Jair Bolsonaro - Das konnte nur in Brasilien passieren

Warum hat Brasilien einen rüpelhaften Regionalpolitiker zum Präsidenten gewählt? Die Versuchung ist groß, Jair Bolsonaro in einer Reihe mit Donald Trump und Rodrigo Duterte zu sehen. Kein Land ist immun gegen Populismus von links oder rechts. Aber in Brasilien braute sich besonders viel zusammen

Feiernde Unterstützer von Jair Bolsonaro: Ein Außenseiter kann nur verblüfft sein / picture alliance
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Autoreninfo

Rodrigo Tavares ist der Gründer und Präsident der Granito Group, ein Finanzdienstleister. Seine akademische Karriere umfasst die Universitäten von Harvard, New York Columbia, Göteborg und Kalifornien-Berkeley. Er wurde vom World Economic Forum zum Young Global Leader ernannt.

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Es ist ein globales Phänomen. Die Aufstieg populistischer Führer, sowohl von links als auch von rechts des politischen Spektrums, angeheizt von Angst. In Zeiten der Dekadenz und Verzweiflung opfern die Menschen ihre Klugheit für das Versprechen einer Schmerzlinderung. Die dreifache Krise, in der sich Brasilien befindet – bezüglich der Sicherheit, der öffentlichen Ethik und der Wirtschaft – hat den Präsidenten Jair Bolsonaro hervorgebracht, ganz ähnlich wie die Krisen in Ungarn, Italien und den Philippinen Viktor Orbán, Matteo Salvini und Rodrigo Duterte hervorgebracht haben.

Aber wenn diese strukturellen Faktoren die Entstehung des Populismus erklären sollten, warum haben die Menschen in anderen Ländern das Urteilsvermögen besessen, auf dem Höhepunkt ihrer Krisen diesen Abgrund zu vermeiden? Im vergangenen Jahr entschieden sich die französischen Wähler, obwohl mitten in einer tiefen Identitäts- und Wirtschaftskrise, für Emmanuel Macron und gegen Marine Le Pen. Während der langen Wirtschaftskrise in Portugal von 2001 bis 2015 entschieden sich die Portugiesen für den gemäßigten Linken António Costa und nicht für den Rand des politischen Spektrums.

Der Whatsapp-Faktor

Doch warum hat sich Brasilien für einen rüpelhaften Regionalpolitiker mit spaltenden Prinzipien und nicht besonders ausgeprägtem Intellekt entschieden? Wie konnte Jair Bolsonaro innerhalb weniger Jahre und praktisch außerhalb des Radars der traditionellen Medien an die Spitze eines der größten Länder der Erde gelangen? Um das zu erklären hilft nicht der Blick nach außen in die Welt, sondern tief in das Land hinein. Denn für den rasanten Aufstieg Bolsonaros waren einige spezifisch-brasilianische Faktoren ausschlaggebend. 

Zunächst ist Bolsonaro der Politiker, der die Social-Media-Unterwelt bei diesen Wahlen am wirksamsten zu durchdringen wusste. Es sei darauf hingewiesen, dass Brasilien eines der Länder mit den meisten Facebook- (4.), Twitter- (6.) und Whatsapp-Nutzern (3.) der Welt ist. Während die traditionellen Kandidaten sich im Fernsehen und auf der Straße im knappen Raum drängten, entwickelte Bolsonaro im Laufe der Jahre still eine hoch entwickelte Propaganda-Maschinerie in den sozialen Medien. Zwar veröffentlichten auch seine Gegner regelmäßig Nachrichten auf Social-Media-Plattformen. Aber Bolsonaro ging viel ausgeklügelter und systematischer vor. Er entwickelte ein Pyramidenpropagandasystem mit mehr als 2.000 Whatsapp-Gruppen mit regionalen, kommunalen und internationalen Aktivisten. Während andere Kandidaten nicht über politische Marketingteams verfügen, hat Bolsonaro so die Wähler zu Propagandavehikeln gemacht. Die Opfer wurden zu Peinigern.

