Israel - In diesem Land gibt es immer einen Weg

2020 war für Israel ein besonderes Jahr. Die Abraham-Friedensabkommen mit seinen Nachbarn sind historisch. Trotzdem wurde vieles von Corona überschattet. Auch für unsere Israel-Korrespondentin Mareike Enghusen. Doch sie hat das Land noch einmal neu entdeckt und freut sich auf 2021.

Israels Premier Benjamin Netanjahu macht sich bereit für die Impfung / dpa
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Autoreninfo

Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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In Israel lebt man in dem Bewusstsein, dass die Lage des Landes, der Region und der eigenen Lebensumstände sich schnell und drastisch ändern kann. Jedes Jahr kann einen Ausbruch von Gewalt bringen, den Kollaps einer Regierung, ein diplomatisches Erdbeben oder eine Rebellion im Nachbarland. Das Covid-19-Virus aber traf die krisenerprobten Israelis und ihre Gäste, zu denen ich zähle, ebenso unvorbereitet wie den Rest der Welt.

Es war der 15. März, als die Macht der Pandemie über mein eigenes Leben sich mit voller Wucht offenbarte. Ich hatte Freunde eingeladen, wir aßen, tranken und plauderten, bis auf unseren Handys die Eilmeldungen klingelten: Die Regierung plante drastische Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, Grenzschließungen, Kontaktverbote, vielleicht gar landesweite Ausgangssperren. „Das hier wird mein letztes soziales Ereignis für eine lange Zeit“, stöhnte eine von uns. Ich hielt sie für dramatisch. Sie sollte Recht behalten.

Stille in Israel?

Früher als die meisten Länder schloss Israel Grenzen, Schulen, Cafés und Geschäfte. Im Frühling durften wir uns über Wochen hinweg nur hundert Meter von unseren Wohnungen entfernen. Es wurde still in meinem sonst so belebten Viertel in Ramat Gan, einem Vorort von Tel Aviv. Und doch nicht so still, wie man hätte erwarten können. Schließlich ist die Rede von Israel, einem Land, das europäische und nahöstliche Elemente auf eigenwillige Art miteinander vereint. In dem kleinen Park nahe meiner Wohnung trafen sich abends weiterhin die Teenager, kichernd, rauchend, maskenlos. Tagsüber versammelten sich dort junge Familien zum Picknick.

Je wärmer es wurde, desto ferner schien die Bedrohung der Pandemie. Und der Staat ließ uns gewähren. Ja, uns. Auch ich beugte die Regeln. Auf den Spaziergängen mit meinem Hund überschritt ich den Hundert-Meter-Radius, den die Regierung mir zugestand, und abends, wenn die Straßen fast menschenleer waren, ließ ich manchmal die Maske daheim. Bis eines Abends ein Polizeiwagen neben mir hielt. Ich erwartete eine doppelte Geldstrafe, für Übertretung der Ausgangssperre wie des Maskengebots.

Nachdem einer der beiden Polizisten mich herangewunken hatte, ergab sich folgender Dialog:

Polizist: Was machst du hier? (Das Hebräische kennt keine Sie-Form.)

Ich: Ich gehe mit meinem Hund spazieren.

Polizist: Wo wohnst du?

Ich: Da drüben (vages Handzeichen).

Polizist (gelangweilt): Du weißt, dass man sich nur eine bestimmte Distanz von der Wohnung entfernen darf, oder?

Ich: Ja, ich kehre auch gleich wieder um.

Polizist fährt wortlos davon.

Eigentlich ein besonderes Jahr

Die kleine Begegnung ist typisch für die Art, auf die in Israel so viele Dinge gehandhabt werden, und sei es in einer Jahrhundertkrise: Der Staat mag strenge Regeln verabschieden, seine Vertreter erlauben sich bei ihrer Durchsetzung eine gehörige Freihändigkeit. Auf den ersten Lockdown folgte die Lockerung, ein rasanter Anstieg der Fallzahlen, ein zweiter Lockdown, eine zweite Lockerung. Zwischendurch formierte sich eine neue Regierung und geriet ins Straucheln, und Israel schloss Frieden mit vier arabischen Staaten, ein historisches Ereignis, das in einem anderen Jahr, mit anderen Helden vielleicht von mehr Menschen und Medien gefeiert worden wäre.

