IS-Rückkehrer - Die unterschätzte Gefahr von Frauen und ihren Kindern

Was wird aus Frauen und Kindern, die vom IS zurückkehren? Viele seien so gewaltbereit wie Männer, schreiben unsere Gastautorinnen. Um sie zu resozialisieren, sollte die Bundesregierung unbedingt ein Programm auflegen. Wie das aussehen könnte, zeigt ihr Entwurf

Harmlose „Jihadbräute“ oder Terroristinnen? Die Resozialisierung von IS-Heimkehrerinnen ist ein langer Weg / picture alliance
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Victoria Sophie Hazebrouck hat in Erlangen und in den USA Politikwissenschaften studiert und sich am King’s College London auf Terrorismus und Sicherheit spezialisiert. Gemeinsam mit Anna- Marie-Louise Tiessen hat sie den Think Tank Deradicalization and Security Initiative gegründet.

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Anna-Marie-Louise Tiessen hat in Bremen, in den USA und in England Integrated European Studies studiert und sich am King's College in London auf Terrorismus und Sicherheit spezialisiert. 

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Im Jahr 2014 wanderte eine Wolfsburgerin mit ihren zwei Kindern nach Syrien aus – um ihren religiösen Pflichten im selbsternannten Kalifat der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) nachzukommen. Nun soll sie, mit ihren mittlerweile drei Kindern, „unverzüglich“ zurückgeholt werden – so hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg das Auswärtige Amt (AA) am 07. November dieses Jahres verpflichtet. Keine „konkrete Gefahr“ gehe von der Mutter aus, und ihre Kinder seien traumatisiert und schutzbedürftig, weshalb das AA ihre bereits eingeleiteten Rückholungsbemühungen der Kinder nun um die erwachsene Frau erweitern müssen.

Der Beschluss habe eine „grundsätzliche Bedeutung“, hebt der hannoversche Anwalt, Dirk Schoenian, der diesen Fall vertritt und noch weitere solche Fälle vertreten möchte, hervor. Diese gewünschte Verallgemeinerung ist jedoch gefährlich – denn Frauen und Kinder des IS wurden strategisch von der Terrorgruppe dafür ausgebildet, um das generationsübergreifende Ziel des Jihads in ihren Heimatländern fortzuführen. Aufnahmen aus dem syrischen Flüchtlingslager al-Hawl unterstreichen, dass der Sieg gegen den IS nur territorial und nicht ideologisch gewonnen wurde: Kinder, die ihren Zeigefinger in IS-Manier zum sogenannten tawhid -Gruß hochhalten, singen IS-Slogans und geben selbstbewusst von sich, dass die Ungläubigen – die kuffar – sterben müssen. Frauen greifen das Wachpersonal an, hoffen auf die Stärkung des IS und wünschen sich die Rückkehr ins Kalifat.

Gewaltbereite „Jihadisten-Bräute“ 

Auch wenn jeder Fall einzeln geprüft werden muss, darf nicht von der immer noch anhaltenden Stereotypisierung harmloser Frauen und Kindern ausgegangen werden. Frauen, die hier im Westen als „lediglich“ Jihadisten-Bräute, die nur für die Hochzeit und Ehe nach Syrien auswanderten und so Teil des IS wurden, abgetan werden, sind weitaus mehr: Die Extremistenforscher Erin Saltman und Melanie Smith fanden durch die Analyse von über hunderten von westlichen Frauen, die sich dem IS anschlossen, heraus, dass die Gründe für die Radikalisierung über den männlichen Einfluss hinausgehen und auch die explizite Unterstützung von Gewalt zur Weiterbringung des idealistischen Zieles eines religiösen, radikal islamistischen Kalifats beinhalten.

So zeigt der Fall der Britin Aqsa Mahmood, beispielsweise, dass die junge Frau nicht nur sich selbst, sondern durch ihre Internetpräsenz auch andere radikalisierte, Gewalt, wie die Terroranschläge des 9. September 2001 unterstützt und im Islamischen Staat Teil der weiblichen Polizei, die Al-Khansaa Brigade, war. Es ist nicht viel über das Leben von Frauen im Kalifat bekannt, jedoch weiß man, dass diese Brigade brutal Regeln der Sharia durchsetzten und auch vor Hinrichtungen nicht zurückschreckten. 

Wie aus Kindern Kämpfer werden 

Nach dem territorialen Verlust der Terrorgruppe werden zudem auch Frauen immer häufiger an der Front eingesetzt. So erklärte Europol-Direktorin Catherine De Bolle Anfang dieses Jahres, dass Frauen nicht nur in Syrien, sondern auch im Westen als Kämpferinnen für den IS „unverzichtbar“ seien und auch als Jihadistinnen gefeiert würden, die ihre religiösen Pflichten erfüllen. Doch selbst wenn sich weder die Mitgliedschaft in der Al-Khansaa Brigade noch die militärische Unterstützung in Kampfgebieten bei Frauen nachweisen lassen, die Ideologie ist die gleiche Ideologie, die auch die Männer der Gruppe verfolgen – eine gewalttätige, radikale Ideologie, die von den Müttern an ihre Kinder weitergegeben werden kann und wird.