Ich bin kürzlich vier dieser Whatsapp-Gruppen beigetreten. Bei allen handelt es sich nicht um Diskussionsgruppen, sondern um Plattformen zur Bereitstellung von Inhalten – fast immer Videos und Fotos, die gefälschte oder voreingenommenen Informationen verbreiten. Es gibt auch viele Audiodateien und externe Links. 20 Minuten nachdem ich mit dem Schreiben dieses Artikels begonnen hatte, hatte ich bereits 76 Nachrichten in diesen vier Gruppen erhalten. Darin enthalten sind Duzende alte Videos von Führern der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) mit venezolanischen Funktionären, gefolgt von der Behauptung, dass Brasilien im Begriff ist, ein kommunistisches Land zu werden. Fernando Haddad, der Präsidentschaftskandidat der PT, wird mit grotesken Beleidigungen bedacht. Und es gibt Aufforderungen für einen Boykott gegen Firmen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die Bolsonaro nicht unterstützen.

Es ist eine Art Cyberdiktatur. Als Außenseiter kann man nur verblüfft sein über die Kriegslust, mit der Bolsonaro-Anhänger dumme Ideen öffentlich verteidigen. So wird die App verwendet, um eine alarmierende Menge von Gerüchten und Fake News zu verbreiten und gewöhnliche Menschen in Soldaten zu verwandeln. Während außerhalb Brasiliens die Ablehnung Jair Bolsonaros nahezu einmütig ist – selbst innerhalb der rechten Bewegungen – herrscht unter den Mitgliedern dieser Gruppen absolute Einigkeit darüber, dass es einen internationalen kommunistischen Plan gibt, um Bolsonaros Wahlsieg zu verhindern. Das Fehlen jeglicher kritischer Distanz ist ein Indikator dafür, dass die Leute manipuliert wurden.

Da 44 Prozent der Wähler in Brasilien Informationen aus Whatsapp zur Grundlage ihrer politischen Entscheidungen machen, konnte Bolsonaro es sich leisten, die traditionelle Medien zu kritisieren und sich in einer äußerst undemokratischen Geste den Fernseh-Debatten einfach zu verweigern.

Brasilien ist ein tief konservatives Land

Doch es kommt noch ein zweiter Faktor hinzu für Bolsonaros Erfolg. Denn die Brasilianer sind im Großen und Ganzen sehr konservativ, obwohl das Land seit den frühen neunziger Jahren von Kabinetten des Zentrums oder von links, jeweils mit progressiver sozialer Agenda, regiert wurde. Die letzte zum Tode verurteilte Person wurde zwar 1876 hingerichtet, im Jahr 2018 befürworten jedoch immer noch 63 Prozent der Brasilianer die Todesstrafe. Nur 14 Prozent befürworten unter allen Umständen die Legalisierung der Abtreibung. Frauen, die sich ohne Oberteil sonnen, gelten nach dem Strafgesetzbuch als obszön. Bei einer Befragung des Umfrageinstituts „Datafolha“ nach den zuverlässigsten Institutionen des Landes nennen die Brasilianer das Militär, die Polizei und religiöse Institutionen an der Spitze der Präferenzen.

Hinter der Kulisse des wilden Karnevals ist Brasilien wie ein Iran der Tropen. Es ist kein Zufall, dass Bolsonaro als Retter der konservative Werte gilt, für die es bislang keine politische Vertretung gab, und dafür die Unterstützung der Institutionen erhält, denen die Brasilianer am meisten vertrauen.

Dies steht im Zusammenhang mit dem Machismo, jener weit verbreiteten Kultur, welche den Männern Macht und Einfluss verleiht und Frauen zu Objekten macht. Laut einer im Jahr 2017 durchgeführten Umfrage geben 61 Prozent der brasilianischen Männer zu, dass sie sexistische Einstellungen haben, aber nur 17 Prozent erkennen an, dass solche Einstellungen auf Vorurteilen beruhen. Für Männer sind die misogynistischen Äußerungen von Bolsonaro eines guten Patriarchen würdig, während viele Frauen dazu neigen, darauf mit Nachsicht zu reagieren. Wenn Bolsonaro sowohl eine Frau als auch eine Feministin wäre, hätten die konservativen Wähler niemals in Betracht gezogen, für ihn zu stimmen. 

Weitere 64 Nachrichten mit 28 Videos: Haddad ist ein Pädophiler; Haddad besitzt einen mit Korruptionsgeld gekauften Ferrari; Haddad ist ein falscher Christ; Haddad befürwortete Inzest in einem Buch, das er 1989 schrieb.

