Islam in Europa - „Man muss den Muslimen auch zuhören“

Die Soziologin Nilüfer Göle hat in 21 europäischen Städten untersucht, welche Dynamik der Islam in westlichen Gesellschaften auslöst. Ein friedliches Zusammenleben ist für sie nur dann möglich, wenn Muslime und Nicht-Muslime gemeinsam und vor Ort Konflikte lösen

„Alle Probleme versuchen wir mit Gesetzen zu lösen. Zuerst muss aber immer die Debatte stehen“ / picture alliance
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Lena Guntenhöner ist freie Journalistin in Berlin.

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Frau Göle, in Ihrem Buch ist die Rede vom europäischen Islam. Was genau meinen Sie damit?
Es ist die Beschreibung einer Realität, die heutzutage nicht berücksichtigt wird. Die sich längst im gesellschaftlichen Leben entwickelt hat, aber von den Medien und der Politik nicht widergespiegelt wird. Dabei ist es die Mehrheit der Muslime, die ein ganz normales Leben führt und es zu etwas bringen will.

Warum haben wir dieses eingeschränkte Bild der Realität?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der oft der skandalöseste Aspekt in den Vordergrund rückt. Die modernen Kommunikationstechnologien spiegeln einfach nicht die Pluralität der Meinungen wider. Wir sehen immer mehr total verschleierte Frauen in den Medien, als sei das die Normalität. Die Banalität des Reellen interessiert nicht, wir sind immer im Außergewöhnlichen: der Terrorismus auf der einen Seite, die gescheiterte Integration der Muslime auf der anderen Seite.

Nilüfer Göle, Bild: Görkem Ünal

Was macht denn einen normalen Muslim für Sie aus?
Ich nenne diejenigen gewöhnliche Muslime, deren Eltern vielleicht Migranten waren, sich selbst aber nicht so definieren. Sie möchten sich in der Gesellschaft engagieren. Radikalisierte gehören da natürlich nicht dazu. Die Teilhabe entsteht jedoch nicht durch Assimilation, sondern durch das Hervorheben ihrer kulturellen und religiösen Besonderheiten. Was in der Mehrheitsgesellschaft natürlich Probleme verursacht, das ist normal. Kontroversen und Konflikte aber gehören zu demokratischen Staaten dazu. Und trotz allem bestehen sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen den gelebten islamischen und den europäischen Werten.

Wo sehen Sie diese Gemeinsamkeiten?
Die europäischen Muslime interpretieren ihre Religion jeden Tag und ganz praktisch. Gleichzeitig sind sie Teil der deutschen Sprache, der französischen Kultur, der italienischen Lebensart. Der Islam, den sie leben, ist nicht der der mehrheitlich muslimischen Länder. Wenn wir über den Islam reden, dann oft von oben herab. Wie der Staat Bürger schaffen kann, die sich den europäischen Werten entsprechend verhalten. Aber auf der Praxisebene sehen wir einen Islam, der längst auf der europäischen Erfahrung beruht. Den habe ich mir angesehen, also von unten, wenn man so will.

Wie sah das konkret aus?
Ich wollte einen Raum schaffen, in dem sich Muslime und andere gesellschaftliche Gruppen treffen und um ein bestimmtes Thema herum diskutieren können. Zunächst haben ich und meine Assistentinnen daher recherchiert, in welcher europäischen Stadt welches Ereignis, zum Beispiel der geplante Bau einer Moschee, debattiert wird. Dann haben wir geschaut, wer davon betroffen ist und welche Organisationen da mitreden. Diese Personen haben wir einzeln interviewt und dann zu den Gruppendiskussionen eingeladen.

Sind alle gekommen?
Nein. Ich hatte erwartet, dass es eine Ausgewogenheit zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen geben würde. Das war nicht so. Die Muslime kamen gerne, nicht aber die Nicht-Muslime, solange sie keine Repräsentanten von etwas waren. Da sagt ja auch schon etwas aus. In den Medien bestimmen die Nicht-Muslime die Debatten, vor Ort sind es die Muslime, die reden wollen.

