Islamischer Staat - Kalifat in der Finanzkrise

Dem sogenannten Islamischen Staat geht es finanziell schlecht, das ergab eine Studie des Londoner King's College. Einer der Autoren ist der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann. Im Interview erklärt er das brüchige Geschäftsmodell der Gruppe und warum die Terrorgefahr nicht geringer wird

Auch der Verlust vieler Ölraffinerien macht dem sogenannten Islamischen Staat schwer zu schaffen / picture alliance
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Lena Baseler hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert.

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Herr Neumann, auf der Münchner Sicherheitskonferenz haben Sie und Ihre Kollegen vom King´s College London die Studie „Kalifat im Niedergang“ vorgestellt. Dazu haben Sie die Finanzierung des sogenannten Islamischen Staates (IS) untersucht. Woher bekommt der IS sein Geld?
Wir haben uns die Periode von 2014 bis 2016 angeschaut, also die Zeit seit des Beginns des vom IS ausgerufenen Kalifats. Darin wird klar: Der IS schöpft seine Einnahmen fast ausschließlich aus dem eigenen Territorium.

Und wie reich ist er geworden?
Es ist falsch zu sagen, der IS sei die „reichste Terrororganisation der Welt“, denn der IS ist eben nicht „nur“ eine Terrororganisation, er hat einen Quasi-Staat mit Territorium und staatlichen Strukturen aufgebaut. Den Höhepunkt an Einnahmen erlebte das Kalifat schon 2014. Damals verfügte der IS über ungefähr zwei Milliarden US-Dollar an Einkommen. 2016 war es unseren Schätzungen nach nur noch maximal die Hälfte dessen. Die Einnahmen sind also um bis zu 50 Prozent zurückgegangen.

Welche sind die größten Einnahmequellen?
Die drei Haupteinnahmequellen sind Steuern, Öl und Konfiszierungen von Eigentum.

Der IS treibt also ganz normal Steuern ein?
Richtig, der IS hat das gemacht, was Regierungen, die vorher in jenen Gebieten an der Macht waren, ebenso gemacht haben: Also, zum Beispiel, Gebühren erhoben für Straßen. Aber der IS treibt auch ganz konventionelle Steuern ein, darunter Gewerbe- und Einkommenssteuern, die dann als „islamische Steuern“ verkauft werden. Der IS sieht sich, wie der Name ja schon sagt, als Staat und nicht alles, was er tut, ist brutal. Einige Dinge, die er tut, sind im Prinzip für einen Staat ganz normal.

Wieso sind die Einnahmen zurückgegangen?
Hier sind zwei Gründe wichtig: Erstens, hat der Islamische Staat in den vergangenen Monaten sehr viel Gebiet verloren. Wenn man davon ausgeht, dass der Schlüssel zu seinem Reichtum das Territorium war, bedeutet der Verlust dessen natürlich empfindliche finanzielle Einbußen. Im Irak verlor der IS 60 Prozent seines einstigen Herrschaftsgebietes, auf der syrischen Seite sind es immerhin 30 Prozent. Das wiederum bedeutet, dass es weniger Menschen gibt, die besteuert werden können und konfiszieren kann man Dinge natürlich nur einmal – diese Geldquelle erschöpft sich irgendwann.

Außerdem sind viele Ölfelder, über die der Islamische Staat in den Jahren 2014 und 2015 noch verfügte, durch die territorialen Einbußen verloren gegangen.

Und zweitens?
Eine Terrororganisation, die sich gleichzeitig als Staat definiert, hat zwar einiges an Einnahmen hat, aber ebenso große Summen an Ausgaben. Das wird oft vergessen. Nicht jedes finanzielle Mittel, das der IS generiert, fließt in den Terror. Als Staat hat man Ausgaben, wie für den Erhalt der Infrastruktur, aber auch für Gehälter und die medizinische Versorgung. So schlecht das alles ist im IS, aber eben genannte Punkte sind trotzdem Kosten, die bewältigt werden müssen. Vielleicht sollte man sich von der gerade genannten Zahl von einer Milliarde US-Dollar also gar nicht so sehr beeindrucken lassen.

Aber der IS treibt doch auch immer noch Handel, vor allem mit Öl. Wer kauft einer Terrororganisation das überhaupt ab? Warum wird dieser Handel nicht gestoppt?
Der Ölhandel ist im vergangenen Jahr sehr viel geringer ausgefallen ist, als noch im Jahr 2014. Das liegt daran, dass ab 2015 die Globale Koalition, also die internationale Staatengemeinschaft unter Führung der USA, die sich am Kampf gegen den IS beteiligt, sehr aggressiv gegen diese Ölinfrastruktur vorgeht. Raffinerien und Tanklaster haben sie gezielt angegriffen. Der Großteil des Öls wird im eigenen Staat konsumiert, also werden große Mengen des Öls auch an die eigene Bevölkerung verkauft. Der Rest wird an Nachbarterritorien, an andere Rebellengebiete, in die Türkei und nach Kurdistan verkauft. Und natürlich auch in die syrischen Gebiete, die von Assad-Truppen kontrolliert werden.

