INF-Vertrag - Deutschland in der Falle

US-Präsident Donald Trump wirft Russland vor, erneut die eigenen Nuklaerwaffenarsenale auszubauen und droht mit einer Kündigung des INF-Vertrages. Vor allem in Deutschland sollten die nationalstrategischen Alarmglocken läuten

Moderne strategische russische Atomrakete vom Typ Topol-M / picture alliance
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Autoreninfo

Rolf Bergmeier studierte Alte Geschichte und Philosophie an der Gutenberg-Universität in Mainz. Er ist ehemaliger Oberst im Generalstab der deutschen Bundeswehr.

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Der letzte deutsche Politiker, der sich zu militärstrategischen Fragen kompetent äußerte, war Helmut Schmidt. Seither ist in Deutschland die sicherheitspolitische Diskussion in kurzatmigen ad hoc-Entscheidungen geronnen. Das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium begnügen sich mit einem Verweis auf das „Bündnis“ und die wenigen deutschen Institute, die sich an nuklearstrategischen Diskussionen beteiligen. So bleiben sie hinter den Expertisen amerikanischer (Rand-Corporation) oder britischer (Internationale Institut für strategische Studien) Denkfabriken zurück. Ohne das nuklearstrategische Problemfeld wirklich durchdringen zu können, verlieren sie sich in Worthülsen der Friedens- und Konfliktforschung.

 

Apokalypse: Der nukleare Ersteinsatz

Dabei ist die Frage, ob Russland seine nuklearen Fähigkeiten ausbaut und die USA im Gegenzug aus dem INF-Vertrag ausscheidet, von hoher national-strategischer Bedeutung. Das Abkommen aus dem Jahr 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion untersagt den Bau und Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Solche nuklearen Mittelstreckenwaffen erlauben einen regional begrenzten Einsatz dieser Waffen. Ohne den INF-Vertrag wäre die Bundesrepublik aufgrund des in der Nato-Militärstrategie verankerten Ersteinsatz von Nuklearwaffen bei einem Konflikt zwischen der Nato und Russland dem bedrohlichen Szenario einer auf Mitteleuropa begrenzten, nuklearen Kriegführung ausgesetzt.

Dennoch hat Deutschland diese Option des „Ersteinsatzes“ seit jeher unterstützt und in der Öffentlichkeit als „friedenssichernd“ verteidigt, mit der Begründung, die Drohung mit einem nuklearen Ersteinsatz würde den Gegner zur Vorsicht mahnen und von Angriffshandlungen abschrecken. Bei Versagen der Abschreckung erlaube der kontrollierte Einsatz von Nuklearwaffen, einen Krieg zu erträglichen Konditionen zu beenden. Über andere Optionen des Gegners, beispielsweise eines ebenengerechten Zweitschlages gegen die Anlandungshäfen Hamburg und Antwerpen, wurde ebenso wenig öffentlich gesprochen, wie über ein Versagen der Abschreckungsoption. Dem Gegner wurde einfach ein kooperatives Verhalten unterstellt und die Öffentlichkeit mit Hilfe einer angelsächsisch orientierten Terminologie ruhig gestellt. 

„Taktische“ Nuklearwaffen

Um die Abschreckung zu vervollkommnen, so die Argumentation, seien Mittelstreckenwaffen (land/luft/seegestützte Raketen, Cruise Missiles) erforderlich, sowie nukleare Gefechtsfeldwaffen (Artillerie, Atomminen). So würde das Unterlaufen der strategischen Ebene verhindert und auf allen Ebenen eine abgestufte Reaktion (Flexible Response) ermöglicht.  Diese Idee wurde politisch als kriegsverhinderndes „Kontinuum der Abschreckung“ verkauft und militärisch als Mittel der „Schadensbegrenzung“, da der frühzeitige Einsatz von Nuklearwaffen dem Gegner „ein starkes Signal“ sende und zum Kriegsabbruch veranlassen könne. Diese Vision im Stile eines Glaubensbekenntnisses wurde in Eskalationsstufen (Hermann Kahn) zerlegt, in nuklearen Zielplanungen und Bevorratungen realisiert und in Übungen umgesetzt.