Es fehlen moderate Meinungsführer

Drittens leidet Brasilien an einem Mangel an Führungskräften. Zwar sind aus dem Militärregime prominente Dissidenten hervorgegangen, die die nationale Debatte mit vernünftigen Ansichten bereichert haben, sei es in der Politik oder in der Kunst. In den vergangenen dreißig Jahren haben sich jedoch nicht genügend Führungskräfte in genügenden Bereichen hervorgetan , um die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes zu beschleunigen. Als Wochenend-Dozent an der Getúlio Vargas-Stiftung frage ich meine Studenten öfters, auf einem Blatt Papier die Brasilianer aus allen Bereichen aufzulisten, deren öffentliche Verlautbarungen ihnen helfen, ihre Entscheidungen zu treffen. Also die Menschen, zu denen sie aufschauen. Ich bekomme selten Antworten. In Anbetracht der Brisanz des Aufstiegs von Bolsonaro müsste man eigentlich erwarten können, dass jeder einzelne Führer aus den Tiefen der Gesellschaft hervortritt, um die Sache der Freiheit zu verteidigen. Die meisten scheuen sich aber vor der öffentlichen Konfrontation und hoffen, ihre instrumentelle Neutralität behalten zu können, die ihnen auch unter einer Präsidentschaft von Bolsaro Karriereoptionen offen hält. Die meisten Zeitungen, Unternehmen und sogar unterlegene Kandidaten leiden deshalb an akuter Aphasie.

Würde es in Brasilien moderate rechte Meinungsführer geben, hätte das politische Wachstum von Bolsonaro zu einem frühen Zeitpunkt gestoppt werden können. Es gibt jedoch keine politischen Kräfte, die konservative, traditionalistische und liberale Werte konsequent vertreten, wie beispielsweise die Volkspartei Partido Popular in Spanien, die konservativen Parteien von Großbritannien und Kanada oder auch die Union in Deutschland . Brasilien hatte noch nie einen Jose Maria Aznar, eine Margaret Thatcher oder eine Angela Merkel. Bolsonaro wird von rechten Meinungsführern auf der ganzen Welt kritisiert – sogar von Marine Le Pens rechtsextremer Bewegung –  wegen seines Mangels an ideologischer Konsistenz und seiner extremen, vulgären Äußerungen. Da es rechts keine Alternativen gibt, ist der ehemalige Hauptmann für viele Brasilianer eine Oase der Hoffnung.

125 Nachrichten in den vergangenen 3 Stunden. Die Neueste ist ein Screenshot eines anonymen viralen Tweets: „Ich wurde gefragt: Wenn Sie Christ sind, warum stimmen Sie für Bolsonaro? Die Frage sollte mich beleidigen. Meine Antwort: Weil ich Petrus, einen impulsiven Mann, der Unsinn redete und ein Schwert trug, aber Jesus liebte, bevorzuge gegenüber Judas, der gelogen hatte, dass er den Armen helfen wollte, aber tatsächlich ein Dieb und ein Verräter war.“

Die Militärdiktatur nie überwunden

Vierter Punkt: Brasilien hat ein Problem mit seiner Geschichte. Eine Reise nach São Vicente an der Küste des Bundesstaates São Paulo ist sehr aufschlussreich. Dies war die erste Stadt, die von den Portugiesen in Brasilien (1532) gegründet wurde. Sie gilt als Wiege der Demokratie in Amerika. Dort wurden das erste Parlament errichtet und die ersten Wahlen abgehalten. Der einzige Rest dieser Vergangenheit ist das Martim-Afonso-Haus, ein kleiner und schlecht organisierter Ort mit einer Ausstellung von Gegenständen aus dieser Zeit. In Brasilien wird die Zukunft nur aus der Gegenwart gebaut, in einem permanenten Erfinderrausch und einer unablässigen Suche nach neuen Dingen. Um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, müsste man wissen, welche Fehler das waren, aber die brasilianische Kultur vernachlässigt ihre eigene Vergangenheit. Es gibt nur wenige Nationalhelden, die das Land gemeinsam bewundert. Es gibt wenige historische Errungenschaften, die im Gedächtnis der durchschnittlichen Brasilianer verankert sind. Auf das Leben der aus dem Ausland immigrierten Großeltern sind die Menschen kaum neugierig. Mein jugendlicher Sohn, der in Brasilien studiert, kennt sich in der Geschichte des 2000 Jahre alten Römischen Reichs besser aus als in der Geschichte des Kaiserreichs Brasilien vor fünf Generationen.

