Viktor Orbán zum Ukrainekrieg - „Wir dürfen auf keinen Fall in diesen Konflikt hineinrutschen“

Im Interview spricht Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán über die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf sein Land, auf die Nato und die EU. Außerdem bewertet er das Verhältnis des Westens zu Russland und blickt auf die Regierungszeit Angela Merkels und deren Flüchtlingspolitik zurück.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán / picture alliance
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Zoltán Szalai ist Herausgeber des ungarischen Wochenmagazins Mandiner.

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Gergő Kereki ist Redakteur beim ungarischen Wochenmagazin Mandiner.

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Dieses Interview mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán erschien vor wenigen Tagen im regierungsnahen ungarischen Wochenmagazin „Mandiner“. Wir geben das Gespräch in einer leicht gekürzten Fassung wieder, um die Haltung des Regierungschefs des EU-Mitglieds Ungarn zu dokumentieren, das eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine hat und gleichzeitig wichtige Wirtschaftsbeziehungen insbesondere im Energiesektor mit Russland unterhält.

Herr Orbán, die Ukraine steht im Krieg mit Russland. Aus dem Sessel des ungarischen Ministerpräsidenten betrachtet: Wie sind wir an diesem Punkt angelangt?

Woraus der Krieg entstanden ist? Wir befinden uns im Kreuzfeuer großer geopolitischer Akteure, die Nato hat sich kontinuierlich Richtung Osten erweitert, und dies gefiel Russland immer weniger. Die Russen sind mit zwei Forderungen aufgetreten: Die Ukraine solle ihre Neutralität deklarieren, und die Nato, dass sie die Ukraine nicht aufnehmen wird. Diese Sicherheitsgarantien haben die Russen nicht erhalten, deshalb haben sie sich dafür entschieden, diese im Krieg zu erlangen. Dies ist die geopolitische Bedeutung dieses Krieges. Die Russen formen die Sicherheitslandkarte des Kontinents um. Ihre sicherheitspolitische Vorstellung ist die, dass Russland von einer neutralen Zone umgeben sein muss, damit sie sich in Sicherheit fühlen können. Die bisher als Zwischenzone angesehene Ukraine, bei der es ihnen nicht gelungen ist, sie mit diplomatischen Mitteln zu neutralisieren, wollen sie jetzt mit militärischer Kraft dazu machen. Zugleich muss Ungarn deutlich machen, dass der Krieg im Interesse keines einzigen Zieles akzeptabel ist, und wer diesen Weg wählt, den verurteilt Ungarn eindeutig.

Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat Russlands Außenminister Lawrow und die ukrainische Führung nach Budapest gerufen. Das Ziel ist, dass die Friedensverhandlungen beginnen können. Ist der Friede realistisch?

Er ist es. Die Russen fordern das gleiche wie bisher. Da die Überlegenheit der militärischen Kräfte auf der Seite der Russen ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Verhandlungen begannen. Ungarn ist auf der Seite des Friedens, unser Interesse ist es, von dem Krieg ausgenommen zu bleiben sowie dass die Parteien möglichst schnell zu einer Übereinkunft gelangen und es Frieden gibt; wir dürfen auf keinen Fall in diesen Konflikt hineinrutschen. Wir verurteilen den russischen Angriff, da sie einen Krieg gegen die Ukraine gestartet haben. Man muss sich so schnell wie möglich wieder an den Verhandlungstisch setzen, deshalb haben wir angeboten, dass die Friedensverhandlungen in Budapest beginnen sollen. Doch das Wesentliche ist, dass sie beginnen. Jetzt müsste ganz Europa am Frieden arbeiten.

Seit Ihrer Wahl standen Sie in einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis zu Putin. Als was für einen Menschen, als was für einen Verhandlungspartner haben Sie den russischen Präsidenten kennengelernt?