Wie ist das möglich, dass das Assad-Regime Öl vom gegnerischen IS kaufen kann?
Es handelt sich um eine Kriegsökonomie. Dort agieren Schmuggler, denen Prinzipien egal sind und die gutes Geld mit dem Handel verdienen. Es ist im Übrigen nicht der Islamische Staat selber, der das Öl verkauft. Dem IS gehören lediglich die Ölproduktionsanlagen, er verkauft aber Lizenzen an Personen, die dadurch ermächtigt werden eigene Geschäfte mit dem Öl zu machen. Der Islamische Staat interessiert sich in vielen Fällen nicht dafür, wo das Öl letztendlich landet. Trotzdem wäre es zu einfach, zu sagen, dass das Assad-Regime den Islamischen Staat durch die Ölkäufe unterstützt.

Gibt es Privatiers oder sogar Staaten, die den IS finanziell unterstützen?
Die gab es sicherlich noch vor 2013. Die Vorgängerorganisationen Anfang der 2000er Jahre des IS im Irak haben mit hoher Wahrscheinlichkeit Zuwendungen aus den Golfstaaten bekommen. Insbesondere in den Jahren von 2011 bis 2013 haben viele Gruppen, die gegen das Assad-Regime kämpften, Gelder erhalten. Deren Kampf gegen Assad galt als Teil des schiitisch-sunnitischen Konfliktes gegen den Iran. Allerdings muss man sagen, dass mit der Ausrufung des Kalifats viele Unterstützer in den Golfstaaten kalte Füße bekommen haben. Sie haben festgestellt, dass der IS auch zur Gefahr für sie wird. Viele wollten dann nichts mehr mit dem Kalifat zu tun haben. Für den Zeitraum von 2014 bis 2016 konnten wir keine harten Beweise dafür finden, dass der IS immer noch finanzielle Mittel aus der Golfregion erhält.

Sie haben bereits angeführt, dass die finanzielle Lage des Islamischen Staates schlecht aussieht. Bedeutet das also, dass der IS sich nur weiter finanzieren kann, wenn er sein Herrschaftsterritorium im Nahen Osten weiter ausdehnt?

Ja, weil das Herrschaftsterritorium sich so stark verkleinert hat, hat sich auch die finanzielle Lage des IS dramatisch verschlechtert. Die Schlacht um Mossul ist dafür ein gutes Beispiel. Sollte der IS Mossul wieder an die irakische Regierung verlieren, wäre das ein herber Schlag für den IS. Mossul ist natürlich symbolisch wichtig für ihn, weil hier das Kalifat ausgerufen wurde. Aber vor allem ist Mossul die Stadt, die die meisten Steuergelder hervorbringt. Der Verlust Mossuls könnte die prekäre finanzielle Lage des Islamischen Staates noch weiter verstärken.

Um den IS steht es also schlecht. 
Tatsächlich konnten wir mit unserer Studie feststellen, dass es im Islamischen Staat eine harte finanzielle Krise gibt: Dinge, die 2014 noch kostenlos waren, wie medizinische Versorgung oder Schulbücher, muss die Bevölkerung jetzt bezahlen. Außerdem wurden die Gehälter der Kämpfer um 50 Prozent gekürzt.

Ist der Niedergang des Kalifats damit in baldiger Zukunft absehbar?
Ja, im Kerngebiet schon, also in Syrien und im Irak. Das gesamte Geschäftsmodell des IS hat ja darauf beruht, dass er sich ständig ausbreitet. Die Plünderökonomie macht nur dann Sinn, wenn man seinen Herrschaftsbereich ausdehnt. Das ist zurzeit beim IS aber nicht mehr der Fall.

Wird sich die finanzielle Krise auf die terroristischen Operationen in Europa auswirken?
Nein. Die terroristischen Anschläge in Europa sind in der Mehrzahl alle von den Tätern selbst finanziert. Zudem sind sie auch nicht besonders teuer. Die Pariser Anschläge im November 2015 haben weniger als 20.000 Euro gekostet. Auch wurden sie nicht vom IS direkt, sondern durch kleinkriminelle Unterstützer vor Ort finanziert. Anis Amri zum Beispiel hat keine direkten Zuschüsse von Islamischen Staat erhalten, der Terroranschlag vom Breitscheidplatz wurde vielmehr durch den Handel von Drogen und Diebstählen finanziert.

Trotz der Verkleinerung des IS im Nahen Osten bleibt die Gefahr im Westen also bestehen?
Ja, jedenfalls kurzfristig für die nächsten fünf Jahre. Es kann aber passieren,  dass der IS auf längere Sicht seine Attraktivität verliert. Aufgrund seiner territorialen und finanziellen Einbußen kann die Utopie des islamischen Gottesstaates in sich zusammenbrechen. Viele Attentäter bleiben jedoch davon fasziniert. Der IS sagt ihnen in Anbetracht seiner Krise vor Ort aber bereits jetzt, dass die Attentäter in Europa bleiben und dort für die Sache des IS kämpfen sollen.

Peter R. Neumann ist Politikwissenschaftler und Experte für islamistischen Terror. Seit 2008 ist er Direktor des „International Centre for the Study of Radicalisation“ am Londoner King’s College. Die Studie „Kalifat im Niedergang“ wurde von ihm und weiteren Kollegen des King’s College in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young erarbeitet.

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