Das Land hat die Wunden der Militärdiktatur (1964-1985) nicht heilen können. Es gab keinen therapeutischen Prozess wie den von der Südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgesehenen, der die Verbrechen des Apartheid-Regimes (1960-1994) untersuchte. Die brasilianische Wahrheitskommission, die 25 Jahre nach dem Ende des Militärregimes eingesetzt wurde, brachte keine öffentliche Verurteilung zustande. Im Gegensatz zu Argentinien und Chile, wo Hunderte von Menschen wegen der während des Militärregimes begangenen Gräueltaten verurteilt wurden, wurde in Brasilien niemand deswegen verhaftet. Noch heute wird der brasilianische Putsch von 1964, mit dem der designierte Präsident João Goulart abgesetzt wurde, in einigen Teilen der Gesellschaft wohlwollend als „Revolution“ oder „Bewegung“ bezeichnet.

Hier in Buenos Aires, wo ich diesen Artikel schreibe, sagen mir argentinische Intellektuelle, dass ein Kandidat, der wie Bolsonaro öffentlich die Folter verteidigt und die Militärdiktatur lobt, kaum eine Chance hätte. Es sei daran erinnert, dass Bolsonaro sogar bejubelt wurde, als er Carlos Brilhante Ustra, den Folterer, der die DOI-CODI (die Geheimdienst- und Unterdrückungsbehörde der Diktatur) leitete, lobte. Bolsonaro tat diese während er für die Amtsenthebung der damaligen Präsidenten Dilma Rousseffs im Repräsentantenhaus stimmte. Roussef selbst wurde während der Diktatur gefoltert. 

Der perfekte Feind

Schließlich kam für die Möglichkeit von Bolsonaros Erfolg noch etwas hinzu, was den Sturm perfekt machte. Dazu musste der Gegner in der zweiten Runde ein Kandidat der Arbeiterpartei sein. Und genau so kam es. Populistische Führer brauchen öffentliche Feinde, um die Summe aller Ängste auf sie zu projizieren, wodurch die Unterstützung der Bevölkerung ausgelöst wird. Für Hitler waren es die Juden, für Matteo Salvini und für Marine Le Pen die Roma. Genau das ist die PT für Bolsonaro. Diese Partei, die Brasilien von 2002 bis 2016 regiert hat, verkörpert für ihn alle Übel. Doch die PT machte es ihm auch leicht. Weder bat sie wegen ihrer Beteiligung an den zahlreichen Korruptionsskandalen um Entschuldigung, noch brachte sie neben dem verurteilten Ex-Präsidenten Lula da Silva neue Anführer hervor. So ebnete auch die PT den Weg für Bolsonaros Propaganda-Feldzug.

Wenn die PT in der ersten Runde besiegt worden wäre und der Gegner von Bolsonaro, der linksliberale Ciro Gomes, der konservative Geraldo Alckmin oder die Umweltaktivistin Marina Silva gewesen, hätte sich die Schlagzeile „Brasilianer gegen die PT“ schnell entlarvt. Aber die Tatsache, dass die PT die erste Runde überlebt hat, befeuerte die Polarisierung und die Idee eines kollektiven Feindes. Noch nie wurde eine Präsidentschaftswahl in Brasilien so rücksichtslos und so feindselig geführt. Es gab noch nie so viel politischen Hass im Land seit der Demokratisierung. Und die Brasilianer mussten sich nie zwischen einem Kandidaten entscheiden, der die Hälfte der Bevölkerung diskriminiert (Bolsonaro), und einem Kandidaten, der von der anderen Hälfte diskriminiert wird (Haddad).

423 Nachrichten in 24 Stunden, meist mit beleidigenden Videos. Keine konkreten Ideen, wie mit den Krisen in Brasilien umzugehen ist.

 

Dieser Artikel erschien zuerst bei Plataforma. Aus dem Englischen übersetzt von Constantin Wißmann
 

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