Idlib - Behauptung, Reaktion, Eskalation

Russlands Präsident Putin und der türkische Präsident Erdogan haben sich auf eine demilitarisierte Zone in der syrischen Provinz Idlib geeinigt. Doch die Rebellenhochburg bleibt ein Spielball der Mächtigen. Ein Einsatz der Bundeswehr könnte ein Brandbeschleuniger sein

Bombardements auf Idlib: Die letzte Hochburg der Rebellen ist zum Spielball der Großmächte geworden / picture alliance
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Autoreninfo

Michael Lüders ist einer der profiliertesten deutschen Nahostexperten. Der promovierte Islamwissenschaftler war viele Jahre Redakteur bei der Zeit und ist heute freier Publizist und Politikberater. Lüders, geboren 1959 in Bremen, hat zahlreiche Bücher über den Nahen Osten verfasst, zuletzt „Armageddon im Orient“ (C. H. Beck, München 2018)

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Erinnert sich jemand? Am 7. April 2018 erhoben die Mitglieder der syrischen Zivilschutzorganisation „Weißhelme“ den Vorwurf, in der Region Ost-Ghouta, in der letzten von „Rebellen“ gehaltenen Stadt Duma östlich von Damaskus, hätte ein Hubschrauber ein Fass mit Chemikalien abgeworfen. Das Timing war bemerkenswert: Zu diesem Zeitpunkt hatten Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad die Region fast vollständig zurückerobert. Warum also hätte das Regime gerade in dem Moment Giftgas einsetzen sollen, wohl wissend, welche Reaktionen es damit provozieren würde? Dessen ungeachtet drohte Washington, unterstützt von Paris und London, mit Vergeltungsmaßnahmen für diesen vermeintlichen Giftgasangriff. Die Lage drohte gefährlich zu eskalieren, als US-Präsident Donald Trump am 10. April leichtfertig twitterte: „Russland hat erklärt, alle Marschflugkörper abzuschießen, die auf Syrien abgefeuert werden. Mach dich bereit, Russland, denn die werden kommen, schön und neu und ‚smart’! Ihr solltet nicht die Partner sein von einem mit Gas mordenden Tier, das seine Leute umbringt und das genießt!“

Wenige Tage später bombardierten die USA, Frankreich und Großbritannien tatsächlich drei Ziele in Syrien, ohne jedoch größere Schäden anzurichten und vermutlich in Absprache mit Moskau. Der Angriff fand wohl vor allem deswegen statt, damit Trump sein Gesicht nicht verliert. Denn hinter den Kulissen hatte es zwischenzeitlich offenbar hektische diplomatische Aktivitäten gegeben, auch von Seiten des Pentagons. Im Gegensatz zum Präsidenten war den Militärs sicherlich bewusst, dass die Russen tatsächlich zum Gegenschlag ausholen könnten. Daraus hätte dann schlimmstenfalls der Dritte Weltkrieg erwachsen können. Für einen kurzen Moment erlebte die Welt ein Krisenszenario wie seit der Kubakrise 1962 nicht mehr.

Der Krieg in Syrien ist ein Stellvertreterkrieg

Diese Episode unterstreicht, dass der Krieg in Syrien sehr gefährlich und noch lange nicht vorbei ist. Auch deswegen nicht, weil die maßgeblichen Akteure im Westen ihre Niederlage im dortigen Stellvertreterkrieg gegen Moskau, Teheran und auch Peking nach wie vor nicht eingestehen mögen. Die sehen in Assad ihren Interessensvertreter. Denn um nichts anderes geht es in Syrien: um einen geopolitisch begründeten Kampf um Macht und Einfluss, auf dem Rücken der Syrer. Dieser Zusammenhang wird in den hiesigen „Leitmedien“ selten benannt – für sie ist der Krieg in Syrien in erster Linie vom skrupellosen Assad-Regime und seinen russischen Verbündeten plus Iran zu verantworten. Die suchten gemeinsam den verzweifelten Schrei der Bevölkerung nach Freiheit zu ersticken. Der Westen, grundsätzlich werteorientiert, sei moralisch verpflichtet, diesen Freiheitskampf zu unterstützen und einen Regimewechsel herbeizuführen – zugunsten der „Zivilgesellschaft“.

Indem vor allem die USA, aber auch Teile der EU, insbesondere Paris und London, die „Opposition“ bewaffnen und/oder finanzieren, gemeinsam mit den arabischen Golfstaaten und der Türkei. Dass diese „Oppositionellen“ in erster Linie aus Dschihadisten bestehen und die vielbeschworene „Zivilgesellschaft“, das ewige Mantra gerade „liberaler Interventionisten“, in Syrien längst keine politische Rolle mehr spielt, ist dabei ohne Bedeutung. In Deutschland huldigen vor allem die Grünen besagtem Mantra. Nur am Rande sei erwähnt, dass insbesondere die religiösen Minderheiten nach wie vor mehrheitlich hinter Assad stehen oder ihn zumindest dulden. Nicht aus Liebe zu dem Diktator, sondern aus Sorge vor dem, was ihm folgen könnte: die Herrschaft islamistischer Fanatiker. Manchmal ist die Pest der Cholera vorzuziehen.

