass Assange und Wikileaks Nachahmer finden.“ 

Assanges Vater hofft auf Hilfe aus Deutschland 

International gibt es eine Koalition von Assange-Anhängern, die den Mann in Freiheit sehen wollen. Denn Whistleblower, die Misstände innerhalb einer Organisation, Regierung oder Firma aufdecken, sollen nicht zum Schweigen gebracht werden dürfen. Unter den Unterstützern dieser Haltung finden sich illustre Persönlichkeiten wie die ehemalige republikanische Gouverneurin von Alaska, Sarah Palin, die den noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump dazu aufgerufen hat, Assange ungestraft zu lassen. Immerhin hatte US-Präsident Barack Obama am Ende seiner Amtszeit Whistleblowerin Chelsea Manning begnadigt. 

Assanges Vater John Shipton hofft im Besonderen auf Hilfe aus Deutschland. In Berlin warb er noch im Dezember für Unterstützung auf Basis humanitärer Überlegungen. Sevim Dagdelen von der Partei Die Linke nannte das Verfahren gegen Assange eine „juristische Farce“. FDP-Menschenrechtexpertin Gyde Jensen fordert gemeinsam mit anderen Vertretern deutscher Parteien die Freilassung Assanges. Die deutsche Regierung hält sich dagegen in dieser Frage bedeckt. 

„Seine Söhne brauchen Julian“

Vor dem Old-Bailey-Gericht in London jubelten Assanges Anhänger am Montag Vormittag: „Free Julian Assange!“, riefen sie und fielen sich in die Arme, als die Entscheidung der Richterin bekannt wurde. Stella Morris weinte vor Freude: „Das ist der erste Schritt zur Gerechtigkeit“, sagte sie vor dem Gericht. Die Verlobte von Julian Assange hat zwei kleine Söhne mit dem WikiLeaks-Gründer, die jener während seiner Asyljahre in der ecuadorianischen Botschaft mit ihr gezeugt hat. Max ist knapp zwei Jahre und Gabriel drei Jahre alt: „Die Welt braucht Wikileaks und seine Söhne brauchen Julian“, sagte Morris, eine Rechtsanwältin aus Südafrika, die Assange 2011 kennenlernte. 

Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht? Seine Anwälte wollen am Mittwoch einen Antrag stellen, damit Assange gegen Kaution entlassen wird. Sie hoffen darauf, dass ein Hausarrest in Erwägung gezogen wird. Dagegen spricht, dass Assange sich schon in früheren Fällen der Justiz sofort entzogen hat. 

Die US-Regierung will gegen das Urteil jedenfalls Berufung einlegen. 

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