In Vorbereitung auf den Wahlsieg hatte ich bereits 2009 den Kontakt mit Präsident Putin und den führenden chinesischen Politikern aufgenommen. Ich dachte mir, wenn wir an die Regierung kommen, müssen wir jenen weltpolitischen Realitäten ins Auge blicken, die nach der Finanzkrise von 2008 eingetreten sind. Ich hatte damit gerechnet, dass die Finanzkrise die westliche Welt, am meisten die Europäische Union, erschüttern würde, die Chinesen jedoch nicht, so dass sich auf diese Weise der Prozess beschleunigt, in dessen Verlauf China die führende Rolle in der Weltwirtschaft übernimmt. Auf diese neue Weltordnung muss sich Ungarn vorbereiten. Nach dem Wahlsieg 2010 konnten wir bereits aus einer partnerschaftlichen Beziehung heraus die Verhandlungen zwischen den jeweiligen Regierungen mit den Chinesen und den Russen aufnehmen. Und was den russischen Präsidenten angeht: Worüber ich bisher mit ihm übereingekommen bin, das hat er immer eingehalten, und wir haben es ebenso getan. Die ungarisch-russischen Beziehungen waren bis in die allerletzte Zeit ein ausgewogenes, korrektes System von Beziehungen.

Die EU hat Sanktionen gegen Russland verhängt. Für diese hat auch Ungarn gestimmt. Wie werden die ungarisch-russischen bilateralen Beziehungen durch die russische Invasion beeinflusst? Werden die Ereignisse eine Auswirkung auf das Genehmigungsverfahren der Investition in das Kernkraftwerk von Paks 2 und auf den langfristig mit den Russen abgeschlossenen Gasvertrag haben?

Mit dem Auslösen des Krieges ist auch für Ungarn eine neue Situation entstanden. In dieser neuen Situation müssen die Ziele Ungarns und die ungarischen Interessen erneut festgelegt werden. Was die Sanktionen angeht, haben wir kein Veto eingelegt, wir hindern die EU nicht daran, Sanktionen gegenüber Russland anzuwenden. Jetzt ist die Einheit der EU am wichtigsten. Was die bilateralen Beziehungen nach dem Krieg angeht, so ist eines sicher, Russland wird auch nach dem Krieg existieren. Ungarn und die Europäische Union werden auch nach dem Krieg Interessen haben. Keinerlei Argument spricht dafür, dass wir unsere energiepolitische Zusammenarbeit mit den Russen einstellen sollten. Auch die führenden Politiker der EU haben klargestellt, dass die Sanktionen nicht die aus Russland kommenden Gaslieferungen berühren werden, denn dies würde die europäische Wirtschaft ruinieren. Auch mit der Investition in Paks ist dies die Situation. Wenn es kein Paks gibt, dann muss noch mehr russisches Gas und noch teurer gekauft werden. Wenn wir die Energie-Zusammenarbeit mit den Russen beenden würden, würden die Nebenkosten aller ungarischer Familien im Laufe eines einzigen Monats auf das Dreifache anwachsen. Diesen Schritt unterstütze ich aus diesem Grund nicht; nicht die ungarischen Familien sollen den Preis des Krieges zahlen.

Der Ministerpräsidentschaftskandidat der ungarischen Linken hat bereits zur Sprache gebracht, er würde auch, falls nötig, ungarische Soldaten und Waffen in die Ukraine schicken. Was ist Ihre Meinung dazu?

Die internationale Politik ist ein schwieriges Genre. Ich übe dieses Metier seit mehr als 30 Jahren aus, dies ist mein dritter Krieg. Der dritte Krieg, der unter meiner Regierung in unserer Nachbarschaft geführt wird. 1999, einen Tag nach unserem Beitritt, hat die Nato in den Kosovokrieg eingegriffen. 2014 die Krimkrise, und jetzt kommt mir der zweite ukrainisch-russische Krieg entgegen. Der Vorteil von Regierungserfahrung ist, dass ich weiß, was strategische Ruhe bedeutet: wenig reden, wenn, dann aber genau, verantwortungsbewusst. In solchen Momenten ist es nicht zulässig, dass sich die Gesichtspunkte des Wahlkampfes vor die nationalen Interessen schieben. Selbst mit einem einzigen falschen Satz kann man Probleme verursachen. In einer Kriegssituation ist das Reden schon ein halbes Handeln. Die Opposition will Waffen schicken, mit denen dann auf die Russen geschossen wird, oder Soldaten, die dann gegen die Russen kämpfen werden. Dies beweist, dass sie keine Routine, kein Wissen besitzen, und es mangelt ihnen an Verantwortungsbewusstsein. Mit ihren verantwortungslosen Äußerungen gießen sie nur Öl ins Feuer, und das ist den Interessen Ungarns entgegengesetzt. Statt einer Abenteurerpolitik sind verantwortungsvolle Politik, Sicherheit und Stabilität notwendig.

Womit helfen wir der Ukraine?