„Gute“ Amerikaner gegen „böse“ Russen

Am vergangenen Montag haben sich Russland und die Türkei auf die Einrichtung einer von Moskau und Ankara überwachten „Sicherheitszone“ in Idlib verständigt. Dort sollen keine bewaffneten Kämpfer geduldet werden. Damit ist der befürchtete Großangriff auf die Region erst einmal abgewendet. Ungeklärt bleibt die Frage, was mit den mehr als 10.000 Dschihadisten aus dem Umfeld Al-Qaidas geschehen soll. Sie haben keinerlei Anlass, ihre Waffen abzulegen. Die Trumpfkarte „Giftgas!“ bleibt ihnen. Und warum sollten sie annehmen, dass ihre Finanziers und Waffenlieferanten sie fallen lassen werden?  Gleichzeitig unterstreicht der Deal zwischen Moskau und Ankara, dass der Weg zu einer politischen Lösung in Syrien derzeit nicht über Washington führt, erst recht nicht über Brüssel oder Berlin. 
Mit der Rückeroberung Idlibs hätte der Westen seinen Stellvertreterkrieg in Syrien erst einmal verloren. Er heizt ihn allerdings auf anderer Ebene erneut an, sichtbar in der immer härteren Konfrontation zwischen Israel und dem Iran auf syrischem Boden. Also gilt es, den Preis für die Rückeroberung so hoch wie möglich anzusetzen und sich eine Hintertür für weitere militärische Optionen offenzuhalten.

Ein Verdacht könnte einen Weltkrieg auslösen

Entsprechend erklärte John Bolton, Sicherheitsberater des US-Präsidenten und ein Scharfmacher wie auch Außenminister Mike Pompeo, am 22. August: Sollten bei den Kämpfen in Idlib Chemiewaffen eingesetzt werden, würden die USA „entschlossen reagieren.“ An dieser Haltung dürfte auch die jüngste Vereinbarung zwischen Putin und Erdogan nichts ändern, die sich in der Praxis erst noch bewähren muss. 

Noch einmal zur Erinnerung: Im Falle Ost-Ghoutas reichte die bloße Behauptung der „Weißhelme“, die hierzulande als humanitäre Helfer verehrt werden (ihre große Nähe zu Dschihadisten fällt dabei unter den Tisch), um schlimmstenfalls  den Dritten Weltkrieg auszulösen. Wohlgemerkt, der Verdacht genügte: bis heute ist nicht geklärt, wer für den mutmaßlichen Giftgaseinsatz in Ost-Ghouta verantwortlich ist. Ein abschließender Bericht der UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen OPCW über die dortigen Vorgänge liegt bislang nicht vor – der 26seitige Zwischenbericht vom Juli ist sehr zurückhaltend in seiner Beurteilung. Man muss kein Fantast sein, um sich vorstellen zu können, dass dieses Schema auch in Idlib funktioniert: Behauptung, Reaktion, Eskalation.

Bundeswehr-Einsatz wäre ein Brandbeschleuniger

Geschichte (wohl auch Zeitgeschichte) wiederholt sich bekanntlich nicht als Tragödie, sondern als Farce. Offenbar gilt das auch in der Politik. Vertreter von CDU/CSU, FDP und der Grünen sind der Auffassung, im Falle eines Chemiewaffeneinsatzes in Idlib sollte sich auch die Bundeswehr an militärischer Vergeltung beteiligen. Zwar hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestages unmissverständlich klargestellt, dass ein solcher Einsatz grundgesetzwidrig wäre – doch was interessieren Fakten, wo Meinung gefragt ist. Das gilt umso mehr, als Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstrebt und somit geradezu verpflichtet ist, den Schulterschluss mit Washington, London und Paris zu suchen. 

Idlib ist deswegen so gefährlich, weil dort erneut Washington und Moskau militärisch aufeinanderstoßen könnten. Im Windschatten lauert Israel, das mittlerweile fast täglich Ziele in Syrien angreift. Ein gefährlicher Einsatz, dem Russland und der Iran nicht auf Dauer tatenlos zusehen werden. Vor diesem Hintergrund nach einem Bundeswehr-Einsatz zu verlangen, zeugt, gelinde gesagt, von der Lust an Brandbeschleunigung. Und nicht zuletzt von umfassender Ignoranz gegenüber den Verhältnissen vor Ort. Dazu unterstreicht das Vorhaben die gefährliche Naivität von Politikern, besonders denen der Grünen. Zutiefst davon überzeugt, Vertreter einer überlegenen Moral zu sein, propagiert die Partei einen naiven Menschenrechtsdiskurs, der geopolitische Scharaden nicht ansatzweise zu erkennen vermag. In Berlin fehlt es nicht an transatlantischen Opportunisten und selbsterklärten „Gutmenschen.“ Es bräuchte aber, gerade in diesen Zeiten, Staatsmänner und  -frauen vom Schlage eines Helmut Schmidt. Das Personal im Bundestag ist jedoch viel zu sehr mit sich selbst befasst, auf kleinteilige Innenpolitik fokussiert, um die drohende Gefechtslage im Nahen und Mittleren Osten zu erkennen, geschweige denn nüchtern einzuordnen.

Zuletzt ist von Michael Lüders erschienen: „Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt“, Beck-Verlag 2018 

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