Grossbritanniens Zukunft - Brexit für Fortgeschrittene

Der EU-Austritt Großbritanniens rückt immer näher und im Königreich will ihn offenbar auch kein Politiker aufhalten, vor allem nicht Premierministerin Theresa May. Doch der Drift weg vom europäischen Kontinent bedeutet für die Insel Mühsal, Schweiß und Tränen

Theresa May bleibt beim Brexit hart / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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In 10 Downing Street, dem Sitz der Premierministerin, hängen im Treppenhaus die Porträts der bisherigen britischen Regierungschefs. Nur einer fehlt: David Cameron. „Hat wohl noch keiner Zeit gehabt, einen Platz für ihn zu finden”, murmelt eine Mitarbeiterin. Der Tory-Premier war am Tag nach dem EU-Referendum am 24. Juni 2016 zurückgetreten. Er hatte sich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, das Volk aber hatte mit 52 Prozent dagegen gestimmt. Sein Platz an der Fotowand ist vielleicht noch nicht geklärt, jener in den Geschichtsbüchern dagegen schon. Cameron hat sein Land aus der EU geführt – und zwar gegen besseres Wissen. Er schätzte die Sprengkraft der europakritischen Befindlichkeit der Bevölkerung in den ärmeren Teilen Englands außerhalb der glitzernden, finanzkräftigen Metropole London völlig falsch ein.

Seinen Posten hat Theresa May übernommen. Die ehemalige Innenministerin muss nun den EU-Austritt, den sie anfangs ebenfalls nicht befürwortete, umsetzen. In Folge wird sich das Vereinigte Königreich in den kommenden Jahren mit Brexit-Verhandlungen lähmen. „Wir können nicht im Europäischen Binnenmarkt bleiben”, sagte May in ihrer großen Brexit-Rede. Sie glaubt, dass es ihren Landsleuten wichtiger ist, die EU-Immigration zu beschränken. Da die vier Freiheiten – Waren, Personen, Dienste und Kapital – in der EU nicht zu trennen sind, begibt sich Großbritannien wie einst im 19. Jahrhundert in eine „splendid isolation”. Ihre Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, ihr Land zu einem „globalen Britannien” aufbauen zu wollen, klang da wie eine fromme Hoffnung.

Britische Wirtschaft wird mit Brexit geschwächt

Plötzlich gerät es in Vergessenheit, dass selbst die Eiserne Lady Margaret Thatcher die Entwicklung des Europäischen Binnenmarktes, dieses riesigen zollfreien Handelsparadieses, befürwortet hat. Große Banken – britische wie internationale – haben diese Woche bereits angekündigt, dass sie hunderte Arbeitsplätze in die EU verschieben werden. Der Finanzplatz City of London, bisher der Goldesel Großbritanniens, wird geschwächt.

Theresa May scheint derzeit keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass das Vereinigte Königreich heute weniger unter Problemen leidet, an denen die EU schuld ist, als unter den eigenen nationalen Herausforderungen. Die verstaubte britische Bürokratie müsste dringend reformiert werden. Großbritannien bräuchte zum Beispiel eine allgemeine Meldepflicht, so könnte der Aufenthalt von EU-Bürgern und ihr Zugang zum Gesundheitssystem besser verwaltet werden. Bis heute weiß niemand genau, wie viele EU-Bürger permanent im Land leben.

EU-Osterweiterung von 2004 hatte massive Folgen  

Großbritannien hat bei der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 auch nicht wie Deutschland eine Übergangsregelung in Anspruch genommen, mit der die Arbeitnehmerfreizügigkeit einige Jahre suspendiert werden konnte. Der damalige Labour-Premierminister Tony Blair, selbst Pro-Europäer, unterschätzte als Insulaner die Wucht der innereuropäischen Migration. Eine Million Polen kamen gleich zu Beginn nach Großbritannien. Obwohl sie – wie die EU-Einwanderer insgesamt – für die britische Wirtschaft finanziell gesehen ein Gewinn sind, fühlen sich viele Briten bis heute überrannt. In Boston, einer Kleinstadt in Nordengland, stammt jeder Zehnte aus Osteuropa. 75 Prozent der Bostoner haben dort für Brexit gestimmt.

Theresa May will ihr Land deshalb aus der EU, aus dem Binnenmarkt und aus der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes führen. Was bietet sie als Ersatz an? Ein Freihandelsabkommen mit möglichst niedrigen Handelsbarrieren. May drohte den EU-Partnern in ihrer Brexit-Rede darüber hinaus, dass sie ihr Land zu einem Steuerparadies ausbauen wird, sollte ihr ein gutes Abkommen verwehrt werden. „Diese Drohung umzusetzen”, sagt Keir Starmer, Brexit-Beauftragter der Labour-Partei, „wäre nationale Selbstverletzung”.

Doch die Labour-Führung kritisiert die konservative Regierung nur in Details, nicht in der grundsätzlichen Richtung. Da ihre eigenen Wähler im Referendum den Austritt der EU befürwortet haben, fällt selbst die an sich pro-europäische Labour-Opposition im Parlament der konservativen Premierministerin nicht in den Arm. „Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?”, fragt ein Labour-Politiker, der selbst für den Verbleib in der EU gekämpft hat: „Ich kann doch den Willen des Volkes nicht einfach ignorieren! Wir müssen jetzt gemeinsam mit der Regierung für den besten Brexit-Deal kämpfen.”

Was, wenn das Volk seinen Willen ändert?

Die Briten halten selten Referenden ab und haben daher einen ungeheuren Respekt vor deren Ergebnissen. Dass sich in zwei Jahren der EU-Verhandlungen viel – und vor allem der Wille des Volkes – ändern könnte, daran wagt kaum jemand zu denken. Als stünde die sonst viel gerühmte englische Demokratie auf dem Spiel.

Noch haben Theresa May und ihre Brexitiere deshalb Oberwasser. Das britische Pfund hat zwar seit dem EU-Austrittsvotum gelitten, die Wirtschaft ist allerdings nicht zusammengebrochen. Demnächst aber wird es ernst: Ende März will die Regierung den Artikel 50 des EU-Vertrags auslösen. Damit beginnt die zweijährige Frist für den EU-Austritt. Eine Trennung nach über vierzig Jahren Mitgliedschaft wird kaum so schnell auszuhandeln sein. Noch viel schwieriger wird es, danach die zukünftigen wirtschaftlichen, politischen und juristischen Beziehungen zu definieren.

Wie zur Vorbereitung dieser Scheidung hat die britische Notenbank gerade eine Fünf-Pfund-Note aus Polymer-Plastik herausgebracht. Plastik hält länger und ist hygienischer. Winston Churchill ziert den neuen Fünfer mit einer Aussage aus dem Jahre 1940: „Ich habe euch nichts anzubieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.” Krieg herrscht in Europa derzeit nicht. Nachhaltige Durchhalteparolen sind allerdings angebracht. Blut wird der Brexit nicht kosten – Mühsal, Tränen und Schweiß aber schon.

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