Damit wurde die rational nachvollziehbare und moralisch zu rechtfertigende Strategie einer strategischen und operativen „Zweitschlagsfähigkeit“ mit dem Ziel, den Einsatz von Nuklearwaffen gänzlich zu verhindern (denn: auch „wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“), durch die Option eines erstmaligen Einsatzes von Nuklearwaffen („First use“) ergänzt. So wurde eine auf Mitteleuropa begrenzte nukleare Kriegführung möglich, ohne dass die nuklearen Großmächte berührt werden. Nur Traumtänzer glaubten und glauben daran, die USA würden New York für Hildesheim opfern. Denn zwischen den USA und Europa liegen 10.000 Kilometer Atlantik und aus Sicht der USA und Russlands ist eine auf Europa begrenzte nukleare Kriegführung dem nuklearen Selbstmord vorzuziehen. Man muss nicht an Trumps „America first“ denken, um sich von dieser Logik überzeugen zu lassen. 

„worst-case“-Szenario

Man sollte annehmen, dass Deutschland als potentielles Zentrum einer Auseinandersetzung zwischen Nato und Warschauer Pakt diesem Konzept heftig widersprochen hätte. Aber weit gefehlt. Das  Konzept wurde mit deutscher Gründlichkeit in die Praxis umgesetzt. Der „Ersteinsatz“ von Nuklearwaffen wurde mit „friedenssichernden“ Worthülsen umkleidet. Auf ein deutsches Vetorecht wurde verzichtet und es wurden nukleare Artilleriegeschosse entwickelt, die es ermöglichten, einen Gegner  in etwa 18 Kilometer Entfernung nuklear zu bekämpfen. Das entspricht in etwa der Entfernung von Berlin-Wilmerdorf bis Berlin-Köpenick. Die Bundeswehr begann, den Einsatz von Atomminen (Atomic Demolition Munition) mit einer Sprengkraft von 1 bis 15 Kilotonnen vorzubereiten, indem sie entlang der damaligen Zonengrenze in vielen Straßen Sprengschächte anlegte. Im Notfall sollten Fallschirmspringer dieses wenige Kilometer breite „Fulda gap“ mit kleinen Atomsprengköpfen, sogenannten „Rucksack-Nukes“ verschließen.  

Die Militärs überzeugten die Politiker, von einem „worst case“ auszugehen, dem schlimmsten aller denkbaren Fälle. An dieser Annahme krankte die gesamte Nato-Militärstrategie. Abgesehen von der Unterstellung, dass Moskau bereit sei, einen Dritten Weltkrieg zu beginnen, war die Annahme eines „worst case“ logisch und politisch angreifbar. Denn den militärischen Planungen wurde nicht das wahrscheinlichste Szenario zugrunde gelegt, sondern das unwahrscheinlichste: Die Auslösung eines Dritten Weltkrieges „aus dem Stand“ heraus, ohne vorhergehende politische Verwicklungen, ohne Abzug des diplomatischen Korps, ohne Bevorratungen und ohne psychologische Vorbereitung der eigenen Bevölkerung und der Satellitenstaaten, die in mehreren Aufständen ihre Unzuverlässigkeit gezeigt hatten. Dieses „worst case“-Szenario führte zu einer geradezu destruktiven Haltung der Militärs, die den Streitkräften des Warschauer Paktes unterstellten, Mitteleuropa innerhalb von 48 Stunden überrennen zu können. 

Verkorkste Sicherheitspolitik

Es war die Geburtsstunde der nuklearen Gefechtsfeldwaffen. Kleine und kleinste Nuklearwaffen wurden in die Operationspläne integriert. Das bedeutende personelle, industrielle und wirtschaftliche Übergewicht des Westens wurde nicht ins Kalkül gezogen, da dieses Potential nicht sofort zur Verfügung stand. Gekaderte Divisionen spielten praktisch keine Rolle, sodass die deutschen Militärs das Potential von rund 700.000 Reservisten nicht in Form weiterer zwölf Divisionen für die „Vorneverteidigung“ einplanten. Damit beraubte sich Deutschland der Möglichkeit, sein Gewicht in der Nato zu stärken und seine Mitsprachemöglichkeit bei Fragen des nuklearen Ersteinsatzes  zu verbessern.