Da der IS auf keinen elterlichen Widerstand stieß, konnten sie die Kinder durch Geschenke, Geld und intensive Aufmerksamkeit an sich binden, einer „Gehirnwäsche“ unterziehen und mit einer gewalt-befürwortenden Ideologie indoktrinieren. Vor allem Kinder von IS-Kämpfern aus der westlichen Welt wurden gegenüber Gewalt desensibilisiert und in salafistischen Institutionen physisch sowie militärisch ausgebildet. Der IS sah und sieht in den sogenannten Löwenjungen des Kalifats die nächste Generation der stärkeren, besseren Kämpfer, die bei einer Rückkehr in den Westen den Jihad weiterführen können.

Radikalisierung im Gefängnis 

Im Irak wurden deswegen nicht nur Frauen, sondern auch Kinder zwischen neun und achtzehn Jahren, aufgrund ihrer Assoziation mit dem IS zu Haftstrafen verurteilt. Dies ist natürlich nicht der richtige Weg: Gefängnisse gelten als Brutstelle für Radikalisierungen, beziehungsweise intensivieren diese. Es ist auch verständlich, dass die inhumanen Zustände in Flüchtlingscamps nicht zur Deradikalisierung beitragen, sondern das Gegenteil bewirken. Die Bewohner der Camps wünschen sich die Rückkehr zum IS, da sie das Gefühl hatten, dort ein besseres Leben geführt zu haben.

Eine schnelle Rückkehr ist daher wichtig. Diese darf aber nicht unkontrolliert und ohne ein vollständiges und kind- und frauengerechtes Rehabilitations- und Reintegrationsprogramm geschehen. Die meisten Programme konzentrieren sich auf männliche Terroristen, da Männer weiterhin als Schlüsselfiguren in gewalttätigen Aktivitäten in Terrorgruppen sehen – ein fataler Fehler, da die Bedürfnisse und Erfolgsfaktoren pro Zielgruppe im Deradikalisierungsprozess variieren. Länder wie Großbritannien haben dies bereits begriffen und beginnen nun auch, sich auf Frauen zu fokussieren. Ein kindgerechtes Rehabilitations-und Reintegrationsprogramm gibt es jedoch noch nicht. Es ist also wichtig, über den Tellerrand des Terrorismus hinauszuschauen. Für die Erstellung eines kindgerechten Ansatzes lohnt es sich, sowohl praktische Herangehensweisen aus der Vergangenheit als auch Ansätze und Modelle näher zu betrachten. 

Nazi-Ideologie unter den Teppich gekehrt 

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es wichtig, dass die Kinder entnazifiziert worden, die Teil der Hitler Jugend (HJ) beziehungsweise dem Bund Deutscher Mädchen (BDM) waren. Die Mächte im Osten und Westen einigten sich jedoch bereits von Anfang an darauf, dass man die Minderjährigen nicht als Nazis, sondern als Opfer verstand, die nicht für die Straftaten ihrer Nation verantwortlich gemacht werden könnten.

Mit dieser Prämisse setzte man in der DDR hauptsächlich darauf, dass das Gefühl der Zugehörigkeit, entstanden in der HJ, im BDM oder im FDJ, fortgeführt wurde. Besonders am Anfang fanden die Zusammenkünfte der FDJ in einer entspannten Atmosphäre statt, in der man gemeinsame Aktivitäten unternahm und sich frei unterhalten konnte. Die vorhergehende Ideologie wurde „einfach“ durch eine andere, kommunistische Ideologie ersetzt und vorhergehende Mitgliedschaften im Nazi-Regime wurden wissentlich unter den Teppich gekehrt – wobei hier die Wirksamkeit fragwürdig ist, da keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfand. 

Lehren aus dem Dritten Reich 

In der Bundesrepublik konzentrierten sich die Alliierten vor allem auf eine Umerziehung der Minderjährigen durch fundierten Unterricht. Weil der Fokus des faschistischen Regimes auf physischer anstatt auf mentaler Ausbildung lag, hatten die jungen Deutschen extreme Wissenslücken, die mit nationalsozialistischer Propaganda gefüllt war. Das Schulsystem musste daher erneuert, wenn nicht sogar komplett neu aufgebaut werden – ein Prozess, der Zeit brauchte und daher anfänglich den Anschein erweckte nicht zu fruchten.

Auch aus dem Umgang mit ehemaligen Kindersoldaten können Lehren gezogen werden. Während es für sie unterschiedliche Rehabilitationsprogramme gibt, sollten vor allem zwei Schlüsselfaktoren hervorgehoben werden: Erstens ist die therapeutische Behandlung von Post-Traumatischen Belastungsstörungen wichtig, die anfangs noch in Pflegecentern stattfindet. Daraufhin können, als zweiter Schlüsselfaktor, die Minderjährigen mit ihrer Familie beziehungsweise Gemeinde vereinigt werden. Letzteres kann jedoch erst nach intensiver Vorbereitung der Familien beziehungsweise Gemeinden geschehen, da diese die Kindersoldaten für ihre militärischen Taten oder sexuellen Dienste oft verurteilen und verbannen. Die Akzeptanz, dass die ehemaligen Kindersoldaten keine Täter sind, sondern Opfer von totalitären und radikalen Mächten wurden, ist hierbei zentral. 