Wir helfen den Ukrainern gerne bei den Verhandlungen mit den Russen. Wir bieten selbst noch einen Ort für die Friedensverhandlungen. Darüber hinaus leisten wir den Ukrainern humanitäre Hilfe: Wir transportieren Benzin, Gasöl, Lebensmittel, Artikel der Grundversorgung dahin. Und drittens nehmen wir jeden auf, der aus der Ukraine kommt.

In den 1990er Jahren schien es so, als ob die Vereinigten Staaten die einzige Weltmacht bleiben würden, die über einen tatsächlich globalen Einfluss verfügt, und es ihnen gelingen würde, Russland und China in die durch sie angeführte Weltordnung zu integrieren. Wie sehen Sie es angesichts der Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte: Hat es noch einen Sinn, über die monopolare, durch die Amerikaner dominierte Weltordnung zu sprechen? Wie bewerten Sie die bisherige Bilanz des amerikanisch-chinesischen Wettbewerbs?

Es erfolgt ein Positionswechsel an der Spitze der Welt. Aufgrund des heutigen Standes der Dinge wird bald China die stärkste Wirtschafts- und Militärmacht der Erde sein. Amerika ist dabei, zurückgedrängt zu werden, während China immer stärker wird. Ungarn mit seinen zehn Millionen Einwohnern muss in so einem Zeitraum geschickt manövrieren. Wir sind im Bündnis mit dem Westen, doch möchten wir auch mit der im Aufstieg begriffenen neuen Großmacht ein vorteilhaftes Verhältnis etablieren. Dies ist eine komplizierte, die Grenzen der Kunst streifende Aufgabe für die Macher der Politik.

Wie wird diese Veränderung die Frage der Souveränität betreffen?

Wir wissen bereits, wie die Welt ist, wenn es die angelsächsische Dominanz gibt. Doch wissen wir noch nicht, wie die Welt sein wird, wenn es eine chinesische Dominanz geben wird. Eines ist sicher: Die Angelsachsen beanspruchen, dass die Welt ihren Standpunkt als moralisch richtig anerkenne. Für sie reicht es nicht, die Realität der Macht zu akzeptieren, sie brauchen es, dass man auch das akzeptierst, was sie für richtig halten. Die Chinesen haben keinen solchen Anspruch. Das wird auf jeden Fall eine große Veränderung in den kommenden Jahrzehnten.

Wir haben die deutschen Bundestagswahlen hinter uns, Angela Merkel verlässt die Bühne der deutschen und der europäischen Politik. Was denken Sie über die Bilanz der vergangenen 16 Jahre der Bundeskanzlerin?

Zunächst einmal sollten wir feststellen, es ist nie eine leichte Aufgabe, deutscher Bundeskanzler zu sein. Deutschland befindet sich in einem unnatürlichen Zustand, denn seine verschiedenen Körperteile entwickeln sich in einem Missverhältnis: Es besitzt einen riesigen Bizeps in der Wirtschaft, eine gut ausgebildete Muskulatur in der Kultur, aber schmale Waden in der Sicherheitspolitik, denn es verfügt über keine nennenswerte militärische Kraft, und es kann auch wegen des Zweiten Weltkriegs nicht mit der Ambition auftreten, welche haben zu wollen. Es lohnt sich also nicht, von Deutschland etwas zu erwarten, das es in seiner objektiven Lage nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erfüllen kann. Die Beurteilung von Bundeskanzlerin Merkel wird in großem Maße dadurch beeinflusst werden, was hiernach in Deutschland folgen wird. Die Frage ist nämlich: Im Vergleich wozu war die Ära Merkel gut oder schlecht? Im Vergleich zu dem, was wir uns gewünscht hätten, war sie nicht allzu erfreulich, doch im Vergleich zu dem, was jetzt mit der neuen linken deutschen Regierung folgen könnte, kann ihre Bilanz noch recht gut sein. Doch war sie es ja, die die Migranten hereingelassen hat, sie war es, die jenen Eckpfeiler der deutschen Familienpolitik aufgegeben hat, der das traditionelle Familienmodell verteidigte, aber sie war es auch, die Deutschland auf eine energetische Bahn geleitet hat, über die man nicht wissen kann, ob sie lebensfähig sein wird. Das sind drei wichtige strategische Fragen. Es ist die historische Entwicklung, dass Deutschland nun in der Militär- und Sicherheitspolitik einen Paradigmenwechsel angekündigt hat. Sie haben sich entschieden: Deutschlands Wiederbewaffnung beginnt. Auch dies schafft eine neue Lage in Europa.

