Tel Aviv unter Beschuss - Die Rückkehr der Gewalt

Palästinensische Raketen haben am Dienstagabend fünf israelische Zivilisten getötet, darunter ein Kind. Die Hamas spricht von Vergeltungsschlägen für eine mögliche Zwangsräumung von palästinensischen Familien im Osten von Jerusalem. Doch die Gewalt hat längst eine Eigendynamik entwickelt.

Eine palästinensische Rakete schlug in diesen Bus im Süden von Tel Aviv ein / dpa
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Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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Derartige Szenen hat Israel seit dem Gazakrieg von 2014 nicht mehr erlebt: Immer wieder ertönten am Dienstagabend schrille Sirenen in Tel Aviv und umliegenden Städten, um vor eingehenden Raketen aus Gaza zu warnen. Passanten flohen in die nächstgelegenen Bunker oder kauerten sich in den Treppenhäusern fremder Wohnhäuser zusammen. Fünf israelische Zivilisten, darunter ein Kind, kamen letzte Nacht ums Leben, mehrere wurden verletzt. Die israelische Armee, die IDF, bombardierte im Gegenzug militärische Ziele in Gaza. Laut palästinensischen Angaben kamen dabei 35 Menschen ums Leben, darunter zehn Kinder. Über 200 wurden verletzt.

Städte im Süden Israels stehen schon seit Montagabend unter Beschuss. Dass es auch das Zentrum des Landes trifft, in dem ein großer Teil der Bevölkerung lebt, ist jedoch selten. Über 1.000 Raketen feuerten palästinensische Terrororganisation im Gazastreifen zwischen Montagabend und Mittwochmorgen ab. Rund 200 Raketen landeten nach IDF-Angaben innerhalb Gazas. Einen großen Teil der Geschosse, die es über die Grenze schafften, fing Israels Raketenabwehrsystem Iron Dome ab. Doch die Anlage bietet keinen lückenlosen Schutz. Eine Rakete traf einen leeren Bus in Holon, einem südlichen Vorort Tel Avivs. Handyvideos von dem Einschlag, der das Fahrzeug in Flammen aufgehen ließ und Umstehende verletzte, verbreiteten sich rasch in den sozialen Medien.

Bombenanschlag auf Hamas-Hauptquartier 

Die israelische Luftwaffe wiederum flog im Laufe der Nacht zahlreiche Vergeltungsschläge. Unter anderem bombardierte sie zwei mehrstöckige Gebäude im Gazastreifen. Eines davon hatte laut Angaben der Armee als Hauptquartier für die Aufklärungseinheit der Terrororganisation Hamas gedient. Die IDF teilte mit, sie habe Zivilisten im Vorfeld gewarnt und ihnen Zeit gegeben, das Gebäude zu verlassen.

„Das sind militärische Ziele, die für militärische Zwecke genutzt werden“, sagte der IDF-Sprecher Jonathan Conricus am Mittwochmorgen. Die Armee habe darüber hinaus mehrere hochrangige Kommandeure der Hamas sowie des Islamischen Dschihads, einer weiteren Terrororganisation in Gaza, mit gezielten Schlägen töten sowie einen Versuch vereiteln können, palästinensische Kämpfer aus Gaza durch einen Tunnel nach Israel zu schleusen. Die israelische Marine unterstützt die Operation von der Küste aus.

Vergeltungsakt für Zwangsräumung

Im Zentrum des Konflikts steht Jerusalem, wo sich seit Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan Mitte April Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte allabendlich heftige Straßenkämpfe liefern. Entzündet hatte sich der Konflikt ursprünglich an Absperrungen, die Israels Polizei auf einem bei Palästinensern beliebten Platz in Ostjerusalem aufgestellt hatte, was viele Muslime, die sich dort während des Ramadans gern abends versammeln, als Provokation empfanden.

Inzwischen sind die Gatter abgeräumt, doch die Gewalt hat längst Eigendynamik entwickelt. Ein weiterer Brennpunkt ist das ostjerusalemer Viertel Sheickh Jarrah: Dort könnte mehreren palästinensischen Familien die Zwangsräumung drohen, sollten sie einen Rechtsstreit gegen eine israelische Organisation verlieren, die ihrerseits Besitzansprüche auf die betreffenden Häuser anmeldet. Der Raketenbeschuss, ließ ein Sprecher der Hamas gestern wissen, sei eine Reaktion auf Israels „Verbrechen und Aggression gegen die Heilige Stadt und seine Aggression gegen unser Volk in Sheickh Jarrah und die Al-Aqsa-Moschee“. Analysten vermuten, dass die Islamisten sich mit ihren Angriffen als wahre Verteidiger Jerusalems profilieren wollen.

Hamas beschwört „eine neue Machtbalance“

Die Zeichen stehen derzeit weiter auf Eskalation. Beide Seiten geben sich kämpferisch. „Was derzeit passiert, ist eine Ehre für unser Volk, unsere Nation“, sagte Ismail Haniyeh, einer der Anführer der Hamas, am Dienstag. „Es gibt jetzt eine neue Machtbalance.“ Die IDF wiederum hat mehrere Divisionen in die Grenzregion geschickt und 3.000 Reservisten mobilisiert. Sie plane, ihre „Operationen fortzuführen“, teilte ihr Sprecher mit.

Manche Israelis verarbeiten die bedrohliche Lage mit Galgenhumor. „In der ganzen Welt gibt es Probleme mit Corona“, lautet ein Satz, der derzeit auf Hebräisch in den sozialen Netzwerken kursiert. „Nur bei uns ist Gott sei Dank wieder Routine eingekehrt.“

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