Können Sie kurz wiedergeben, wie die Diskussion um den Moscheebau ablief?
Da standen Fragen im Raum wie, welche Architektur wählt man? Wollen wir eine marokkanische oder türkische Moschee bauen? Oder soll sie auch den hiesigen Bewohnern gefallen? Was man da wählt, ist eine Art Zustandsbeschreibung für das Verhältnis von Muslimen und europäischen Ländern. Es geht also alle an und nicht nur die Muslime. Diesen Fragen muss man sich auf lokaler Ebene nähern und mit wirklichen Menschen. Wenn man sich ihnen auf medialer Ebene nähert, dann ist nur die Rede von Angst, Ablehnung und Radikalisierung.

Über welche Themen haben Sie noch gesprochen?
Das Thema halal, einerseits als Ernährungsfrage, also, dass Muslime kein Schweinefleisch essen. Andererseits betrifft es auch die Art der rituellen Schlachtung. Da gab es ja auch eine Debatte, ob das nicht zu schmerzhaft für das Tier sei. Andere zentrale Themen sind das Kopftuch und die allgemeine Sichtbarkeit des Islam. In allen europäischen Ländern wird über diese Fragen diskutiert. Daran sieht man ja auch schon, wie sehr der Islam europäisiert ist. Mein Vorschlag ist, diese Kontroversen zu suchen und dann gemeinsam zu überlegen, wie die Konflikte überwunden werden können. Aber dafür muss man den Muslimen, die hier leben, eben auch zuhören.

Sie plädieren also eher für den Dialog und nicht für Gesetze, die das Zusammenleben regeln?
Genau. Heute denken wir, dass wir den öffentlichen Raum immer sofort reglementieren sollten. Alle Probleme versuchen wir mit Gesetzen zu lösen. Das finde ich nicht richtig. Zuerst muss immer die Debatte stehen. Unterdessen hat man den Eindruck, dass sich unsere Debatten wiederholen. Seit dreißig Jahren diskutieren wir über das Kopftuch, dabei wird die Diskussion immer hitziger und schafft immer mehr Polarisierung. Wir in Europa haben über die unterdrückten Frauen gesprochen, aber nicht mit ihnen. Die Personen treten hinter den Symbolen zurück, jetzt ist es die Burka, nicht mehr das Kopftuch. Wir überspringen die Konsensfindung und gehen gleich zu Bestrafung und Reglementierung über. Es ist einfach, Minarette zu verbieten, wie es die Schweiz ja gemacht hat. Dann aber gibt es auch keinen Diskussionsprozess.

Wer muss den Diskurs verändern? Die Mehrheitsgesellschaft oder die Muslime?
Beide. Zunächst einmal muss der Interaktion mehr Raum gegeben werden. Im Moment gibt es die Tendenzen, dass sich die Mehrheitsgesellschaften rein halten wollen und sich die Muslime als Opfer von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Islamophobie darstellen. Die Muslime müssen aber als europäische Bürger aktiver werden, nicht nur als Teil der muslimischen Community. Nach dem Terroranschlag von Berlin haben Muslime zum Beispiel Gesicht gegen den Terror gezeigt. Ich nenne das performative Bürgerschaft, das ist ganz wichtig. Oder der Tag der offenen Moscheen. Oder die Bewegung „Not in My Name“ in England gegen den islamistischen Terrorismus. Man kann das trivial finden, für mich ist das essenziell.

Welchen Begriff benutzen Sie eigentlich, den der Integration, Assimilation oder noch einen anderen?
Ich verwende den der Interaktion oder der Interkultur. Wenn Sie von Integration oder Assimilation reden, dann setzen Sie eine passive Aufnahmegesellschaft voraus und nehmen an, dass die anderen die ganze Arbeit machen. Aber in einer Demokratie müssen wir gemeinsam Wege finden, um zusammen zu leben. Es ist also eine doppelte Anpassung nötig. Die erste Regel dafür ist der Anstand. Wie man sich Guten Tag sagt, zeigt schon, ob man friedliche Absichten hat oder nicht.