Als was für einen Menschen haben Sie Merkel kennengelernt?

Ich respektiere Sie, ich habe gerne mit ihr zusammengearbeitet. Auch dann noch, als es im Herbst 2015 zum Bruch zwischen uns kam. Dies belastet bis auf den heutigen Tag die deutsch-ungarischen Beziehungen und trägt stark dazu bei, dass wir auch in Brüssel unter Attacke stehen. Der Grund für den Bruch war unsere Migrationspolitik. Die Bundeskanzlerin hat mich eindeutig dazu aufgefordert, jene Migrationspolitik aufzugeben, die sich davor verschließt, die Migranten hereinzulassen, und ich sollte nicht die gemeinsame europäische Migrationspolitik blockieren, die die Migranten unter den Mitgliedstaaten verteilen würde. Ich habe diese Forderung zurückgewiesen, dabei erinnert man sich daran, wie es ist, einen deutschen Stiefel auf der Brust zu haben. Es ist besser, so etwas zu vermeiden. Im Zusammenhang mit der Migration konnte man nichts anderes tun, als „Nein“ zu sagen. Obwohl ich wusste, dass wir deshalb über Jahre hinweg schwerwiegenden Angriffen ausgesetzt sein würden. Da sie ganz Europa zu einem Einwanderungskontinent machen wollen und Ungarn der Stock zwischen den Speichen ist, deshalb wollen sie die gegenwärtige ungarische Regierung beseitigen. Auch bei den ungarischen Wahlen im April dieses Jahres unternehmen die Brüsseler alles für den Erfolg der ungarischen Linken. Am 3. April müssen wir auch zu diesen Brüsseler Einmischungsversuchen „Nein“ sagen.

Der Ausgang der deutschen Wahlen ist bekannt: Die Linken, die Grünen und die Liberalen haben die Regierung gebildet. Wie können die Entwicklungen die deutsch-ungarischen bilateralen Beziehungen beeinflussen?

Das Programm der neuen deutschen Regierung lesend, gibt es bei uns viele Fragezeichen. Sie haben Deutschland zu einem Einwanderungsland erklärt, sie leugnen die Einteilung der Gesellschaft in ausschließlich Männer und Frauen, sie würden die leichten Drogen legalisieren, den Begriff der Nation aushöhlen, sie wollen ein föderatives Europa. Man weiß nicht, ob sie dieses Programm tatsächlich durchführen, wie auch nicht, ob sie dieses Programm auf ganz Europa auszuweiten versuchen. Wir möchten mit ihnen ein Toleranzabkommen im Interesse dessen schließen, damit wir unseren eigenen Weg in diesen Fragen beschreiten können. Sie müssen nicht so sein, wie wir es sind, aber wir sollten nicht so werden müssen, wie sie es sind.

In der konservativen Tageszeitung Die Welt hat man bereits vor den Wahlen gewarnt: Mit dem Weggang von Angela Merkel könnten die südlichen Mitgliedsstaaten alle Schranken vor der Verschuldung der EU beseitigen. Was kann der Weggang von Merkel für Europa mit sich bringen? Besteht tatsächlich die Gefahr der Verschuldung der EU?

Die Staatsverschuldung einiger europäischer Länder übersteigt im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt bei weitem die 100 Prozent. Wir sehen keine Wirtschaftspolitik, mit deren Hilfe man so hohe Schulden verschwinden lassen oder auf der Ebene der Mitgliedstaaten langfristig ertragbar machen könnte. Eine Idee der verschuldeten Staaten ist es, ihre Staatsverschuldung auf europäischer Ebene zu vergemeinschaften. Merkel hat dies immer zurückgewiesen, den Standpunkt der neuen deutschen Regierung kennen wir vorerst nicht. Es ist kein gutes Vorzeichen, dass der Präsident der deutschen Bundesbank sein Amt niedergelegt hat, denn auch er stimmte in der Frage der Verschuldung mit Merkel überein. Aufgrund unserer historischen Erfahrungen ist die Furcht begründet, dass die europäische Linke die EU in eine Schuldenfalle führen würde. Wie es auch schon Margaret Thatcher gesagt hat: Das Problem mit den Sozialisten ist, dass ihnen früher oder später das Geld der anderen ausgeht. Doch haben wir auch ein anderes Problem: Mit dem Ausbruch des russisch-ukrainischen Krieges ist es eindeutig geworden, dass die europäische Militär- und Sicherheitspolitik auf eine neue Grundlage gesetzt werden muss. Europa benötigt eine eigene Armee, eine ernsthafte militärische Industrie. Wir können uns nicht ausschließlich auf die Amerikaner stützen. Diese Herausforderung bedeutet viel größere militärische Ausgaben. Das heißt, während wir versuchen, das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu senken, müssen wir auf dem Gebiet der Militärpolitik eine Ausnahme machen. Wir müssen viel Geld für die Rüstungsindustrie aufwenden, wir müssen die ausgebliebenen Investitionen der vergangenen Jahrzehnte nachholen. Der ungarische Standpunkt unterstützt die strenge Haushaltspolitik, wir brauchen die Maastricht-Kriterien, doch sollten wir die sicherheitspolitischen Ausgaben nicht zu dem gemeinsam beschlossenen Maß des Haushaltsdefizits hinzurechnen.