Statt also durch eine bessere Nutzung des vorhandenen Potenzials auf den Einsatz von Nuklearwaffen zu verzichten und der Verteidigung Mitteleuropas eine sinnvolle Dimension zurückzugeben, wurde jeglicher Verteidigung der argumentative Boden unter den Füßen fortgezogen. Am Ende verloren weite Teile der Öffentlichkeit das ohnehin nach dem 2. Weltkrieg gesunkene Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit und folgten der Parole „lieber rot als tot“. Es war ein psychologisches und politisches Desaster. Ein militärisches dazu, weil das irreale „worst case“-Szenario den nuklearen Ersteinsatz geradezu erzwang und damit das Ziel allen militärischen Handelns gefährdete, die Bundesrepublik in Freiheit zu erhalten. 

Mit Michael Gorbatschow und der Auflösung des Warschauer Paktes kam Bewegung in diese unselige Angelegenheit. Das Konzept der Verteidigung mit „taktischen“ Nuklearwaffen wurde – auch angesichts der Gefahr, dass die kleinen „Rucksack“-Nuklearwaffen in falsche Hände geraten könnten – in Frage gesellt und 1987 durch den Verzicht auf landgestützte Waffen mittlerer Reichweite in Gestalt des INF-Vertrages modifiziert. Somit blieben unterhalb der strategischen Ebene nur noch luft/seegestützte nukleare Einsatzmittel für „taktische“ Operationen übrig. Damit war zwar die Irrationalität der Nato-Militärstrategie nicht völlig beseitigt, aber man befand sich auf einem auch politisch und logisch überzeugenden Weg. 

Deutschland im Brennpunkt

Mit Russlands Aufrüstung und Donald Trumps überraschendem Vorstoß in Sachen Mittelstrecken-Nuklerwaffen droht nun die alte Irrationalität wieder aufzuleben: Nuklearwaffen bekommen als „taktische“ Kriegswaffen erneut ein militärisch nutzbares Gewicht. Was soll Deutschland tun, das Land von Clausewitz, das in einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Nato und Russland im Zentrum der militärischen Handlungen läge? Müsste Deutschland nicht dafür eintreten, Nuklearwaffen nicht als Kriegsmittel, sondern nur zur Abschreckung eines eventuellen gegnerischen Nuklearwaffeneinsatzes zu verstehen? Müsste Deutschland nicht mit einem beachtenswerten konventionellen militärischen Beitrag glänzen, um einerseits die nukleare Schwelle zu heben und andererseits sich eine Mitsprache-Option in den nuklearen Planungen der USA für den Einsatz „taktischer“ Nuklearwaffen in Mitteleuropa zu sichern? Müsste Deutschland nicht mit den USA und Russland trotz aller Unterschiede ein auskömmliches Verhältnis zu finden suchen und auch aus strategischen Gründen vermeiden, zwischen allen Stühlen zu sitzen?

Aber die Kanzlerin schweigt und tritt als Meinungsführerin für Sanktionen gegen Russland ein. Sie lehnt mehr oder weniger offen den amerikanischen Präsidenten ab, gefährdet das bisherige gute Einvernehmen mit den USA und verordnet der Bundeswehr eine von jeglichem militärstrategischem Denken unbelastete Ärztin als Ministerin. Ein links-grüner Kindergarten mit visionären Ideologien und infantiler Lust an der Wirklichkeitsverdrängung verneint den Ernstfall, findet Gefallen an einer ruinierten Bundeswehr und merkt nicht, dass ihre selige Verantwortungslosigkeit die Bundesrepublik zum Spielball mächtiger Kräfte macht. So verliert man die Macht zum Mitgestalten. So stümpert die deutsche Politik durch die Weltpolitik. Nicht nur in Fragen der Sicherheitspolitik.
 

 

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