Islam - „Einfluss südasiatischer Muslime nicht zu unterschätzen“

In Indien machen Teile der amtierenden Regierungspartei BJP Stimmung gegen Muslime. Welche Hintergründe das hat und wie es einer südasiatischen Missionsbewegung gelang, ein Netzwerk in Europa aufzubauen, erklärt der Projektleiter des Zentrums Moderner Orient, Dietrich Reetz

Ein Teil der Regierungspartei BJP strebt die „Hinduisierung” Indiens an / picture alliance
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Florian Beißwanger ist freier Journalist und lebt in Berlin.

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Herr Reetz, Sie sind Politik- und Islamwissenschaftler mit Schwerpunkt Südasien. Momentan wird in Indien kontrovers über Muslime debattiert. Was sind die Hintergründe?

Die Diskussion ist politisch und ideologisch angeheizt. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass die nationalkonservative BJP regiert. Sie steht für den Hindunationalismus. Eine Bewegung, die sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der Moderne und der Kolonialherrschaft gebildet hat.

Warum macht die BJP ausgerechnet gegen Muslime im Land mobil?

Ein Grund hierfür ist das Erbe der Teilung des Subkontinents im Jahr 1947. Die Teilung des Subkontinents in Indien, Pakistan und dann 1971 in Bangladesch zielte darauf ab, dem Islam und somit den meisten Muslimen Südasiens, ein eigenes Heimatland zu geben.

PD Dr. Dietrich Reetz

Und wo sollte das liegen?

Die Teilung folgte dem Anspruch der Muslime, die selbst den Anspruch erhoben hatten, nicht im Vielvölkerstaat Indien als eigene Nation unterzugehen. Deshalb wurde für sie Pakistan gegründet. Doch Millionen Muslime blieben weiterhin in Indien, heute sogar genauso viele, wie in Pakistan leben.

Trotz der nationalistischen Mobilmachung von Seiten der BJP sind einige Muslime Mitglied in der Partei. Wie passt das zusammen?

Wie alle nationalkonservativen Parteien besteht auch diese Partei aus einem kulturellen Flügel und einem pragmatisch ökonomischen. Letzterer flirtet gerne mit dem Großkapital und steht für Privatisierungen. Er erhebt für sich den Anspruch, für ganz Indien zu sprechen. Um dies umzusetzen, wirbt er auch um Muslime. Ministerpräsident Narendra Modi erklärte, dass seine Agenda nicht der Hinduismus, sondern die Entwicklung des Landes sei. Schließlich ist Indien etwa im Vergleich zu China wirtschaftlich die vergangenen Jahre stark zurückgefallen, nachdem sie noch in den Neunzigern fast gleichauf lagen.

Die BJP strebt primär also keine Teilung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen an?

Auch dazu gibt es in der  BJP keine einheitliche Meinung. Während die einen eine „Hinduisierung” des Landes anstreben, wollen andere einen Säkularismus mit religiöser Toleranz. Es gibt im Umfeld  der BJP jedoch zwei kleinere Gruppen, die noch schärfer, noch härter in der ideologischen Mobilmachung sind. Die RSS, die Teil des BJP-Parteisystems ist und die Shiv Sena, die im Raum Mumbai agiert. Die Shiv Sena droht sogar, die Premiere eines Bollywood-Films zu stoppen, weil ein bekannter pakistanischer Schauspieler, Fawad Khan, dort mitspielt.  

Passen Hinduismus und Nationalismus überhaupt zusammen, schließlich steht diese Religion für die Einheit in der Vielfalt?

Der Hinduismus an sich ist eine sehr pluralistische Erscheinung. Hindus bezeichnen sich selbst nicht als solche, sondern als Anhänger eines bestimmten Gottes. Im Land gibt es auch lokale Schreine von Heiligen, die sowohl von Hindus als auch von Muslimen friedlich besucht werden.

Schwingt bei der Mobilmachung gegenüber Muslimen auch die Angst vor islamistischen Terroranschlägen mit? Immerhin gab es in Indien dieses Jahr mehrere davon.

Die Inder behaupten, dass die Attentäter von Pakistan eingeschleust worden seien oder vom pakistanischen Territorium agierten. Drahtzieher soll das pakistanische Militär sein. 