In welchem Verhältnis stünde die Armee der Europäischen Union zur Nato, zu den Heeren der Mitgliedstaaten, wer würde sie finanzieren, und wer würde sie leiten?

Die Nato ist ein großer Wert, man muss sie beibehalten, außerhalb von ihr hat es keinen Sinn, eine Armee aufzubauen. Zugleich sind der europäische und der amerikanische Flügel des Bündnisses nicht im Gleichgewicht miteinander. Die Amerikaner legen viel mehr hinein als wir. Dies muss geändert werden, man muss erreichen, dass wir in der Lage sind, das amerikanische Bündnis aufrechterhaltend die Sicherheit Europas auch aus eigener Kraft zu garantieren. Heute besteht unter den führenden europäischen Politikern hierzu kein politischer Wille, sie wollen nicht einen Teil ihrer Wirtschaftskraft für militärische Ausgaben aufwenden. Sehen wir es ein, es war in den vergangenen drei, vier Jahrzehnten eine bequeme Sache, im Vergleich zu den Amerikanern viel weniger für die Sicherheit auszugeben, denn so blieb ja für andere Ziele mehr Geld. Das war die europäische Strategie. Und die amerikanische Strategie baute darauf auf, dass, wenn man seine Militärpolitik gut organisiert, die militärischen Investitionen und Entwicklungen eine wirtschaftliche Entwicklung zum Ergebnis haben; sie können in die zivile Wirtschaft hinübergelangen, wenn ein Kreislauf zwischen der Rüstungsindustrie und anderen Segmenten der Wirtschaft entsteht. Das bedeutet dann letztendlich einen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt für alle. In Amerika funktioniert das gut, dort werden längerfristig auch aus den militärischen Ausgaben eher wirtschaftliche Ausgaben und nicht bloß militärpolitische. Bedenken Sie nur, das Handy, das GPS und das Internet sind auch militärische Entwicklungen und bringen auch in der Zivilwirtschaft einen ernsthaften Nutzen. Europa ist ein technologisch entwickelter Kontinent; wenn es eine gemeinsame europäische Konzeption der Verteidigungsindustrie gäbe, könnten auch wir diesen Kreislaufeffekt hervorbringen. Ungarn würde gerne an so einer Initiative teilnehmen. Ich habe mit Frankreichs Präsident Macron und anderen führenden mitteleuropäischen Politikern bereits über die Frage Unterredungen geführt; soweit ich das sehe, könnte eine französisch-mitteleuropäische militärpolitische Kooperation entstehen. Der russisch-ukrainische Krieg könnte die Betroffenen noch mehr in diese Richtung drängen.

Welche Auswirkungen kann der russisch-ukrainische Krieg auf die Zusammenarbeit der vier Visegrád-Länder haben? Treibt die Russlandfrage die Visegráder auseinander?