Doch die Abraham-Abkommen lassen sich nicht trennen von ihren Paten, dem US-Präsidenten Donald Trump und Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, zwei Männern, denen viele ihrer Kritiker ihren Triumph nicht gönnen mögen. Unter dem Schatten der Pandemie ist in Nahost eine neue Ära angebrochen, und ihre Folgen sind bis in mein Vorstadtviertel zu spüren. Dort traf ich kürzlich die Nachbarshündin Belle mit einem Mann, den ich nicht kannte. Wo Belles Besitzer seien, fragte ich. „Ach“, sagte der Fremde, „die sind übers Wochenende nach Dubai geflogen“. Vor sechs Monaten noch hätte dieser Satz auf einer israelischen Straße absurd geklungen.

Festgesteckt in Israel

Die Welt hat sich verändert in diesem Jahr, nicht nur getrieben von dem Virus und längst nicht nur zum Schlechteren. Auch für mich hat sich vieles verändert. Um zu reisen, müsste ich für mehrere Wochen in der Quarantäne verschwinden, was ich lieber vermeide. Seit einem Jahr habe ich Israel deshalb nicht verlassen und dabei gelernt: Man erlebt ein Land anders, wenn man darin feststeckt. Früher ging ich in Deutschland zum Arzt, zum Friseur und zum Schuhekaufen. All das kann man auch in Israel tun, es ist nur ein bisschen bequemer daheim.

All die Jahre habe ich mich mit einer Hand an der heimischen Reling festgehalten (ich komme aus Hamburg, daher die Bootsmetapher). Dieses Jahr hat mich gezwungen, sie loszulassen und voll einzutauchen in die Tiefen der israelischen Bürokratie, des überlasteten Gesundheitssystems, der kleinen und größeren Kämpfe, die dieses laute, überhitzte Land seinen Bewohnern tagtäglich aufzwingt. Ich habe viel darüber gelernt, was es heißt, Israeli zu sein. Zugleich habe ich viel darüber gelernt, was es heißt, eine Fremde zu sein.

In Israel gibt es immer einen Weg

Weil ich keine Staatsbürgerin bin, dürfte ich nach einer Auslandsreise nicht einfach wieder einreisen in das Land, in dem ich seit sechs Jahren lebe. Dafür müsste ich eine Sondergenehmigung im Innenministerium beantragen. Weil ich nur ein Arbeitsvisum habe, übernimmt meine lokale Krankenversicherung weniger Leistungen als für Einheimische. Und nun, da Israel seine Bürger gegen das Virus zu impfen beginnt, fragte mich kürzlich ein Freund: „Bekommst du die Impfung eigentlich auch?“ Die Antwort weiß ich nicht. Doch ich bin sicher, das wird sich regeln lassen, so, wie sich am Ende hier alles regeln lässt, und sei es an den Regeln vorbei.

Kürzlich ging ich zum Blutabnehmen. Als ich schon den Ärmel hochgekrempelt hatte, fragte die Krankenschwester nach meinem Pass, der friedlich daheim lag. „Wie soll ich dir so Blut abnehmen?“, stöhnte sie. „Für diesen Test muss ich deinen Pass sehen, so ist die Regel!“ – „Vielleicht habe ich irgendwo ein Foto“, murmelte ich und begann, über mein Handydisplay zu wischen. Die Geduld der Schwester reichte wenige Minuten, dann stach sie mir wortlos die Nadel in den Arm. Die Regel mit dem Pass? Schon vergessen. Ich freue mich auf 2021 und bin zugleich dankbar für das alte. Es hat mich vieles gelehrt.

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