Vertrauen schaffen mit Geschenken

Die Annahme, dass es sich bei Kindern um Opfer statt um Täter handelt, ist auch im theoretischen Konzept für Jugendstraftäter Child First, Offender Second (CFOS) essentiell. Hier sollen Kinder die Verantwortung über ihren Rehabilitations- und Reintegrationsprozesses übernehmen, um ihre eigene Handlungsfähigkeit in den Vordergrund zu stellen. Das Kind wird als Kind verstanden, und ihm stehen dieselben Rechte zu wie anderen Kindern. Dem Minderjährigen werden in diesem Programm gemäß der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nation seine Rechte zuteil.

Insbesondere geht es dabei um das Recht auf Bildung sowie Ruhe, Freizeit und Spiel – etwas, was in den Flüchtlingscamps kaum gewährt werden kann, weshalb eine schnelle Rückkehr notwendig ist. Erstes Vertrauen kann durch die Bereitstellung von Geschenken, Geld oder Essen gewonnen werden. Sowohl in den analysierten Fallstudien als auch von der Terrorgruppe selbst wurden (materielle) Anreize verwendet, um Kinder an sich zu binden und ihr Vertrauen zu gewinnen – ein wichtiger Faktor, weshalb jedem Kind eine eigene Vertrauensperson gewährt werden sollte.

Therapeuten als Begleiter 

Da die Minderjährigen beim IS sowohl Luftangriffe, Kriegsszenen als auch den Verlust von Familienmitgliedern erleben mussten, sollte die Vertrauensperson eine ausgebildete Kindertherapeut/in sein, die ein besonderes Training für PTBS vorher absolviert hat und das Kind während des gesamten Reintegrationsprozesses begleitet. In dieser Phase ist es zudem wichtig, dass Kinder sich in einer Bruder- oder Schwesternschaft widerfinden, in dem sie ihre Erfahrungen, Ängste und Wünsche offen mit Gleichaltrigen teilen können – natürlich fernab von radikalen Ideologien und anfangs auch von religiösen Ansichten.

Dies soll nicht bedeuten, dass die Minderjährigen ihre Religion hinter sich lassen sollten, allerdings ist es in dem anfänglichen Stadium der Reintegration wichtig, eine radikale Veränderung zu erreichen und sich erst einmal fernab von der Religion zu bewegen – vor allem, da westliche, nicht-muslimische Autoritäten von einer eigenen Definition des moderaten Islams absehen sollten.

Bildung als Mittel zur Reintegration 

Zudem kann in dieser Phase der erste familiäre Einfluss geübt werden, je nachdem, wie das Kind therapeutisch eingeschätzt wird und Fortschritte weg von der gewalttätigen Ideologie macht. Nach der Bildung von Vertrauen und der Trauma-Bewältigung ist schulische Bildung der nächste essentielle Faktor. Sie beginnt eher später im Prozess, da sich Ideologien und Wissen nicht über Nacht ändern. Zudem ist das Kind nach Absolvierung der ersten Phasen aufnahmefähiger und eher bereit, das westliche Feindbild hinter sich zu lassen.

Zuletzt ist es wichtig, dass das Kind wieder mit seiner Familie zusammengeführt und in die Gesellschaft integriert wird. Doch auch die Familie sowie die unmittelbare Umgebung des Kindes müssen auf diese Phase vollständig vorbereitet werden, denn Diskriminierung und rassistische Anfeindungen können das von der Terrorgruppe eingeprägte Feindbild des Westens bestätigen und somit eine Reintegration verhindern.

Trennung von der Mutter? 

Dieses Programm muss als dynamisch verstanden werden. Je nach Alter und Grad der Indoktrinierung muss die Länge und Intensität der einzelnen Phasen auf das Kind angepasst werden. Die Abspaltung von der Mutter ist – wenn es das Alter zulässt – sehr wichtig, dennoch muss diese Trennung so geschehen, dass das westliche Feindbild und der Hass nicht weiter geschürft werden. Jüngere Kinder, die noch familiären Schutz suchen, sollten zunächst mit Großeltern oder anderen Verwandten zusammengeführt werden, bis auch die Mutter Anzeichen zeigt, dass sie sich von der gewalttätigen Ideologie löst.

Solange man IS-Vätern nicht das Zusammenleben mit ihren Kindern anvertraut, sollte man dies auch nicht mit Müttern tun. Nur weil sie nicht unbedingt militärisch im Einsatz waren, heißt es nicht, dass sie weniger gefährlich sind und ihr Kind nicht indoktrinieren. Dennoch darf eine familiäre Trennung nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Nach erfolgreichem Abschluss von gender- und altersgerechten Reintegrations- und Deradikalisierungsprogrammen sollten Familien wieder zusammengebracht werden.

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