Ist der IS auf irgendeine Weise im Land vertreten?

Es gibt Absichtserklärungen des  IS, über eigene Südasien-Zweigstellen in Indien irgendwie Fuß zu fassen.

Und gelingt ihm das?

Weniger in Indien als im Raum Pakistan, Afghanistan. Dort versucht der IS, als Konkurrent zu den Taliban, lokale Gruppen abzuwerben. Das funktioniert in einzelnen Fällen offenbar durch mehr Sold. Bisher hat dies aber wohl keine massiven strukturellen Folgen gehabt, weil es sehr viele lokale Traditionen des Widerstandes gibt. Auch geht die pakistanische Armee gegen solche Versuche des IS scharf vor.

In Deutschland ist wenig über Muslime in Südasien bekannt. Überwiegend wird die Kopplung hergestellt, der Islam stehe für den Nahen Osten. Welche Bedeutung oder gar Einfluss hat der Islam aus Südasien?

Der Einfluss der Muslime südasiatischer Herkunft ist nicht zu unterschätzen. So nimmt man bei uns wenig zur Kenntnis, dass die Mehrzahl der Muslime in Asien lebt; alleine in Südasien sind es mehr als doppelt so viele wie in den arabischen Ländern. Ihre Bedeutung hängt nicht zuletzt mit der großen Diaspora des Subkontinents in der ganzen Welt zusammen, aber auch damit, dass einige Gruppen sich als normative islamische Akteure verstehen. Hierzu zählt etwa die aus Laienpredigern bestehende Missionsbewegung Tablighi Jamaat, die global an großen Einfluss gewonnen hat. In Europa etwa in Großbritannien und Frankreich.

Was ist das Besondere an dieser Missionsbewegung?

Die Tablighi Jamaat hat es geschafft, über die so genannte ethnische Grenze zu springen. Ihr gelang es, in vielen Ländern eine Anhängerschaft zu bilden, die komplett lokalen Ursprungs ist. Da es eine Laienbewegung ist, die Muslime aus dem Alltag als Laienprediger gewinnt, können keine konkreten Zahlen genannt werden. Die Schätzungen schwanken zwischen weltweit zehn bis fünfzig Millionen. Auf der funktionalen Seite geht die Missionsbewegung wie die Zeugen Jehovas vor. Das heißt, sie gehen von Haus zu Haus, laden Leute zum Gebet in die Moschee ein, und machen Missionsreisen in andere Länder und andere Gemeinschaften. Eigentlich versuchen sie nicht, Menschen zum Konvertieren zu überreden, sondern sie wollen Muslime animieren, alle Vorschriften des Islams zu befolgen. Damit bilden sie de facto ein Netzwerk, das von ganz verschiedenen Leuten benutzt wird, die entweder liberale oder radikale Ansichten vertreten. Auch Studenten nutzen beispielsweise das System als Reisemöglichkeit, um die Welt kennenzulernen und nebenbei zu missionieren.

Als moderner Vertreter des Islam gilt der Inder Asghar Ali Engineer. Sie trafen ihn mehrmals vor seinem Tod im Jahr 2013. Was war seine Botschaft an die Muslime?  

Sein Anspruch war es, den Muslimen die Augen über die potenziellen Möglichkeiten des Islams zu öffnen. Er hat an bestimmte Prinzipien im Koran erinnert, die hinter ihrem wahren Potenzial bis heute zurückbleiben. Engineer verwies etwa darauf, dass der Koran in mehreren Versen Mann und Frau in einem Atemzug hintereinander nennt, wenn es um ihre Rechte als Menschen und Geschöpfe Gottes geht. Er hat die Nicht-Gleichberechtigung der Frau als aktuelle sozialethische Interpretation von Gelehrten kritisiert, die das Potenzial im Koran nicht ausschöpft und ihm letztlich zuwiderläuft. Zu Lebzeiten machte er sich nicht nur Freunde mit seinen Auslegungen. Doch in seinen mehr als 40 Büchern leben seine Ansichten eines progressiven Islams weiter. 

Dietrich Reetz ist Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient (ZMO) sowie Privatdozent für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er forscht und lehrt zur internationalen Politik und regionalen Entwicklung mit dem Schwerpunkt Islam in der nichtarabischen Welt, insbesondere Südasien.

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