Was entgegen Sie denen, denen das zu viel Arbeit ist? Die sagen, man habe sie nicht gefragt, die anderen seien ja freiwillig gekommen.
Ich denke, das ist einfach nicht realistisch. Und es ist auch nicht richtig, denn Deutschland brauchte ja zum Beispiel die Gastarbeiter. Solange sie nur Arbeiter waren und nicht sichtbar, gab es keine Probleme. Aber wenn sie zu Nachbarn werden, ihre Kinder auf die gleichen Schulen gehen, sie in den gleichen Vierteln wohnen, dann wird es zum Problem. Das stellt die demokratischen Fähigkeiten eines Landes auf die Probe. Die Probleme müssen jeden Tag im Kleinen diskutiert und gelöst werden. Ich gehöre zu denen, die die Dazugekommenen willkommen heißen. Das ist für mich auch die Idee Europas, die Idee der Gastfreundschaft und der Kreativität.

Ist der Laizismus in Frankreich förderlich für die, wie Sie sagen, Interaktion der Religionen und Bevölkerungsgruppen?
Heute sehen wir in Frankreich die Grenzen des Laizismus, weil er mehr als eine Identität verstanden wird, denn als eine Art, die Gesellschaft zu organisieren. Historiker sagen zum Beispiel, dass die Verbannung des Kopftuchs aus den Schulen ein Bruch mit dem Laizismus ist. Man erwartet nicht mehr nur vom Staat, neutral zu sein, sondern auch von seinen Bürgern. Eine Person aber ist niemals neutral.

Gibt es europäische Länder, in denen das besser klappt als in anderen?
Alle europäischen Ländern versuchen, laizistisch oder nicht, den Islam in ein bestimmtes Schema zu pressen. Der Laizismus ist ein Erbe der französischen Geschichte. Deutschland hat das Erbe des Holocaust und dessen Aufarbeitung. Die Gleichheit der Geschlechter, die Redefreiheit, die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten, diese säkularen Werte sind in allen europäischen Ländern sehr stark. Deutschland ist anderen Ländern voraus, Frankreich zum Beispiel ist längst nicht so innovativ. Deutschland zweifelt mehr an sich, dazu kommt die Schwere der Vergangenheit, deshalb wird mehr getan, um sich den Problemen zu stellen.

Oft wird eine Reformation oder Aufklärung des Islam gefordert. Was halten Sie davon?
Damit vermeidet man nur, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Mit dieser Argumentation sagt man, es sei die Aufgabe der Muslime, ihre Religion zu reformieren. Übrigens ja auch meist mit dem Zusatz, dass sie das woanders machen müssen, im Iran oder in Ägypten zum Beispiel. Und man sieht den Anderen gleichzeitig durch die Brille der eigenen Geschichte. Nach dem Motto: Bei uns hat das gut funktioniert, das muss es bei euch auch geben. Das ist zwar normal, dass man den Anderen nach den eigenen Maßstäben beurteilt und nach Parallelen in der Geschichte sucht. Aber man muss auch seine aktuelle Situation berücksichtigen. Der Islam ist doch schon dabei, sich neu zu interpretieren, in den Schulen, in den Universitäten. Die Lehren unterscheiden sich zum Teil sehr voneinander. Die Reform muss man in diesen verschiedenen Ausprägungen suchen.

Nilüfer Göle ist seit 2001 Professorin für Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sie war unter anderem Gastprofessorin an der University of Michigan, am Massachusetts Institute of Technology und an der New School for Social Research in New York City.

Nilüfer Göle: „Europäischer Islam. Muslime im Alltag“ , erschienen im Verlag Klaus Wagenbach, 304 Seiten, 24,- Euro.

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