Die Zusammenarbeit der V4 haben wir bisher von den militärpolitischen Themen getrennt, da wir wussten, es gibt Meinungsunterschiede zwischen uns. Jetzt, da die Russen die Ukraine angegriffen haben, können wir dieses Thema nicht mehr fernhalten, denn dies ist die wichtigste Frage. Wir wollen die Russen von uns fernhalten, doch gibt es bedeutende taktische Unterschiede zwischen uns. Die Polen wollen die Grenze der westlichen Welt bis an die Grenze der russischen Welt hochschieben. Sie fühlen sich dann in Sicherheit, wenn dies umgesetzt wird, und die Nato – auch Polen mit inbegriffen – in der Lage ist, eine entsprechende Streitmacht auf der westlichen Seite dieser Grenzlinie aufmarschieren zu lassen. Auch deshalb unterstützen sie vehement die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Das Wesentliche des ungarischen taktischen Denkens ist aber, dass es zwischen den Russen und den Ungarn ein ausreichend breites und tiefes Gebiet geben soll. Heute heißt dieses Gebiet Ukraine. Dieser geopolitische Unterschied ist dann nicht wichtig, wenn man sich mit Brüssel in der Angelegenheit der Nebenkosten auseinandersetzen oder in der Genderfrage kämpfen oder sich gerade gegen die Migration schützen muss, jetzt aber hat die Bedeutung dessen zugenommen, denn es gibt Krieg. Das Wesentliche ist, dass auch die Polen wissen, sie können auf die Ungarn zählen, und wir wissen, dass wir auf die Polen zählen können.

Sie sprechen oft über den Aufstieg der V4. Worin sehen Sie die Spuren der Stärkung?

In den Tatsachen. Als wir zu Beginn begannen, die Zusammenarbeit der V4 zu intensivieren, war unser Handelsverkehr mit Deutschland durchschnittlich. Dann kam der Moment, in dem der Handelsverkehr der V4 mit den Deutschen das deutsch-französische Niveau erreichte, später sind wir an den Punkt angekommen, dass der Handelsumfang zwischen den V4 und den Deutschen bereits doppelt so groß wurde wie der deutsch-französische, und jetzt befinden wir uns schon darüber. Ich sehe, wie sich die Wirtschaftskraft der V4 aufbaut. Heute geht es nicht mehr nur darum, dass die mitteleuropäischen Wirtschaften nicht ohne die deutsche Wirtschaft funktionieren können, sondern auch darum, dass die deutsche Wirtschaft nicht ohne Mitteleuropa funktioniert. Das hat ein vollkommen neues Verhältnis zum Ergebnis: Es ermöglicht ausgeglichenere Beziehungen.

Ungarn ist ein großer Unterstützer der euroatlantischen Integration des Balkan. Was ist die Realität dieser Politik?

In Westeuropa ist der Gedanke stark, der am liebsten die bisherigen Erweiterungen ungeschehen machen würde. Sie deuten gerne die Schwächung der westeuropäischen Mittelklasse, die Verschuldung, die Tatsache der wirtschaftlichen Wettbewerbsunfähigkeit als etwas, das wir, Mitteleuropäer, über sie gebracht hätten, indem sie die EU erweitert haben. So ziehen sich viele vor jeder weiteren Erweiterung instinktiv zurück, denn sie sind der Ansicht, diese würde ihre Lage weiter erschweren. Dies nennen sie natürlich elegant nur „fatigue“, „Erweiterungsmüdigkeit“, so muss man nicht zugeben, dass ihre Position moralisch nur schwer aufrechtzuerhalten ist und sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen.

Warum ist für unser Land die EU-Mitgliedschaft von Serbien und Mazedonien so wichtig?

Sie ist sowohl aus sicherheitspolitischen Gründen als auch aus jenen des Handels wichtig. Der russisch-ukrainische Krieg macht es evident, dass kein Schwarzes Loch in der Sicherheit, kein Vakuum auf dem Balkan bleiben darf. Wir argumentieren bereits seit langem damit, dass es zwischen Griechenland und Ungarn kein Gebiet geben darf, das im geopolitischen Sinn verwahrlost, außerhalb der Europäischen Union, und Spielplatz der amerikanischen, europäischen, russischen und türkischen Interessen ist. Der jetzige Krieg bestärkt diese Argumentation nur. Hinzu kommt noch, dass es bereits Nato-Mitgliedstaaten in der Balkanregion gibt. Es ist an der Zeit, dass die Europäische Union zur Nato aufschließt, wir müssen diese gesamte Region in die westliche Welt integrieren, sowohl im militärpolitischen als auch im wirtschaftlichen Sinn. Der Beitritt des Balkans ist auch unser Handelsinteresse, die Region könnte für uns ein wirtschaftliches Hinterland sein, wir könnten miteinander finanziell auch Vorteile haben.

Das Gespräch führten Zoltán Szalai und Gergő Kereki.

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